Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes?

bedarfs, ein Viertel muß vom Auslande bezogen werden. Der unumgänglich
notwendige Einsuhrbedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen beläuft sich schon
auf Milliarden Mark, er wird sich edel der ungeheuer rasch anwachsenden
Bevölkerungszahl Deutschlands (in den letzten Jahren durchschnittlich jährlich
drei Viertel Million) entsprechend steigern. Bei solchen Bedingungen wird' es
der deutschen Landwirtschaft je länger je mehr technisch unmöglich sein, selbst
bei intensivster Kultur den Fehlbetrag ihrer Produktion zu decken. Woher soll
aber Deutschland den notwendigen Einfuhrbedarf beschaffen und wohin die
Erzeugnisse der eiguen Industrie exportieren, um damit die eingeführten Waren
bezahlen zu können, wenn -- um mit dem Grafen GoluchowSki zu reden --
das zwanzigste Jahrhundert das gewaltige Ringen um das Dasein ans handels¬
politischem Gebiete heraufbeschwört, wenn sich die großen Staatengrnppen,
deren Machtgebiet sich über mehrere Breitengrade und über verschiedne Zonen
ausdehnt, zu wirtschaftlich selbständige", gegen das Ausland zvllpolitisch fest¬
abgeschlossenen Einheiten ausbauen?

Schon begnügt sich Rußland nicht mehr damit, der völlig unabhängige
Agrarstaat zu sein, der jetzt an Getreide den siebenten Teil der Jahresernte
der ganzen Welt produziert, es macht auch die lebhaftesten Anstrengungen, um
seine Industrie auf die Höhe zu bringen, die es in den Stand setzt, das ganze
große Rnsfenrcich bis zum Stillen Ozean und zum Hochlande von Pamir mit
eignen Jndustrieerzeugnissen zu versehen. Wie fest und sicher die russische
Handelspolitik vorgeht, ergiebt sich daraus, daß Rußland zur Hebung seiner
Industrie die Einfuhr von Fabrikaten möglichst beschränkt, dagegen zur Ver¬
besserung seiner Finanzlage die Ausfuhr von Landesprodukten nach Kräften
fördert. Bezeichnend sind die Zahlen des Handelsverkehrs mit Deutschland in
den Jahren 1891 und 1892. In diesen beiden Jahren betrug die Einfuhr
Rußlands aus Deutschland 502 Millionen Mark, darunter Edelmetalle 228 Mil¬
lionen Mark, die Ausfuhr Rußlands nach Deutschland aber 964 Millionen
Mark, darunter Edelmetalle nur 3 Millionen Mark.

Wenn Rußlands Industrie mit der Westeuropas auf gleicher Höhe stehen
wird, werden die europäischen Staaten, die bisher ihre Jndustriewaren in
Nußland abgesetzt und dafür von dort Getreide bezogen haben, vergeblich an
seiue Thür pochen. Rußland wird dann, auf die auswärtige Industrie nicht
mehr augewiesen, sein Getreide, das es heutzutage breiten Volksschichten im
eignen Lande entzieht, um damit die auswärtigen Gläubiger und die Einfuhr
gewerblicher Erzeugnisse bezahlen zu können, zur eignen Volksernährung ver¬
wenden. Mit einem Schlage wird dann der russische Markt -- sowohl Import
wie Export -- verschlossen sein.

Frankreich hat sich schon zollpolitisch gegen das Ausland abgeschlossen
und ist andrerseits im Begriff, sich mit seinem afrikanischen Kolonialreich mehr
und mehr zu einer wirtschaftlichen Einheit zu verschmelzen- Aus dem Artikel 1?
des Frankfurter Friedensvertrages, worin sich Deutschland und Frankreich


Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes?

bedarfs, ein Viertel muß vom Auslande bezogen werden. Der unumgänglich
notwendige Einsuhrbedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen beläuft sich schon
auf Milliarden Mark, er wird sich edel der ungeheuer rasch anwachsenden
Bevölkerungszahl Deutschlands (in den letzten Jahren durchschnittlich jährlich
drei Viertel Million) entsprechend steigern. Bei solchen Bedingungen wird' es
der deutschen Landwirtschaft je länger je mehr technisch unmöglich sein, selbst
bei intensivster Kultur den Fehlbetrag ihrer Produktion zu decken. Woher soll
aber Deutschland den notwendigen Einfuhrbedarf beschaffen und wohin die
Erzeugnisse der eiguen Industrie exportieren, um damit die eingeführten Waren
bezahlen zu können, wenn — um mit dem Grafen GoluchowSki zu reden —
das zwanzigste Jahrhundert das gewaltige Ringen um das Dasein ans handels¬
politischem Gebiete heraufbeschwört, wenn sich die großen Staatengrnppen,
deren Machtgebiet sich über mehrere Breitengrade und über verschiedne Zonen
ausdehnt, zu wirtschaftlich selbständige», gegen das Ausland zvllpolitisch fest¬
abgeschlossenen Einheiten ausbauen?

