Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Politik und Finanzen in Rußland

Volkswirtschaft leidet, gedeihen können, wird noch sonderbarer, wenn er gegen¬
über finanziellen Erfolgen ausgesprochen wird, die alles jemals bei uns und
anderswo erreichte hinter sich lassen und so augenscheinliche Merkmale von
Regelmäßigkeit und Dollständiger Dauerhaftigkeit aufweisen. . . . Die Finanz¬
kunst ist keine Magie. . . . Dauerhafte finanzielle Erfolge können nur bei Vor¬
handensein von Bedingungen, die auch dem Volkswohlstande günstig sind, er¬
scheinen." Diesen triumphierenden Versicherungen des Ministers gegenüber
wies Jssajew ans einige Thatsachen hin, die, wie er meint, "das russische Leben
in einem andern Lichte erscheinen lassen, Thatsachen, welche die große, oft jammer¬
volle Armut des Volkes beweisen." Und Herr Witte hat denn auch den Ton
etwas herabgestimmt, indem er zwei Jahre später seinem Herrn versicherte,
daß, wenn er wiederholt das rapide Steigen der Staatseinnahmen als Kenn¬
zeichen und als unmittelbare Folge der allgemeinen Verbesserung der wirt¬
schaftlichen Lage dargestellt habe, diese Lage namentlich durch den Einfluß guter
Ernten auf die Steuerkraft des Volkes bewirkt worden sei.*) Nun liegen heute
zwei ungenügende Ernten Rußlands hinter uns, und wir müssen daraus
schließen, daß es Herrn Witte schwer werden dürfte, noch ferner, wie er un¬
längst gethan hat, auf ein Erstarken nicht bloß der russischen Finanzkraft,
sondern auch der Landwirtschaft zu pochen. Aber wir wollen vorläufig von
der Landwirtschaft absehen und uns einigen von Jssajew und andern russischen
Fachleuten veröffentlichten Zahlen zuwenden.

Das Bestreben Rußlands, sich von der etwa seit Mitte dieses Jahr¬
hunderts gewaltig um sich greifenden europäischen Großindustrie nicht über den
Haufen rennen zu lassen, führte zu einem immer strengern Schutzzoll, der, bis
zum Jahre 1892 stetig wachsend, der russischen Industrie den Boden freihielt,
auf dem sie sich entwickeln konnte. Der Erfolg war günstig, denn der Wert
der russischen industriellen Produktion, der im Jahre 1880 schon 1214 Mil¬
lionen Rubel betrug, hob sich bis 1890 auf 1656 Millionen Rubel,**) sodaß
man die russische Industrie nunmehr für sicher genug gegründet halten konnte,
daß man mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag im Jahre 1892 der fremden
Konkurrenz freieres Spiel gewähren durfte, umso mehr, als einmal die russische
Industrie selbst in vieler Hinsicht doch der Unterstützung durch die feinere
Technik Europas bedürfte, andrerseits sich auch das westliche Kapital so bereit¬
willig herandrängte, daß man keine Stockung in dem lebhaften Wachstum der
industriellen Anstalten zu fürchten brauchte. Man hat sich denn auch hierin
nicht verrechnet, denn in den fünf Jahren seit dem liberalem Handelsverträge
mit Deutschland hat sich trotz der sehr bedeutenden Steigerung der industriellen
Einfuhr, besonders aus Deutschland, die Produktion der russischen Industrie




') Rechenschaftsbericht zum Rcichsbudgct für 1898.
Jssajew,
Politik und Finanzen in Rußland

Volkswirtschaft leidet, gedeihen können, wird noch sonderbarer, wenn er gegen¬
über finanziellen Erfolgen ausgesprochen wird, die alles jemals bei uns und
anderswo erreichte hinter sich lassen und so augenscheinliche Merkmale von
Regelmäßigkeit und Dollständiger Dauerhaftigkeit aufweisen. . . . Die Finanz¬
kunst ist keine Magie. . . . Dauerhafte finanzielle Erfolge können nur bei Vor¬
handensein von Bedingungen, die auch dem Volkswohlstande günstig sind, er¬
scheinen." Diesen triumphierenden Versicherungen des Ministers gegenüber
wies Jssajew ans einige Thatsachen hin, die, wie er meint, „das russische Leben
in einem andern Lichte erscheinen lassen, Thatsachen, welche die große, oft jammer¬
volle Armut des Volkes beweisen." Und Herr Witte hat denn auch den Ton
etwas herabgestimmt, indem er zwei Jahre später seinem Herrn versicherte,
daß, wenn er wiederholt das rapide Steigen der Staatseinnahmen als Kenn¬
zeichen und als unmittelbare Folge der allgemeinen Verbesserung der wirt¬
schaftlichen Lage dargestellt habe, diese Lage namentlich durch den Einfluß guter
Ernten auf die Steuerkraft des Volkes bewirkt worden sei.*) Nun liegen heute
zwei ungenügende Ernten Rußlands hinter uns, und wir müssen daraus
schließen, daß es Herrn Witte schwer werden dürfte, noch ferner, wie er un¬
längst gethan hat, auf ein Erstarken nicht bloß der russischen Finanzkraft,
sondern auch der Landwirtschaft zu pochen. Aber wir wollen vorläufig von
der Landwirtschaft absehen und uns einigen von Jssajew und andern russischen
Fachleuten veröffentlichten Zahlen zuwenden.

