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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

selbst zu verdiene" glaubt? Wem? es aber richtig wäre, was ganz im Anfang zu
lesen steht: die großartigsten geistreichsten Kulturen, die die Welt gesehen, wären
die ursprünglichsten, und die Urkulturvölker der Chinesen, Inder, Ägypter hätten
die gesamte menschliche und menschenmögliche Lebensweisheit allen nachfolgenden
Völkern und ihren geistigen Heroen vorweggenommen, und wenn ferner alle
"plastische Kraft" immer mehr schwindet, also mit Sicherheit abnimmt, woher ge¬
winnt jemand dann den Mut, überhaupt noch Ratschläge zu machen?

Driesmans Abschnitt von der Wissenschaft zeigt eine große Belesenheit, und
man folgt ihm mit Teilnahme. Gute geschichtliche Betrachtungen über die Jugend
unsrer deutschen Kultur und über die nicht sehr weit zurückreichenden Etappen
unsrer Ausbildung (Friedrich Wilhelms I. militärisches System, das preußische
Unterrichtsministerium usw.) führen uns ans den heutigen Zustand unsrer Bil-
dungsanstalten. Der Verfasser gehört zu den vielen, die das Übermaß des Wissens
gegenüber dem natürlichen Gefühl drückt, er führt die Sache des freien Geistes
und des gesunden Willens gegen vorgeschriebne Kenntnisse und staatlich angeordnete
Laufbahnen. Sein Ideal ist der begabte Autodidakt, und als Vogelscheuche dient
ihm der mit Kenntnissen ausgestopfte Staatsdiener. Er wendet sich nun gegen
unsre Schulen und Universitäten, findet überall Fehler und Rückstand (zu einer
Vortragsweise, wie er sie für richtig hält, ist noch nirgends der Anfang gemacht
S. 114) und langt endlich bei Volkshochschulen an als künftigen Stätten einer
wahren Bildung, die über dem Wissen stehen. Sie werden alles leisten, was heute
vermißt wird, Schnluuq des Gefühls und Vermittlung eines erlebten, höhern
"künstlerischen" Wissens/ Der Verfasser ist ein starker Idealist. Hinsichtlich der
Medizin hält er es z. B. für eine zwar noch offne, aber von gebildeten Ärzten zu¬
gelassene Frage, ob nicht "die Kräftigung und Schulung des Gesundheitsgefühls,
des energischen Gesuudseiuwolleus, des Willens zur Gesundheit mehr wert sei als
alle medikamentale und selbst chirurgische Krankheitsbehandlnng." Uns scheinen Ärzte
von dieser Bildung und Volkshochschulen von jener Leistungsfähigkeit ungefähr das¬
selbe zu sein, was der Bvckhirsch in der Logik des Aristoteles sein sollte.

Der dritte Abschnitt, Leben benannt, ist eine so wüste Schweinerei, daß wir
nicht einmal die einzelnen Überschriften wiedergeben möchten. So etwas nieder¬
zuschreiben scheint nur im Stande der Selbstanalyse möglich, deren Erfindung das
Verdienst einer gewissen Pariser Litteratur ist. Es aber gedruckt wiederzusehen,
zu korrigieren und dennoch nicht zu zerreißen, sondern Hinausgehen zu lassen, setzt
außerdem Wohl auch eine Unverfrorenheit voraus, die ja zu den germanischen
Eigenschaften gehören soll. Oder aber: was sich französisch zur Not noch sagen
A. P> und hören läßt, wird uns im Deutschen einfach ekelhaft.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

selbst zu verdiene» glaubt? Wem? es aber richtig wäre, was ganz im Anfang zu
lesen steht: die großartigsten geistreichsten Kulturen, die die Welt gesehen, wären
die ursprünglichsten, und die Urkulturvölker der Chinesen, Inder, Ägypter hätten
die gesamte menschliche und menschenmögliche Lebensweisheit allen nachfolgenden
Völkern und ihren geistigen Heroen vorweggenommen, und wenn ferner alle
„plastische Kraft" immer mehr schwindet, also mit Sicherheit abnimmt, woher ge¬
winnt jemand dann den Mut, überhaupt noch Ratschläge zu machen?

Driesmans Abschnitt von der Wissenschaft zeigt eine große Belesenheit, und
man folgt ihm mit Teilnahme. Gute geschichtliche Betrachtungen über die Jugend
unsrer deutschen Kultur und über die nicht sehr weit zurückreichenden Etappen
unsrer Ausbildung (Friedrich Wilhelms I. militärisches System, das preußische
Unterrichtsministerium usw.) führen uns ans den heutigen Zustand unsrer Bil-
dungsanstalten. Der Verfasser gehört zu den vielen, die das Übermaß des Wissens
gegenüber dem natürlichen Gefühl drückt, er führt die Sache des freien Geistes
und des gesunden Willens gegen vorgeschriebne Kenntnisse und staatlich angeordnete
Laufbahnen. Sein Ideal ist der begabte Autodidakt, und als Vogelscheuche dient
ihm der mit Kenntnissen ausgestopfte Staatsdiener. Er wendet sich nun gegen
unsre Schulen und Universitäten, findet überall Fehler und Rückstand (zu einer
Vortragsweise, wie er sie für richtig hält, ist noch nirgends der Anfang gemacht
S. 114) und langt endlich bei Volkshochschulen an als künftigen Stätten einer
wahren Bildung, die über dem Wissen stehen. Sie werden alles leisten, was heute
vermißt wird, Schnluuq des Gefühls und Vermittlung eines erlebten, höhern
„künstlerischen" Wissens/ Der Verfasser ist ein starker Idealist. Hinsichtlich der
Medizin hält er es z. B. für eine zwar noch offne, aber von gebildeten Ärzten zu¬
gelassene Frage, ob nicht „die Kräftigung und Schulung des Gesundheitsgefühls,
des energischen Gesuudseiuwolleus, des Willens zur Gesundheit mehr wert sei als
alle medikamentale und selbst chirurgische Krankheitsbehandlnng." Uns scheinen Ärzte
von dieser Bildung und Volkshochschulen von jener Leistungsfähigkeit ungefähr das¬
selbe zu sein, was der Bvckhirsch in der Logik des Aristoteles sein sollte.

