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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Potemkins Dörfer

beiden Namen in irgend eine Beziehung zu einander gesetzt hat, so werden
wir damit an die hervorstechende Thatsache erinnert, daß es die Scherersche
Schule in Wien und Berlin ist, die die Leibgarde Hciuptmauns im Theater,
in der Presse, in wissenschaftlichen und akademischen Kreisen wie in den Preis¬
gerichten darstellt. Ist doch auch gerade der eigentliche Mittelpunkt der heutigen
"Hauptmanubeweguug," der Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, aus
der unmittelbaren Schule Scherers hervorgegangen. Und in der That begegnen
wir immer demselben Kreise, im wesentlichen sogar denselben Personen. Die
ersten Bühnen von Berlin und Wien schlagen in Hauptmanns Namen ihre
Entscheidungsschlachten: ihre Leiter sind vertraute Schüler Scherers. Ein
gewisser Teil der Berliner Presse hat, begünstigt durch die materialistische
Zeitströmung. Hauptmann in Mode gebracht. Von wem ging innerhalb der
Presse diese Wirkung aus? Von denselben beiden Angehörigen der kleinen,
aber einflußreichen Schule! Wie keine poetische Richtung nach Gottscheds
Tagen genießt Hauptmanns Dichtweise den Schutz bestimmter wissenschaft¬
licher Kreise: der Nachfolger Schercrs, der dritte Freund im engern Berliner
"Schererkreis," hat vor allem der Schwärmerei für Hauptmann einen wissen¬
schaftlichen Anstrich gegeben. Ihm find wir auch schou in den Preisgerichten
sowohl in Berlin wie in Wien begegnet, hier sogar neben einem zweiten aus
dem Kleeblatt. Man könnte in gewissem Sinne an Potemkins Dörfer denken:
der Uneingeweihte glaubt immer neue Scharen huldigenden Volks zu sehen,
während es in Wirklichkeit an jeder Station dieselben Arrangeure, dieselben
Statisten sind.

Unter solchen Umständen wird es gerade für unabhängige Vertreter der
Litteraturwissenschaft doppelt Pflicht, unbeirrt von der Parteien Gunst und
Haß, zum Modenaturalismus Stellung zu nehmen. Ist doch auch von dieser
Seite am ehesten eine Klärung der trüben Tagcsmeinung zu erwarten. Auf
den andern in Betracht kommenden Gebieten hat das Faustrecht zu weiten
Boden gewonnen: im Theater thun es ein paar Dutzend jugendkräftige Fäuste
des jüngstdeutschen Gefolges mit ihrem Beifallstosen, auch in der Presse
werden die zurückhaltender Äußerungen der wenigen selbständigen Kritiker durch
das faustdick aufgetragne Lob übertönt. Allerorten werden durch dieses große
Lärmen der Gleichgiltige und der Unselbständige hypnotisiert und terrorisiert;
andrerseits stehn rücksichtslosen Vorkämpfern gar manche Mittel zu Gebote,
den unbequemen Gegner nach den Regeln des Faustrechts niederzuschmettern.
Nur die geschichtliche Wahrheit läßt sich weder überschreien noch aus der Welt
schaffen.

Da helfen nichts manche seit Jahr und Tag ausgestreuten, vorbereitenden
Notizen, nichts die überschwünglichen Berichte über den Eindruck der Vorlesung
im Freundeskreis, nichts die erstaunlichen Kraftleistungen der freiwilligen Partei-
kiaque, die mit ebenso viel Lungen- und Händekraft ihren Abgott -- unter
Zerstörung jeder innern, künstlerischen Wirkung -- hervordonnert, wie sie die


Potemkins Dörfer

beiden Namen in irgend eine Beziehung zu einander gesetzt hat, so werden
wir damit an die hervorstechende Thatsache erinnert, daß es die Scherersche
Schule in Wien und Berlin ist, die die Leibgarde Hciuptmauns im Theater,
in der Presse, in wissenschaftlichen und akademischen Kreisen wie in den Preis¬
gerichten darstellt. Ist doch auch gerade der eigentliche Mittelpunkt der heutigen
„Hauptmanubeweguug," der Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, aus
der unmittelbaren Schule Scherers hervorgegangen. Und in der That begegnen
wir immer demselben Kreise, im wesentlichen sogar denselben Personen. Die
ersten Bühnen von Berlin und Wien schlagen in Hauptmanns Namen ihre
Entscheidungsschlachten: ihre Leiter sind vertraute Schüler Scherers. Ein
gewisser Teil der Berliner Presse hat, begünstigt durch die materialistische
Zeitströmung. Hauptmann in Mode gebracht. Von wem ging innerhalb der
Presse diese Wirkung aus? Von denselben beiden Angehörigen der kleinen,
aber einflußreichen Schule! Wie keine poetische Richtung nach Gottscheds
Tagen genießt Hauptmanns Dichtweise den Schutz bestimmter wissenschaft¬
licher Kreise: der Nachfolger Schercrs, der dritte Freund im engern Berliner
„Schererkreis," hat vor allem der Schwärmerei für Hauptmann einen wissen¬
schaftlichen Anstrich gegeben. Ihm find wir auch schou in den Preisgerichten
sowohl in Berlin wie in Wien begegnet, hier sogar neben einem zweiten aus
dem Kleeblatt. Man könnte in gewissem Sinne an Potemkins Dörfer denken:
der Uneingeweihte glaubt immer neue Scharen huldigenden Volks zu sehen,
während es in Wirklichkeit an jeder Station dieselben Arrangeure, dieselben
Statisten sind.