Das Bestreben Rußlands, sich von der etwa seit Mitte dieses Jahr¬
hunderts gewaltig um sich greifenden europäischen Großindustrie nicht über den
Haufen rennen zu lassen, führte zu einem immer strengern Schutzzoll, der, bis
zum Jahre 1892 stetig wachsend, der russischen Industrie den Boden freihielt,
auf dem sie sich entwickeln konnte. Der Erfolg war günstig, denn der Wert
der russischen industriellen Produktion, der im Jahre 1880 schon 1214 Mil¬
lionen Rubel betrug, hob sich bis 1890 auf 1656 Millionen Rubel,**) sodaß
man die russische Industrie nunmehr für sicher genug gegründet halten konnte,
daß man mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag im Jahre 1892 der fremden
Konkurrenz freieres Spiel gewähren durfte, umso mehr, als einmal die russische
Industrie selbst in vieler Hinsicht doch der Unterstützung durch die feinere
Technik Europas bedürfte, andrerseits sich auch das westliche Kapital so bereit¬
willig herandrängte, daß man keine Stockung in dem lebhaften Wachstum der
industriellen Anstalten zu fürchten brauchte. Man hat sich denn auch hierin
nicht verrechnet, denn in den fünf Jahren seit dem liberalem Handelsverträge
mit Deutschland hat sich trotz der sehr bedeutenden Steigerung der industriellen
Einfuhr, besonders aus Deutschland, die Produktion der russischen Industrie




