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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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der über das Maß friedlicher Verteidigung deS eignen Volkstums hinausgeht,
zu der jeder national Fremde in einem Kulturstaat berechtigt ist. Soweit
eine solche Überschreitung stattfindet, soweit nicht bloß Verteidigung, sondern
ein Angriff im Werke ist, der den äußern Frieden gefährden könnte oder offen¬
bar gegen die Integrität des Staatsgebiets gerichtet ist, hat der Staat die
Pflicht, einzuschreiten. Aber es ist gleicherweise die Pflicht des Staats, sehr
sorgfältig die Grenze zwischen jener berechtigten Selbstverteidigung und dem
Gebrauch unzulässiger Mittel des Angriffs zu prüfen, ehe er in den nationalen
Kampf mit staatlicher Gewalt eingreift. Die Grenze zu finden und die rechten
staatlichen Mittel zu ergreifen, beides ist schwer und erfordert großen politischen
und administrativen Takt, um Roheiten zu vermeiden.

Handelte es sich bloß darum, zu wissen, wie eine nationale Minderheit
staatlich zu vernichten oder doch zu vergewaltigen sei, so fänden sich dazu
Muster genug und ganz in unsrer Nähe. Aber wir wollen ein Kulturstnat
sein und nnr Mittel anwenden, die unser würdig sind. Jeder staatliche Druck
auf eine nationale Minderheit weckt den Widerstand und die Leidenschaft; wo
der nationale Kampf ohne staatliche Einmischung geführt wird, da ist es
möglich, die Gewaltsamkeit fern und die Leidenschaft in Grenzen zu halten.
In der Schweiz leben Bruchteile dreier großer Nationen neben einander; sie
kämpfen fortwährend unter einander, die eine rückt vor, die andre muß zurück.
Das gewerbliche Leben ist die Hauptwaffe, mit der hier Boden gewonnen, dort
verloren wird; wo eine Nation in die Minderheit gerät, verliert sie die Leitung
in der Kommune, aber sie läuft nicht Gefahr, von der siegenden Mehrheit
durch kommunale oder kantonale Gewaltmittel bedrängt zu werden; sie kann
dnrch Zuzug ihrer Volksgenossen, den niemand hindert, das Verlorne zurück¬
gewinnen, die Zweisprachigkeit in den nationalen Grenzgebieten glättet den
Verkehr, jede Minderheit hat ihre Schulen, behält das Recht ihrer Sprache
vor Gericht und Verwaltung; nirgends nationaler Haß, nirgends das Be¬
dürfnis, das Ringen um die nationale Herrschaft in den Vordergrund zu
stellen, die Leidenschaft zu entfachen. Die welsche Schweiz sympathisiert mit
den Franzosen, aber obwohl ihre Bevölkerung weitaus in der Minderheit ist,
hält sie treu zum Staat, denn sie lebt in ihm vollkommen frei in ihrer
nationalen Art.

In allen nationalen Grenzgebieten ist Zweisprachigkeit der natürliche Zu¬
stand, dem man immer Rechnung tragen sollte. Wenn man einer nationalen
Minderheit ihre Schulen nimmt, wenn man ihr verbietet, in eignen Schulen
ihre nationale Erziehung und Kultur zu pflegen, so ist das ein staatlicher
Eingriff, der zu berechtigtem Widerstande herausfordert. Berechtigt besonders
bei einer Minderheit, deren nationale Kultur gleich hoch steht, wie die der
Mehrheit. Wenn wir in Ostafrika Neger verdeutschen, so thun wir ihnen wohl;
wenn wir uns staatlich weigern, den Litauern litauische Schulen herzurichten,


der über das Maß friedlicher Verteidigung deS eignen Volkstums hinausgeht,
zu der jeder national Fremde in einem Kulturstaat berechtigt ist. Soweit
eine solche Überschreitung stattfindet, soweit nicht bloß Verteidigung, sondern
ein Angriff im Werke ist, der den äußern Frieden gefährden könnte oder offen¬
bar gegen die Integrität des Staatsgebiets gerichtet ist, hat der Staat die
Pflicht, einzuschreiten. Aber es ist gleicherweise die Pflicht des Staats, sehr
sorgfältig die Grenze zwischen jener berechtigten Selbstverteidigung und dem
Gebrauch unzulässiger Mittel des Angriffs zu prüfen, ehe er in den nationalen
Kampf mit staatlicher Gewalt eingreift. Die Grenze zu finden und die rechten
staatlichen Mittel zu ergreifen, beides ist schwer und erfordert großen politischen
und administrativen Takt, um Roheiten zu vermeiden.

Handelte es sich bloß darum, zu wissen, wie eine nationale Minderheit
staatlich zu vernichten oder doch zu vergewaltigen sei, so fänden sich dazu
Muster genug und ganz in unsrer Nähe. Aber wir wollen ein Kulturstnat
sein und nnr Mittel anwenden, die unser würdig sind. Jeder staatliche Druck
auf eine nationale Minderheit weckt den Widerstand und die Leidenschaft; wo
der nationale Kampf ohne staatliche Einmischung geführt wird, da ist es
möglich, die Gewaltsamkeit fern und die Leidenschaft in Grenzen zu halten.
In der Schweiz leben Bruchteile dreier großer Nationen neben einander; sie
kämpfen fortwährend unter einander, die eine rückt vor, die andre muß zurück.
Das gewerbliche Leben ist die Hauptwaffe, mit der hier Boden gewonnen, dort
verloren wird; wo eine Nation in die Minderheit gerät, verliert sie die Leitung
in der Kommune, aber sie läuft nicht Gefahr, von der siegenden Mehrheit
durch kommunale oder kantonale Gewaltmittel bedrängt zu werden; sie kann
dnrch Zuzug ihrer Volksgenossen, den niemand hindert, das Verlorne zurück¬
gewinnen, die Zweisprachigkeit in den nationalen Grenzgebieten glättet den
Verkehr, jede Minderheit hat ihre Schulen, behält das Recht ihrer Sprache
vor Gericht und Verwaltung; nirgends nationaler Haß, nirgends das Be¬
dürfnis, das Ringen um die nationale Herrschaft in den Vordergrund zu
stellen, die Leidenschaft zu entfachen. Die welsche Schweiz sympathisiert mit
den Franzosen, aber obwohl ihre Bevölkerung weitaus in der Minderheit ist,
hält sie treu zum Staat, denn sie lebt in ihm vollkommen frei in ihrer
nationalen Art.

In allen nationalen Grenzgebieten ist Zweisprachigkeit der natürliche Zu¬
stand, dem man immer Rechnung tragen sollte. Wenn man einer nationalen
Minderheit ihre Schulen nimmt, wenn man ihr verbietet, in eignen Schulen
ihre nationale Erziehung und Kultur zu pflegen, so ist das ein staatlicher
Eingriff, der zu berechtigtem Widerstande herausfordert. Berechtigt besonders
bei einer Minderheit, deren nationale Kultur gleich hoch steht, wie die der
Mehrheit. Wenn wir in Ostafrika Neger verdeutschen, so thun wir ihnen wohl;
wenn wir uns staatlich weigern, den Litauern litauische Schulen herzurichten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/701>, abgerufen am 23.07.2024.