Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

in alter Stärke, obschon die Voraussetzung längst geschwunden ist, da der
Schutz der Industrie, den Deutschland gewährt, viel größer ist, wie es ja auch
im übrigen Reich die Forderungen der Gegenwart verlangten. Die neue deutsche
Regierung sah die Wirkungen der strammen, aber wohlthätigen boncipartischen
Verwaltuugsart und mußte daraus ihre Schlüsse für die Befestigung der eignen
Herrschaft ziehen. Für die nationale Politik war das Programm gegeben, daß
jede andre Maßnahme der Wiederverdeutschung unterzuordnen sei; aber niemals
ist dieser klare Weg öfters verlassen worden, als bei dem ewigen Systemwechsel
in den Neichslanden.

Bei der Betrachtung der Bodengestaltung sehen wir, daß die gegenwärtige
Grenze zwischen Deutschland und Frankreich nicht von der Natur gezogen ist,
daß vielmehr der Wasgenwald Elsaß und das alte Lothringen völlig erfüllt. Die
Diplomaten haben 1871 den Kamm des Gebirges ziemlich willkürlich als Grenze
angenommen und doch beim Elsässer Belchen, der höchsten Bodenerhebung,
plötzlich die Markscheidung verlassen. Die geschichtlich schon unberechtigte Sprach¬
grenze, da sie lediglich ein Werk französischer Vergewaltigung zum Teil erst
dieses Jahrhunderts ist, war nicht der Grund, da auch diesseits des Kamins
stark französierte Gemeinde" liegen. Die alte Landesgrenze ist aber der Kamin
thatsächlich nicht gewesen, da clsüssische Überslntnngen schon in früherer Zeit
hierbei ins fränkische Gebiet des alten Stammeshcrzogtums Lothringen vor¬
gekommen sind, während ursprünglich der Kamm, wie der Nennstieg des
Thüringer Waldes, die alte Völkerscheide gewesen ist. Gerade Ludwig XIV.
hat auf Kosten Lothringens durch die berüchtigten Neunivnen widerrecht¬
lich den Bereich der Landgrafschaft Elsaß über die Gebirgsmaner aus¬
gedehnt. Sicherlich hat keiner der deutschen Unterhändler jemals auf der
stolzen Höhe des landschaftlich großartigen Kammes gestanden, wo der Blick
bis zur gewaltigen Alpenkette nur altes deutsches Land umfaßt. Die Erd-
beschaffeuheit zeigt schon die Gleichheit des Landes westwärts vom Kamin,
wo sich die Berge sanft abdachen im Gegensatz zum östlichen steilen Abfall.
Diese westliche Hügellandschaft ist das Kennzeichen Lothringens, doch saßen am
Gcbirgsrcmd noch die Alemannen des Elsasses. Die Seenbilduugen bei
Gerardmcr und Longcmer -- Gerhcirdsmcir und Lcmgenmcir, wie auch in der
Eifel diese vulkanischen Becken heißen -- gleichen den elsässischen Stauweiheru
auf der Gebirgshöhe, und die Orte sind elsässische Siedlungen. So ist der
Vogesenkamm wohl Deutschlands westlichstes Gebirge, aber nicht seine Grenze,
so wenig wie der Rheinstrom, der zu seinen Füßen fließt und schon in der
Pfalz das Gebiet der fränkischen Stammesgenossen der Lothringer erreicht.
