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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

den entscheidenden Schritt zu thun, den Schwerpunkt des Daseins in die Inner¬
lichkeit zu verlegen" (S. 629 bis 630). Auf einen Pessimismus, der den
Willen für böse hält, läßt sich eben so wenig ein praktischer Optimismus
gründen, als ohne eine feste wirtschaftliche Grundlage inneres Leben zum Auf¬
blühn gebracht werden kann, was ja niemand kräftiger sagt, als Reinhold
selbst. Und wenn die Besitzenden den Schwerpunkt ihres Daseins in die
Innerlichkeit verlegen, daun werden sie nicht, wie Reinhold fordert, jeden
Versuch eines Angriffs auf ihren Besitz rücksichtslos unterdrücken, sondern von
ihrem Einkommen bereitwillig den Arbeitern soviel ablassen, als diese zum Auf¬
bau des innern Lebens brauchen. "Wir müssen es, damit man uns nicht des
Widerspruchs zeihe, immer wiederholen, daß die Wiedergeburt der Gesellschaft
wie die Erlösung des Menschen nie im Ökonomischen liegt, und daß sie haupt¬
sächlich, ja für die große Mehrheit der Sterblichen fast allein in der Religion
zu finden ist. Da die Menschheit, mit wenigen Ausnahmen starker Geister,
die volle Wahrheit nicht ertragen kann, so reicht man ihr mit Recht den
Schleier oder drückt, wie dem sterbenden katholischen Christen, in die sehnend
verlangende Hand das Krenz. Hier hat sie, was sie sucht": Trost. "Hier er¬
scheint zugleich das Gesetz und die Schranke der Freiheit: die Liebe." Die
Liebe aber, daran hat Herr Reinhold nicht gedacht, treibt dazu, den Leidenden
zu helfen, oder was dasselbe ist, die soziale Frage zu lösen, und die Sozial¬
demokraten werden ihm sehr dankbar sein für das Geständnis, daß die Religion
nur ein Schleier sei, der die trostlose Wahrheit verdenke, Pfaffentrug zu poli¬
tischen Zwecken, wie man das sonst weniger zart zu nennen Pflegt; giebt es
kein vollkommnes Glück, werden sie sagen, so wollen wir wenigstens so viel
Glück herausschlagen, als wir können, und selbst wenn wir gar nichts erreichen,
so befindet sich doch ein tüchtiger Kerl, wie der Deutsche nun einmal ist, besser
im Streben nach einem unerreichbaren Ziele, als im thaten- und widerstands¬
losen Leiden. Und so hat Herr Reinhold Schweiß und Petroleum umsonst
verschwendet: er will die Leute von der Arbeit an der Sozialreform zurück¬
rufen, nach dem aber, was sie von ihm vernommen haben, werden sie erst recht
daran gehn. Die Sozialdemokraten werden sagen: So dumm sind wir nicht,
daß wir den Besitzenden den Dank für das ihnen vom Schöpfer oder vom Ur-
willen geschenkte behagliche Plätzchen so leicht machen sollten; kommt sonst für
uns nichts heraus, so wollen wir sie wenigstens gründlich ärgern; die Christen
aber werden sagen: Was willst du denn eigentlich? Gestehst du doch selbst am
Schluß, daß die Liebe das höchste sei, und Liebe ist nicht Empfindelei, sondern
Arbeit für den Nächsten.

Man könnte Reinhold einen Prosa-Nietzsche nennen, nur daß Nietzsche die
krassesten seiner Widersprüche wenigstens auf verschiedne Schriften verteilt hat,
während sie Reinhold in einen Band zusammendrängt. Freilich steckt das
Leben voll von Widersprüchen, aber wer sie dem Publikum aufdeckt, der soll


Reinhold

den entscheidenden Schritt zu thun, den Schwerpunkt des Daseins in die Inner¬
lichkeit zu verlegen" (S. 629 bis 630). Auf einen Pessimismus, der den
Willen für böse hält, läßt sich eben so wenig ein praktischer Optimismus
gründen, als ohne eine feste wirtschaftliche Grundlage inneres Leben zum Auf¬
blühn gebracht werden kann, was ja niemand kräftiger sagt, als Reinhold
selbst. Und wenn die Besitzenden den Schwerpunkt ihres Daseins in die
Innerlichkeit verlegen, daun werden sie nicht, wie Reinhold fordert, jeden
Versuch eines Angriffs auf ihren Besitz rücksichtslos unterdrücken, sondern von
ihrem Einkommen bereitwillig den Arbeitern soviel ablassen, als diese zum Auf¬
bau des innern Lebens brauchen. „Wir müssen es, damit man uns nicht des
Widerspruchs zeihe, immer wiederholen, daß die Wiedergeburt der Gesellschaft
wie die Erlösung des Menschen nie im Ökonomischen liegt, und daß sie haupt¬
sächlich, ja für die große Mehrheit der Sterblichen fast allein in der Religion
zu finden ist. Da die Menschheit, mit wenigen Ausnahmen starker Geister,
die volle Wahrheit nicht ertragen kann, so reicht man ihr mit Recht den
Schleier oder drückt, wie dem sterbenden katholischen Christen, in die sehnend
verlangende Hand das Krenz. Hier hat sie, was sie sucht": Trost. „Hier er¬
scheint zugleich das Gesetz und die Schranke der Freiheit: die Liebe." Die
Liebe aber, daran hat Herr Reinhold nicht gedacht, treibt dazu, den Leidenden
zu helfen, oder was dasselbe ist, die soziale Frage zu lösen, und die Sozial¬
demokraten werden ihm sehr dankbar sein für das Geständnis, daß die Religion
nur ein Schleier sei, der die trostlose Wahrheit verdenke, Pfaffentrug zu poli¬
tischen Zwecken, wie man das sonst weniger zart zu nennen Pflegt; giebt es
kein vollkommnes Glück, werden sie sagen, so wollen wir wenigstens so viel
Glück herausschlagen, als wir können, und selbst wenn wir gar nichts erreichen,
so befindet sich doch ein tüchtiger Kerl, wie der Deutsche nun einmal ist, besser
im Streben nach einem unerreichbaren Ziele, als im thaten- und widerstands¬
losen Leiden. Und so hat Herr Reinhold Schweiß und Petroleum umsonst
verschwendet: er will die Leute von der Arbeit an der Sozialreform zurück¬
rufen, nach dem aber, was sie von ihm vernommen haben, werden sie erst recht
daran gehn. Die Sozialdemokraten werden sagen: So dumm sind wir nicht,
daß wir den Besitzenden den Dank für das ihnen vom Schöpfer oder vom Ur-
willen geschenkte behagliche Plätzchen so leicht machen sollten; kommt sonst für
uns nichts heraus, so wollen wir sie wenigstens gründlich ärgern; die Christen
aber werden sagen: Was willst du denn eigentlich? Gestehst du doch selbst am
Schluß, daß die Liebe das höchste sei, und Liebe ist nicht Empfindelei, sondern
Arbeit für den Nächsten.