') Rechenschaftsbericht zum Rcichsbudgct für 1898.
Jssajew,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229769"/>
          <fw type="header" place="top"> Politik und Finanzen in Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_311" prev="#ID_310"> Volkswirtschaft leidet, gedeihen können, wird noch sonderbarer, wenn er gegen¬<lb/>
über finanziellen Erfolgen ausgesprochen wird, die alles jemals bei uns und<lb/>
anderswo erreichte hinter sich lassen und so augenscheinliche Merkmale von<lb/>
Regelmäßigkeit und Dollständiger Dauerhaftigkeit aufweisen. . . . Die Finanz¬<lb/>
kunst ist keine Magie. . . . Dauerhafte finanzielle Erfolge können nur bei Vor¬<lb/>
handensein von Bedingungen, die auch dem Volkswohlstande günstig sind, er¬<lb/>
scheinen." Diesen triumphierenden Versicherungen des Ministers gegenüber<lb/>
wies Jssajew ans einige Thatsachen hin, die, wie er meint, &#x201E;das russische Leben<lb/>
in einem andern Lichte erscheinen lassen, Thatsachen, welche die große, oft jammer¬<lb/>
volle Armut des Volkes beweisen." Und Herr Witte hat denn auch den Ton<lb/>
etwas herabgestimmt, indem er zwei Jahre später seinem Herrn versicherte,<lb/>
daß, wenn er wiederholt das rapide Steigen der Staatseinnahmen als Kenn¬<lb/>
zeichen und als unmittelbare Folge der allgemeinen Verbesserung der wirt¬<lb/>
schaftlichen Lage dargestellt habe, diese Lage namentlich durch den Einfluß guter<lb/>
Ernten auf die Steuerkraft des Volkes bewirkt worden sei.*) Nun liegen heute<lb/>
zwei ungenügende Ernten Rußlands hinter uns, und wir müssen daraus<lb/>
schließen, daß es Herrn Witte schwer werden dürfte, noch ferner, wie er un¬<lb/>
längst gethan hat, auf ein Erstarken nicht bloß der russischen Finanzkraft,<lb/>
sondern auch der Landwirtschaft zu pochen. Aber wir wollen vorläufig von<lb/>
der Landwirtschaft absehen und uns einigen von Jssajew und andern russischen<lb/>
Fachleuten veröffentlichten Zahlen zuwenden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_312" next="#ID_313"> Das Bestreben Rußlands, sich von der etwa seit Mitte dieses Jahr¬<lb/>
hunderts gewaltig um sich greifenden europäischen Großindustrie nicht über den<lb/>
Haufen rennen zu lassen, führte zu einem immer strengern Schutzzoll, der, bis<lb/>
zum Jahre 1892 stetig wachsend, der russischen Industrie den Boden freihielt,<lb/>
auf dem sie sich entwickeln konnte. Der Erfolg war günstig, denn der Wert<lb/>
der russischen industriellen Produktion, der im Jahre 1880 schon 1214 Mil¬<lb/>
lionen Rubel betrug, hob sich bis 1890 auf 1656 Millionen Rubel,**) sodaß<lb/>
man die russische Industrie nunmehr für sicher genug gegründet halten konnte,<lb/>
daß man mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag im Jahre 1892 der fremden<lb/>
Konkurrenz freieres Spiel gewähren durfte, umso mehr, als einmal die russische<lb/>
Industrie selbst in vieler Hinsicht doch der Unterstützung durch die feinere<lb/>
Technik Europas bedürfte, andrerseits sich auch das westliche Kapital so bereit¬<lb/>
willig herandrängte, daß man keine Stockung in dem lebhaften Wachstum der<lb/>
industriellen Anstalten zu fürchten brauchte. Man hat sich denn auch hierin<lb/>
nicht verrechnet, denn in den fünf Jahren seit dem liberalem Handelsverträge<lb/>
mit Deutschland hat sich trotz der sehr bedeutenden Steigerung der industriellen<lb/>
Einfuhr, besonders aus Deutschland, die Produktion der russischen Industrie</p><lb/>
          <note xml:id="FID_19" place="foot"> ') Rechenschaftsbericht zum Rcichsbudgct für 1898.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_20" place="foot"> Jssajew,</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] Politik und Finanzen in Rußland Volkswirtschaft leidet, gedeihen können, wird noch sonderbarer, wenn er gegen¬ über finanziellen Erfolgen ausgesprochen wird, die alles jemals bei uns und anderswo erreichte hinter sich lassen und so augenscheinliche Merkmale von Regelmäßigkeit und Dollständiger Dauerhaftigkeit aufweisen. . . . Die Finanz¬ kunst ist keine Magie. . . . Dauerhafte finanzielle Erfolge können nur bei Vor¬ handensein von Bedingungen, die auch dem Volkswohlstande günstig sind, er¬ scheinen." Diesen triumphierenden Versicherungen des Ministers gegenüber wies Jssajew ans einige Thatsachen hin, die, wie er meint, „das russische Leben in einem andern Lichte erscheinen lassen, Thatsachen, welche die große, oft jammer¬ volle Armut des Volkes beweisen." Und Herr Witte hat denn auch den Ton etwas herabgestimmt, indem er zwei Jahre später seinem Herrn versicherte, daß, wenn er wiederholt das rapide Steigen der Staatseinnahmen als Kenn¬ zeichen und als unmittelbare Folge der allgemeinen Verbesserung der wirt¬ schaftlichen Lage dargestellt habe, diese Lage namentlich durch den Einfluß guter Ernten auf die Steuerkraft des Volkes bewirkt worden sei.*) Nun liegen heute zwei ungenügende Ernten Rußlands hinter uns, und wir müssen daraus schließen, daß es Herrn Witte schwer werden dürfte, noch ferner, wie er un¬ längst gethan hat, auf ein Erstarken nicht bloß der russischen Finanzkraft, sondern auch der Landwirtschaft zu pochen. Aber wir wollen vorläufig von der Landwirtschaft absehen und uns einigen von Jssajew und andern russischen Fachleuten veröffentlichten Zahlen zuwenden. Das Bestreben Rußlands, sich von der etwa seit Mitte dieses Jahr¬ hunderts gewaltig um sich greifenden europäischen Großindustrie nicht über den Haufen rennen zu lassen, führte zu einem immer strengern Schutzzoll, der, bis zum Jahre 1892 stetig wachsend, der russischen Industrie den Boden freihielt, auf dem sie sich entwickeln konnte. Der Erfolg war günstig, denn der Wert der russischen industriellen Produktion, der im Jahre 1880 schon 1214 Mil¬ lionen Rubel betrug, hob sich bis 1890 auf 1656 Millionen Rubel,**) sodaß man die russische Industrie nunmehr für sicher genug gegründet halten konnte, daß man mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag im Jahre 1892 der fremden Konkurrenz freieres Spiel gewähren durfte, umso mehr, als einmal die russische Industrie selbst in vieler Hinsicht doch der Unterstützung durch die feinere Technik Europas bedürfte, andrerseits sich auch das westliche Kapital so bereit¬ willig herandrängte, daß man keine Stockung in dem lebhaften Wachstum der industriellen Anstalten zu fürchten brauchte. Man hat sich denn auch hierin nicht verrechnet, denn in den fünf Jahren seit dem liberalem Handelsverträge mit Deutschland hat sich trotz der sehr bedeutenden Steigerung der industriellen Einfuhr, besonders aus Deutschland, die Produktion der russischen Industrie ') Rechenschaftsbericht zum Rcichsbudgct für 1898. Jssajew,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/83>, abgerufen am 23.07.2024.