Erst wo das deutsche Mittelgebirge der Vogesen in der Ebne verläuft, beginnt
Frankreich. Bezeichnenderweise heißt daher auch die französische Greuzlaudschaft
die Champagne. Die Grenzlinie des Frankfurter Friedens hat trotz der Fran¬
zösierung des oberelsässischen Grenzstrichs noch einzelne deutsche Ortschaften


in alter Stärke, obschon die Voraussetzung längst geschwunden ist, da der
Schutz der Industrie, den Deutschland gewährt, viel größer ist, wie es ja auch
im übrigen Reich die Forderungen der Gegenwart verlangten. Die neue deutsche
Regierung sah die Wirkungen der strammen, aber wohlthätigen boncipartischen
Verwaltuugsart und mußte daraus ihre Schlüsse für die Befestigung der eignen
Herrschaft ziehen. Für die nationale Politik war das Programm gegeben, daß
jede andre Maßnahme der Wiederverdeutschung unterzuordnen sei; aber niemals
ist dieser klare Weg öfters verlassen worden, als bei dem ewigen Systemwechsel
in den Neichslanden.

Bei der Betrachtung der Bodengestaltung sehen wir, daß die gegenwärtige
Grenze zwischen Deutschland und Frankreich nicht von der Natur gezogen ist,
daß vielmehr der Wasgenwald Elsaß und das alte Lothringen völlig erfüllt. Die
Diplomaten haben 1871 den Kamm des Gebirges ziemlich willkürlich als Grenze
angenommen und doch beim Elsässer Belchen, der höchsten Bodenerhebung,
plötzlich die Markscheidung verlassen. Die geschichtlich schon unberechtigte Sprach¬
grenze, da sie lediglich ein Werk französischer Vergewaltigung zum Teil erst
dieses Jahrhunderts ist, war nicht der Grund, da auch diesseits des Kamins
stark französierte Gemeinde» liegen. Die alte Landesgrenze ist aber der Kamin
thatsächlich nicht gewesen, da clsüssische Überslntnngen schon in früherer Zeit
hierbei ins fränkische Gebiet des alten Stammeshcrzogtums Lothringen vor¬
gekommen sind, während ursprünglich der Kamm, wie der Nennstieg des
Thüringer Waldes, die alte Völkerscheide gewesen ist. Gerade Ludwig XIV.
hat auf Kosten Lothringens durch die berüchtigten Neunivnen widerrecht¬
lich den Bereich der Landgrafschaft Elsaß über die Gebirgsmaner aus¬
gedehnt. Sicherlich hat keiner der deutschen Unterhändler jemals auf der
stolzen Höhe des landschaftlich großartigen Kammes gestanden, wo der Blick
bis zur gewaltigen Alpenkette nur altes deutsches Land umfaßt. Die Erd-
beschaffeuheit zeigt schon die Gleichheit des Landes westwärts vom Kamin,
wo sich die Berge sanft abdachen im Gegensatz zum östlichen steilen Abfall.
Diese westliche Hügellandschaft ist das Kennzeichen Lothringens, doch saßen am
Gcbirgsrcmd noch die Alemannen des Elsasses. Die Seenbilduugen bei
Gerardmcr und Longcmer — Gerhcirdsmcir und Lcmgenmcir, wie auch in der
Eifel diese vulkanischen Becken heißen — gleichen den elsässischen Stauweiheru
auf der Gebirgshöhe, und die Orte sind elsässische Siedlungen. So ist der
Vogesenkamm wohl Deutschlands westlichstes Gebirge, aber nicht seine Grenze,
so wenig wie der Rheinstrom, der zu seinen Füßen fließt und schon in der
Pfalz das Gebiet der fränkischen Stammesgenossen der Lothringer erreicht.