Man könnte Reinhold einen Prosa-Nietzsche nennen, nur daß Nietzsche die
krassesten seiner Widersprüche wenigstens auf verschiedne Schriften verteilt hat,
während sie Reinhold in einen Band zusammendrängt. Freilich steckt das
Leben voll von Widersprüchen, aber wer sie dem Publikum aufdeckt, der soll


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[0440] Reinhold den entscheidenden Schritt zu thun, den Schwerpunkt des Daseins in die Inner¬ lichkeit zu verlegen" (S. 629 bis 630). Auf einen Pessimismus, der den Willen für böse hält, läßt sich eben so wenig ein praktischer Optimismus gründen, als ohne eine feste wirtschaftliche Grundlage inneres Leben zum Auf¬ blühn gebracht werden kann, was ja niemand kräftiger sagt, als Reinhold selbst. Und wenn die Besitzenden den Schwerpunkt ihres Daseins in die Innerlichkeit verlegen, daun werden sie nicht, wie Reinhold fordert, jeden Versuch eines Angriffs auf ihren Besitz rücksichtslos unterdrücken, sondern von ihrem Einkommen bereitwillig den Arbeitern soviel ablassen, als diese zum Auf¬ bau des innern Lebens brauchen. „Wir müssen es, damit man uns nicht des Widerspruchs zeihe, immer wiederholen, daß die Wiedergeburt der Gesellschaft wie die Erlösung des Menschen nie im Ökonomischen liegt, und daß sie haupt¬ sächlich, ja für die große Mehrheit der Sterblichen fast allein in der Religion zu finden ist. Da die Menschheit, mit wenigen Ausnahmen starker Geister, die volle Wahrheit nicht ertragen kann, so reicht man ihr mit Recht den Schleier oder drückt, wie dem sterbenden katholischen Christen, in die sehnend verlangende Hand das Krenz. Hier hat sie, was sie sucht": Trost. „Hier er¬ scheint zugleich das Gesetz und die Schranke der Freiheit: die Liebe." Die Liebe aber, daran hat Herr Reinhold nicht gedacht, treibt dazu, den Leidenden zu helfen, oder was dasselbe ist, die soziale Frage zu lösen, und die Sozial¬ demokraten werden ihm sehr dankbar sein für das Geständnis, daß die Religion nur ein Schleier sei, der die trostlose Wahrheit verdenke, Pfaffentrug zu poli¬ tischen Zwecken, wie man das sonst weniger zart zu nennen Pflegt; giebt es kein vollkommnes Glück, werden sie sagen, so wollen wir wenigstens so viel Glück herausschlagen, als wir können, und selbst wenn wir gar nichts erreichen, so befindet sich doch ein tüchtiger Kerl, wie der Deutsche nun einmal ist, besser im Streben nach einem unerreichbaren Ziele, als im thaten- und widerstands¬ losen Leiden. Und so hat Herr Reinhold Schweiß und Petroleum umsonst verschwendet: er will die Leute von der Arbeit an der Sozialreform zurück¬ rufen, nach dem aber, was sie von ihm vernommen haben, werden sie erst recht daran gehn. Die Sozialdemokraten werden sagen: So dumm sind wir nicht, daß wir den Besitzenden den Dank für das ihnen vom Schöpfer oder vom Ur- willen geschenkte behagliche Plätzchen so leicht machen sollten; kommt sonst für uns nichts heraus, so wollen wir sie wenigstens gründlich ärgern; die Christen aber werden sagen: Was willst du denn eigentlich? Gestehst du doch selbst am Schluß, daß die Liebe das höchste sei, und Liebe ist nicht Empfindelei, sondern Arbeit für den Nächsten. Man könnte Reinhold einen Prosa-Nietzsche nennen, nur daß Nietzsche die krassesten seiner Widersprüche wenigstens auf verschiedne Schriften verteilt hat, während sie Reinhold in einen Band zusammendrängt. Freilich steckt das Leben voll von Widersprüchen, aber wer sie dem Publikum aufdeckt, der soll

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/440>, abgerufen am 23.07.2024.