Unter solchen Umständen wird es gerade für unabhängige Vertreter der
Litteraturwissenschaft doppelt Pflicht, unbeirrt von der Parteien Gunst und
Haß, zum Modenaturalismus Stellung zu nehmen. Ist doch auch von dieser
Seite am ehesten eine Klärung der trüben Tagcsmeinung zu erwarten. Auf
den andern in Betracht kommenden Gebieten hat das Faustrecht zu weiten
Boden gewonnen: im Theater thun es ein paar Dutzend jugendkräftige Fäuste
des jüngstdeutschen Gefolges mit ihrem Beifallstosen, auch in der Presse
werden die zurückhaltender Äußerungen der wenigen selbständigen Kritiker durch
das faustdick aufgetragne Lob übertönt. Allerorten werden durch dieses große
Lärmen der Gleichgiltige und der Unselbständige hypnotisiert und terrorisiert;
andrerseits stehn rücksichtslosen Vorkämpfern gar manche Mittel zu Gebote,
den unbequemen Gegner nach den Regeln des Faustrechts niederzuschmettern.
Nur die geschichtliche Wahrheit läßt sich weder überschreien noch aus der Welt
schaffen.

Da helfen nichts manche seit Jahr und Tag ausgestreuten, vorbereitenden
Notizen, nichts die überschwünglichen Berichte über den Eindruck der Vorlesung
im Freundeskreis, nichts die erstaunlichen Kraftleistungen der freiwilligen Partei-
kiaque, die mit ebenso viel Lungen- und Händekraft ihren Abgott — unter
Zerstörung jeder innern, künstlerischen Wirkung — hervordonnert, wie sie die


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[0548] Potemkins Dörfer beiden Namen in irgend eine Beziehung zu einander gesetzt hat, so werden wir damit an die hervorstechende Thatsache erinnert, daß es die Scherersche Schule in Wien und Berlin ist, die die Leibgarde Hciuptmauns im Theater, in der Presse, in wissenschaftlichen und akademischen Kreisen wie in den Preis¬ gerichten darstellt. Ist doch auch gerade der eigentliche Mittelpunkt der heutigen „Hauptmanubeweguug," der Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, aus der unmittelbaren Schule Scherers hervorgegangen. Und in der That begegnen wir immer demselben Kreise, im wesentlichen sogar denselben Personen. Die ersten Bühnen von Berlin und Wien schlagen in Hauptmanns Namen ihre Entscheidungsschlachten: ihre Leiter sind vertraute Schüler Scherers. Ein gewisser Teil der Berliner Presse hat, begünstigt durch die materialistische Zeitströmung. Hauptmann in Mode gebracht. Von wem ging innerhalb der Presse diese Wirkung aus? Von denselben beiden Angehörigen der kleinen, aber einflußreichen Schule! Wie keine poetische Richtung nach Gottscheds Tagen genießt Hauptmanns Dichtweise den Schutz bestimmter wissenschaft¬ licher Kreise: der Nachfolger Schercrs, der dritte Freund im engern Berliner „Schererkreis," hat vor allem der Schwärmerei für Hauptmann einen wissen¬ schaftlichen Anstrich gegeben. Ihm find wir auch schou in den Preisgerichten sowohl in Berlin wie in Wien begegnet, hier sogar neben einem zweiten aus dem Kleeblatt. Man könnte in gewissem Sinne an Potemkins Dörfer denken: der Uneingeweihte glaubt immer neue Scharen huldigenden Volks zu sehen, während es in Wirklichkeit an jeder Station dieselben Arrangeure, dieselben Statisten sind. Unter solchen Umständen wird es gerade für unabhängige Vertreter der Litteraturwissenschaft doppelt Pflicht, unbeirrt von der Parteien Gunst und Haß, zum Modenaturalismus Stellung zu nehmen. Ist doch auch von dieser Seite am ehesten eine Klärung der trüben Tagcsmeinung zu erwarten. Auf den andern in Betracht kommenden Gebieten hat das Faustrecht zu weiten Boden gewonnen: im Theater thun es ein paar Dutzend jugendkräftige Fäuste des jüngstdeutschen Gefolges mit ihrem Beifallstosen, auch in der Presse werden die zurückhaltender Äußerungen der wenigen selbständigen Kritiker durch das faustdick aufgetragne Lob übertönt. Allerorten werden durch dieses große Lärmen der Gleichgiltige und der Unselbständige hypnotisiert und terrorisiert; andrerseits stehn rücksichtslosen Vorkämpfern gar manche Mittel zu Gebote, den unbequemen Gegner nach den Regeln des Faustrechts niederzuschmettern. Nur die geschichtliche Wahrheit läßt sich weder überschreien noch aus der Welt schaffen. Da helfen nichts manche seit Jahr und Tag ausgestreuten, vorbereitenden Notizen, nichts die überschwünglichen Berichte über den Eindruck der Vorlesung im Freundeskreis, nichts die erstaunlichen Kraftleistungen der freiwilligen Partei- kiaque, die mit ebenso viel Lungen- und Händekraft ihren Abgott — unter Zerstörung jeder innern, künstlerischen Wirkung — hervordonnert, wie sie die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/548>, abgerufen am 03.07.2024.