Erst wo das deutsche Mittelgebirge der Vogesen in der Ebne verläuft, beginnt
Frankreich. Bezeichnenderweise heißt daher auch die französische Greuzlaudschaft
die Champagne. Die Grenzlinie des Frankfurter Friedens hat trotz der Fran¬
zösierung des oberelsässischen Grenzstrichs noch einzelne deutsche Ortschaften


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230108"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1729" prev="#ID_1728"> in alter Stärke, obschon die Voraussetzung längst geschwunden ist, da der<lb/>
Schutz der Industrie, den Deutschland gewährt, viel größer ist, wie es ja auch<lb/>
im übrigen Reich die Forderungen der Gegenwart verlangten. Die neue deutsche<lb/>
Regierung sah die Wirkungen der strammen, aber wohlthätigen boncipartischen<lb/>
Verwaltuugsart und mußte daraus ihre Schlüsse für die Befestigung der eignen<lb/>
Herrschaft ziehen. Für die nationale Politik war das Programm gegeben, daß<lb/>
jede andre Maßnahme der Wiederverdeutschung unterzuordnen sei; aber niemals<lb/>
ist dieser klare Weg öfters verlassen worden, als bei dem ewigen Systemwechsel<lb/>
in den Neichslanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1730" next="#ID_1731"> Bei der Betrachtung der Bodengestaltung sehen wir, daß die gegenwärtige<lb/>
Grenze zwischen Deutschland und Frankreich nicht von der Natur gezogen ist,<lb/>
daß vielmehr der Wasgenwald Elsaß und das alte Lothringen völlig erfüllt. Die<lb/>
Diplomaten haben 1871 den Kamm des Gebirges ziemlich willkürlich als Grenze<lb/>
angenommen und doch beim Elsässer Belchen, der höchsten Bodenerhebung,<lb/>
plötzlich die Markscheidung verlassen. Die geschichtlich schon unberechtigte Sprach¬<lb/>
grenze, da sie lediglich ein Werk französischer Vergewaltigung zum Teil erst<lb/>
dieses Jahrhunderts ist, war nicht der Grund, da auch diesseits des Kamins<lb/>
stark französierte Gemeinde» liegen. Die alte Landesgrenze ist aber der Kamin<lb/>
thatsächlich nicht gewesen, da clsüssische Überslntnngen schon in früherer Zeit<lb/>
hierbei ins fränkische Gebiet des alten Stammeshcrzogtums Lothringen vor¬<lb/>
gekommen sind, während ursprünglich der Kamm, wie der Nennstieg des<lb/>
Thüringer Waldes, die alte Völkerscheide gewesen ist. Gerade Ludwig XIV.<lb/>
hat auf Kosten Lothringens durch die berüchtigten Neunivnen widerrecht¬<lb/>
lich den Bereich der Landgrafschaft Elsaß über die Gebirgsmaner aus¬<lb/>
gedehnt. Sicherlich hat keiner der deutschen Unterhändler jemals auf der<lb/>
stolzen Höhe des landschaftlich großartigen Kammes gestanden, wo der Blick<lb/>
bis zur gewaltigen Alpenkette nur altes deutsches Land umfaßt. Die Erd-<lb/>
beschaffeuheit zeigt schon die Gleichheit des Landes westwärts vom Kamin,<lb/>
wo sich die Berge sanft abdachen im Gegensatz zum östlichen steilen Abfall.<lb/>
Diese westliche Hügellandschaft ist das Kennzeichen Lothringens, doch saßen am<lb/>
Gcbirgsrcmd noch die Alemannen des Elsasses. Die Seenbilduugen bei<lb/>
Gerardmcr und Longcmer &#x2014; Gerhcirdsmcir und Lcmgenmcir, wie auch in der<lb/>
Eifel diese vulkanischen Becken heißen &#x2014; gleichen den elsässischen Stauweiheru<lb/>
auf der Gebirgshöhe, und die Orte sind elsässische Siedlungen. So ist der<lb/>
Vogesenkamm wohl Deutschlands westlichstes Gebirge, aber nicht seine Grenze,<lb/>
so wenig wie der Rheinstrom, der zu seinen Füßen fließt und schon in der<lb/>
Pfalz das Gebiet der fränkischen Stammesgenossen der Lothringer erreicht.<lb/>
Erst wo das deutsche Mittelgebirge der Vogesen in der Ebne verläuft, beginnt<lb/>