Der dritte Abschnitt, Leben benannt, ist eine so wüste Schweinerei, daß wir
nicht einmal die einzelnen Überschriften wiedergeben möchten. So etwas nieder¬
zuschreiben scheint nur im Stande der Selbstanalyse möglich, deren Erfindung das
Verdienst einer gewissen Pariser Litteratur ist. Es aber gedruckt wiederzusehen,
zu korrigieren und dennoch nicht zu zerreißen, sondern Hinausgehen zu lassen, setzt
außerdem Wohl auch eine Unverfrorenheit voraus, die ja zu den germanischen
Eigenschaften gehören soll. Oder aber: was sich französisch zur Not noch sagen
A. P> und hören läßt, wird uns im Deutschen einfach ekelhaft.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0688] Maßgebliches und Unmaßgebliches selbst zu verdiene» glaubt? Wem? es aber richtig wäre, was ganz im Anfang zu lesen steht: die großartigsten geistreichsten Kulturen, die die Welt gesehen, wären die ursprünglichsten, und die Urkulturvölker der Chinesen, Inder, Ägypter hätten die gesamte menschliche und menschenmögliche Lebensweisheit allen nachfolgenden Völkern und ihren geistigen Heroen vorweggenommen, und wenn ferner alle „plastische Kraft" immer mehr schwindet, also mit Sicherheit abnimmt, woher ge¬ winnt jemand dann den Mut, überhaupt noch Ratschläge zu machen? Driesmans Abschnitt von der Wissenschaft zeigt eine große Belesenheit, und man folgt ihm mit Teilnahme. Gute geschichtliche Betrachtungen über die Jugend unsrer deutschen Kultur und über die nicht sehr weit zurückreichenden Etappen unsrer Ausbildung (Friedrich Wilhelms I. militärisches System, das preußische Unterrichtsministerium usw.) führen uns ans den heutigen Zustand unsrer Bil- dungsanstalten. Der Verfasser gehört zu den vielen, die das Übermaß des Wissens gegenüber dem natürlichen Gefühl drückt, er führt die Sache des freien Geistes und des gesunden Willens gegen vorgeschriebne Kenntnisse und staatlich angeordnete Laufbahnen. Sein Ideal ist der begabte Autodidakt, und als Vogelscheuche dient ihm der mit Kenntnissen ausgestopfte Staatsdiener. Er wendet sich nun gegen unsre Schulen und Universitäten, findet überall Fehler und Rückstand (zu einer Vortragsweise, wie er sie für richtig hält, ist noch nirgends der Anfang gemacht S. 114) und langt endlich bei Volkshochschulen an als künftigen Stätten einer wahren Bildung, die über dem Wissen stehen. Sie werden alles leisten, was heute vermißt wird, Schnluuq des Gefühls und Vermittlung eines erlebten, höhern „künstlerischen" Wissens/ Der Verfasser ist ein starker Idealist. Hinsichtlich der Medizin hält er es z. B. für eine zwar noch offne, aber von gebildeten Ärzten zu¬ gelassene Frage, ob nicht „die Kräftigung und Schulung des Gesundheitsgefühls, des energischen Gesuudseiuwolleus, des Willens zur Gesundheit mehr wert sei als alle medikamentale und selbst chirurgische Krankheitsbehandlnng." Uns scheinen Ärzte von dieser Bildung und Volkshochschulen von jener Leistungsfähigkeit ungefähr das¬ selbe zu sein, was der Bvckhirsch in der Logik des Aristoteles sein sollte. Der dritte Abschnitt, Leben benannt, ist eine so wüste Schweinerei, daß wir nicht einmal die einzelnen Überschriften wiedergeben möchten. So etwas nieder¬ zuschreiben scheint nur im Stande der Selbstanalyse möglich, deren Erfindung das Verdienst einer gewissen Pariser Litteratur ist. Es aber gedruckt wiederzusehen, zu korrigieren und dennoch nicht zu zerreißen, sondern Hinausgehen zu lassen, setzt außerdem Wohl auch eine Unverfrorenheit voraus, die ja zu den germanischen Eigenschaften gehören soll. Oder aber: was sich französisch zur Not noch sagen A. P> und hören läßt, wird uns im Deutschen einfach ekelhaft. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/688>, abgerufen am 03.07.2024.