Schon begnügt sich Rußland nicht mehr damit, der völlig unabhängige
Agrarstaat zu sein, der jetzt an Getreide den siebenten Teil der Jahresernte
der ganzen Welt produziert, es macht auch die lebhaftesten Anstrengungen, um
seine Industrie auf die Höhe zu bringen, die es in den Stand setzt, das ganze
große Rnsfenrcich bis zum Stillen Ozean und zum Hochlande von Pamir mit
eignen Jndustrieerzeugnissen zu versehen. Wie fest und sicher die russische
Handelspolitik vorgeht, ergiebt sich daraus, daß Rußland zur Hebung seiner
Industrie die Einfuhr von Fabrikaten möglichst beschränkt, dagegen zur Ver¬
besserung seiner Finanzlage die Ausfuhr von Landesprodukten nach Kräften
fördert. Bezeichnend sind die Zahlen des Handelsverkehrs mit Deutschland in
den Jahren 1891 und 1892. In diesen beiden Jahren betrug die Einfuhr
Rußlands aus Deutschland 502 Millionen Mark, darunter Edelmetalle 228 Mil¬
lionen Mark, die Ausfuhr Rußlands nach Deutschland aber 964 Millionen
Mark, darunter Edelmetalle nur 3 Millionen Mark.

Wenn Rußlands Industrie mit der Westeuropas auf gleicher Höhe stehen
wird, werden die europäischen Staaten, die bisher ihre Jndustriewaren in
Nußland abgesetzt und dafür von dort Getreide bezogen haben, vergeblich an
seiue Thür pochen. Rußland wird dann, auf die auswärtige Industrie nicht
mehr augewiesen, sein Getreide, das es heutzutage breiten Volksschichten im
eignen Lande entzieht, um damit die auswärtigen Gläubiger und die Einfuhr
gewerblicher Erzeugnisse bezahlen zu können, zur eignen Volksernährung ver¬
wenden. Mit einem Schlage wird dann der russische Markt — sowohl Import
wie Export — verschlossen sein.