Frankreich. Bezeichnenderweise heißt daher auch die französische Greuzlaudschaft<lb/>
die Champagne. Die Grenzlinie des Frankfurter Friedens hat trotz der Fran¬<lb/>
zösierung des oberelsässischen Grenzstrichs noch einzelne deutsche Ortschaften</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0422] in alter Stärke, obschon die Voraussetzung längst geschwunden ist, da der Schutz der Industrie, den Deutschland gewährt, viel größer ist, wie es ja auch im übrigen Reich die Forderungen der Gegenwart verlangten. Die neue deutsche Regierung sah die Wirkungen der strammen, aber wohlthätigen boncipartischen Verwaltuugsart und mußte daraus ihre Schlüsse für die Befestigung der eignen Herrschaft ziehen. Für die nationale Politik war das Programm gegeben, daß jede andre Maßnahme der Wiederverdeutschung unterzuordnen sei; aber niemals ist dieser klare Weg öfters verlassen worden, als bei dem ewigen Systemwechsel in den Neichslanden. Bei der Betrachtung der Bodengestaltung sehen wir, daß die gegenwärtige Grenze zwischen Deutschland und Frankreich nicht von der Natur gezogen ist, daß vielmehr der Wasgenwald Elsaß und das alte Lothringen völlig erfüllt. Die Diplomaten haben 1871 den Kamm des Gebirges ziemlich willkürlich als Grenze angenommen und doch beim Elsässer Belchen, der höchsten Bodenerhebung, plötzlich die Markscheidung verlassen. Die geschichtlich schon unberechtigte Sprach¬ grenze, da sie lediglich ein Werk französischer Vergewaltigung zum Teil erst dieses Jahrhunderts ist, war nicht der Grund, da auch diesseits des Kamins stark französierte Gemeinde» liegen. Die alte Landesgrenze ist aber der Kamin thatsächlich nicht gewesen, da clsüssische Überslntnngen schon in früherer Zeit hierbei ins fränkische Gebiet des alten Stammeshcrzogtums Lothringen vor¬ gekommen sind, während ursprünglich der Kamm, wie der Nennstieg des Thüringer Waldes, die alte Völkerscheide gewesen ist. Gerade Ludwig XIV. hat auf Kosten Lothringens durch die berüchtigten Neunivnen widerrecht¬ lich den Bereich der Landgrafschaft Elsaß über die Gebirgsmaner aus¬ gedehnt. Sicherlich hat keiner der deutschen Unterhändler jemals auf der stolzen Höhe des landschaftlich großartigen Kammes gestanden, wo der Blick bis zur gewaltigen Alpenkette nur altes deutsches Land umfaßt. Die Erd- beschaffeuheit zeigt schon die Gleichheit des Landes westwärts vom Kamin, wo sich die Berge sanft abdachen im Gegensatz zum östlichen steilen Abfall. Diese westliche Hügellandschaft ist das Kennzeichen Lothringens, doch saßen am Gcbirgsrcmd noch die Alemannen des Elsasses. Die Seenbilduugen bei Gerardmcr und Longcmer — Gerhcirdsmcir und Lcmgenmcir, wie auch in der Eifel diese vulkanischen Becken heißen — gleichen den elsässischen Stauweiheru auf der Gebirgshöhe, und die Orte sind elsässische Siedlungen. So ist der Vogesenkamm wohl Deutschlands westlichstes Gebirge, aber nicht seine Grenze, so wenig wie der Rheinstrom, der zu seinen Füßen fließt und schon in der Pfalz das Gebiet der fränkischen Stammesgenossen der Lothringer erreicht. Erst wo das deutsche Mittelgebirge der Vogesen in der Ebne verläuft, beginnt Frankreich. Bezeichnenderweise heißt daher auch die französische Greuzlaudschaft die Champagne. Die Grenzlinie des Frankfurter Friedens hat trotz der Fran¬ zösierung des oberelsässischen Grenzstrichs noch einzelne deutsche Ortschaften

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/422
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/422>, abgerufen am 23.07.2024.