Frankreich hat sich schon zollpolitisch gegen das Ausland abgeschlossen
und ist andrerseits im Begriff, sich mit seinem afrikanischen Kolonialreich mehr
und mehr zu einer wirtschaftlichen Einheit zu verschmelzen- Aus dem Artikel 1?
des Frankfurter Friedensvertrages, worin sich Deutschland und Frankreich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230100"/>
          <fw type="header" place="top"> Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1711" prev="#ID_1710"> bedarfs, ein Viertel muß vom Auslande bezogen werden. Der unumgänglich<lb/>
notwendige Einsuhrbedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen beläuft sich schon<lb/>
auf Milliarden Mark, er wird sich edel der ungeheuer rasch anwachsenden<lb/>
Bevölkerungszahl Deutschlands (in den letzten Jahren durchschnittlich jährlich<lb/>
drei Viertel Million) entsprechend steigern. Bei solchen Bedingungen wird' es<lb/>
der deutschen Landwirtschaft je länger je mehr technisch unmöglich sein, selbst<lb/>
bei intensivster Kultur den Fehlbetrag ihrer Produktion zu decken. Woher soll<lb/>
aber Deutschland den notwendigen Einfuhrbedarf beschaffen und wohin die<lb/>
Erzeugnisse der eiguen Industrie exportieren, um damit die eingeführten Waren<lb/>
bezahlen zu können, wenn &#x2014; um mit dem Grafen GoluchowSki zu reden &#x2014;<lb/>
das zwanzigste Jahrhundert das gewaltige Ringen um das Dasein ans handels¬<lb/>
politischem Gebiete heraufbeschwört, wenn sich die großen Staatengrnppen,<lb/>
deren Machtgebiet sich über mehrere Breitengrade und über verschiedne Zonen<lb/>
ausdehnt, zu wirtschaftlich selbständige», gegen das Ausland zvllpolitisch fest¬<lb/>
abgeschlossenen Einheiten ausbauen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1712"> Schon begnügt sich Rußland nicht mehr damit, der völlig unabhängige<lb/>
Agrarstaat zu sein, der jetzt an Getreide den siebenten Teil der Jahresernte<lb/>
der ganzen Welt produziert, es macht auch die lebhaftesten Anstrengungen, um<lb/>
seine Industrie auf die Höhe zu bringen, die es in den Stand setzt, das ganze<lb/>
große Rnsfenrcich bis zum Stillen Ozean und zum Hochlande von Pamir mit<lb/>
eignen Jndustrieerzeugnissen zu versehen. Wie fest und sicher die russische<lb/>
Handelspolitik vorgeht, ergiebt sich daraus, daß Rußland zur Hebung seiner<lb/>
Industrie die Einfuhr von Fabrikaten möglichst beschränkt, dagegen zur Ver¬<lb/>
besserung seiner Finanzlage die Ausfuhr von Landesprodukten nach Kräften<lb/>
fördert. Bezeichnend sind die Zahlen des Handelsverkehrs mit Deutschland in<lb/>
den Jahren 1891 und 1892. In diesen beiden Jahren betrug die Einfuhr<lb/>
Rußlands aus Deutschland 502 Millionen Mark, darunter Edelmetalle 228 Mil¬<lb/>
lionen Mark, die Ausfuhr Rußlands nach Deutschland aber 964 Millionen<lb/>
Mark, darunter Edelmetalle nur 3 Millionen Mark.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1713"> Wenn Rußlands Industrie mit der Westeuropas auf gleicher Höhe stehen<lb/>
wird, werden die europäischen Staaten, die bisher ihre Jndustriewaren in<lb/>
Nußland abgesetzt und dafür von dort Getreide bezogen haben, vergeblich an<lb/>
seiue Thür pochen. Rußland wird dann, auf die auswärtige Industrie nicht<lb/>
mehr augewiesen, sein Getreide, das es heutzutage breiten Volksschichten im<lb/>
eignen Lande entzieht, um damit die auswärtigen Gläubiger und die Einfuhr<lb/>
gewerblicher Erzeugnisse bezahlen zu können, zur eignen Volksernährung ver¬<lb/>
wenden. Mit einem Schlage wird dann der russische Markt &#x2014; sowohl Import<lb/>
wie Export &#x2014; verschlossen sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1714" next="#ID_1715"> Frankreich hat sich schon zollpolitisch gegen das Ausland abgeschlossen<lb/>
und ist andrerseits im Begriff, sich mit seinem afrikanischen Kolonialreich mehr<lb/>
und mehr zu einer wirtschaftlichen Einheit zu verschmelzen- Aus dem Artikel 1?<lb/>
des Frankfurter Friedensvertrages, worin sich Deutschland und Frankreich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0414] Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes? bedarfs, ein Viertel muß vom Auslande bezogen werden. Der unumgänglich notwendige Einsuhrbedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen beläuft sich schon auf Milliarden Mark, er wird sich edel der ungeheuer rasch anwachsenden Bevölkerungszahl Deutschlands (in den letzten Jahren durchschnittlich jährlich drei Viertel Million) entsprechend steigern. Bei solchen Bedingungen wird' es der deutschen Landwirtschaft je länger je mehr technisch unmöglich sein, selbst bei intensivster Kultur den Fehlbetrag ihrer Produktion zu decken. Woher soll aber Deutschland den notwendigen Einfuhrbedarf beschaffen und wohin die Erzeugnisse der eiguen Industrie exportieren, um damit die eingeführten Waren bezahlen zu können, wenn — um mit dem Grafen GoluchowSki zu reden — das zwanzigste Jahrhundert das gewaltige Ringen um das Dasein ans handels¬ politischem Gebiete heraufbeschwört, wenn sich die großen Staatengrnppen, deren Machtgebiet sich über mehrere Breitengrade und über verschiedne Zonen ausdehnt, zu wirtschaftlich selbständige», gegen das Ausland zvllpolitisch fest¬ abgeschlossenen Einheiten ausbauen? Schon begnügt sich Rußland nicht mehr damit, der völlig unabhängige Agrarstaat zu sein, der jetzt an Getreide den siebenten Teil der Jahresernte der ganzen Welt produziert, es macht auch die lebhaftesten Anstrengungen, um seine Industrie auf die Höhe zu bringen, die es in den Stand setzt, das ganze große Rnsfenrcich bis zum Stillen Ozean und zum Hochlande von Pamir mit eignen Jndustrieerzeugnissen zu versehen. Wie fest und sicher die russische Handelspolitik vorgeht, ergiebt sich daraus, daß Rußland zur Hebung seiner Industrie die Einfuhr von Fabrikaten möglichst beschränkt, dagegen zur Ver¬ besserung seiner Finanzlage die Ausfuhr von Landesprodukten nach Kräften fördert. Bezeichnend sind die Zahlen des Handelsverkehrs mit Deutschland in den Jahren 1891 und 1892. In diesen beiden Jahren betrug die Einfuhr Rußlands aus Deutschland 502 Millionen Mark, darunter Edelmetalle 228 Mil¬ lionen Mark, die Ausfuhr Rußlands nach Deutschland aber 964 Millionen Mark, darunter Edelmetalle nur 3 Millionen Mark. Wenn Rußlands Industrie mit der Westeuropas auf gleicher Höhe stehen wird, werden die europäischen Staaten, die bisher ihre Jndustriewaren in Nußland abgesetzt und dafür von dort Getreide bezogen haben, vergeblich an seiue Thür pochen. Rußland wird dann, auf die auswärtige Industrie nicht mehr augewiesen, sein Getreide, das es heutzutage breiten Volksschichten im eignen Lande entzieht, um damit die auswärtigen Gläubiger und die Einfuhr gewerblicher Erzeugnisse bezahlen zu können, zur eignen Volksernährung ver¬ wenden. Mit einem Schlage wird dann der russische Markt — sowohl Import wie Export — verschlossen sein. Frankreich hat sich schon zollpolitisch gegen das Ausland abgeschlossen und ist andrerseits im Begriff, sich mit seinem afrikanischen Kolonialreich mehr und mehr zu einer wirtschaftlichen Einheit zu verschmelzen- Aus dem Artikel 1? des Frankfurter Friedensvertrages, worin sich Deutschland und Frankreich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/414
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/414>, abgerufen am 23.07.2024.