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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes?

Große Völker haben immer, wie die Geschichte lehrt, auf dem Höhepunkte
ihrer Kultur eine bedeutende koloniale Thätigkeit entfaltet: im Altertume die
Phönikier, die Griechen und die Römer; gegen den Ausgang des Mittelalters
und zum Beginn der Neuzeit die Spanier und Portugiesen, dann die Holländer,
schließlich die Franzosen und die Engländer. Besonders lehrreich ist die
Kolonialgeschichte der Engländer. Von den fünf europäischen Westmächten,
die sich nach der Entdeckung Amerikas und nach der Auffindung des Seeweges
nach Ostindien in die neue Welt teilten, hat es England verstanden, sich zur
gewaltigsten weltbeherrschenden Kolonialmacht zu entwickeln. Dies ist ihm
nicht zum wenigsten dadurch gelungen, daß es sich ferngehalten hat von der
oft verhängnisvollen Politik der europäischen Festlandsstaaten, die sich in
Religionskümpfen und in Kriegen um kleine Fetzen Landes auf dem Kontinent
gegenseitig schwachem. Der wirtschaftliche Sinn englischer Staatsmänner hat
weitausschauend den Blick über die Grenzen Europas hinaus auf die Gründung
und Sicherung eines weitumfassenden Kolonialreichs gerichtet gehalten und
sich in die Festlandspolitik nur hineingemischt, wenn es galt, Gewinn für den
englischen Handel und die Kolonialpolitik herauszuschlagen. Von diesem Ge¬
sichtspunkte aus hat sich England an dem spanischen Erbfolgckriege beteiligt
und dadurch die Vereinigung der Kronen Spaniens und Frankreichs auf einem
Haupte und somit die Auslieferung der großen spanischen Besitzungen in
Amerika an Frankreich zu verhindern gewußt.

"Wäre diese Vereinigung, sagt Dr. Alexander Peez,") erfolgt, fo hätte
die durch Colberts weise Pflege mächtig emporgeblühte französische Industrie
einen gewaltigen, den andern Jndustrievölkern verschlossenen Markt in Amerika
und mit demselben die Superiorität gewonnen, und ebenso hätten die Nieder¬
lassungen Frankreichs in Nordamerika und Indien eine außerordentliche Stütze
und dadurch sicherlich deu Vorsprung vor den englischen erlangt. Daß dies
nicht geschah, war das Hauptergebnis der Siege .... Marlboronghs. Neben
diesem unendlich wichtigen negativen Erfolge, welcher das spätere Übergewicht
Englands in Amerika und Indien begründete, brachte der Friede von Utrecht
(1713) den Engländern einen beträchtlichen Teil Kanadas, Neufundland und
Neuschottland, sodann Gibraltar und Minorca von Spanien, sowie den so¬
genannten "Assiento-Vertrag", welcher ihnen das Recht gab, in die spanischen
Kolonien jährlich eine gewisse Anzahl afrikanischer Neger einzuführen und den
Hafen von Portobello alljährlich mit einem Schiff zu besuchen, wodurch sie
Gelegenheit erhielten, Massen von englischen Fabrikaten in die spanischen
Kolonien einzuschmuggeln."

Im siebenjährigen Kriege von 1756 bis 1763 hatte England seinen be¬
sondern Grund. Friedrich den Großen mit Geld zu unterstützen. Es ließ auf



*) Peoz, Zur neuesten Handelspolitik. Wien, 18SS.
Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes?

Große Völker haben immer, wie die Geschichte lehrt, auf dem Höhepunkte
ihrer Kultur eine bedeutende koloniale Thätigkeit entfaltet: im Altertume die
Phönikier, die Griechen und die Römer; gegen den Ausgang des Mittelalters
und zum Beginn der Neuzeit die Spanier und Portugiesen, dann die Holländer,
schließlich die Franzosen und die Engländer. Besonders lehrreich ist die
Kolonialgeschichte der Engländer. Von den fünf europäischen Westmächten,
die sich nach der Entdeckung Amerikas und nach der Auffindung des Seeweges
nach Ostindien in die neue Welt teilten, hat es England verstanden, sich zur
gewaltigsten weltbeherrschenden Kolonialmacht zu entwickeln. Dies ist ihm
nicht zum wenigsten dadurch gelungen, daß es sich ferngehalten hat von der
oft verhängnisvollen Politik der europäischen Festlandsstaaten, die sich in
Religionskümpfen und in Kriegen um kleine Fetzen Landes auf dem Kontinent
gegenseitig schwachem. Der wirtschaftliche Sinn englischer Staatsmänner hat
weitausschauend den Blick über die Grenzen Europas hinaus auf die Gründung
und Sicherung eines weitumfassenden Kolonialreichs gerichtet gehalten und
sich in die Festlandspolitik nur hineingemischt, wenn es galt, Gewinn für den
englischen Handel und die Kolonialpolitik herauszuschlagen. Von diesem Ge¬
sichtspunkte aus hat sich England an dem spanischen Erbfolgckriege beteiligt
und dadurch die Vereinigung der Kronen Spaniens und Frankreichs auf einem
Haupte und somit die Auslieferung der großen spanischen Besitzungen in
Amerika an Frankreich zu verhindern gewußt.

„Wäre diese Vereinigung, sagt Dr. Alexander Peez,") erfolgt, fo hätte
die durch Colberts weise Pflege mächtig emporgeblühte französische Industrie
einen gewaltigen, den andern Jndustrievölkern verschlossenen Markt in Amerika
und mit demselben die Superiorität gewonnen, und ebenso hätten die Nieder¬
lassungen Frankreichs in Nordamerika und Indien eine außerordentliche Stütze
und dadurch sicherlich deu Vorsprung vor den englischen erlangt. Daß dies
nicht geschah, war das Hauptergebnis der Siege .... Marlboronghs. Neben
diesem unendlich wichtigen negativen Erfolge, welcher das spätere Übergewicht
Englands in Amerika und Indien begründete, brachte der Friede von Utrecht
(1713) den Engländern einen beträchtlichen Teil Kanadas, Neufundland und
Neuschottland, sodann Gibraltar und Minorca von Spanien, sowie den so¬
genannten »Assiento-Vertrag«, welcher ihnen das Recht gab, in die spanischen
Kolonien jährlich eine gewisse Anzahl afrikanischer Neger einzuführen und den
Hafen von Portobello alljährlich mit einem Schiff zu besuchen, wodurch sie
Gelegenheit erhielten, Massen von englischen Fabrikaten in die spanischen
Kolonien einzuschmuggeln."

Im siebenjährigen Kriege von 1756 bis 1763 hatte England seinen be¬
sondern Grund. Friedrich den Großen mit Geld zu unterstützen. Es ließ auf



*) Peoz, Zur neuesten Handelspolitik. Wien, 18SS.
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[0410] Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolonialen Besitzstandes? Große Völker haben immer, wie die Geschichte lehrt, auf dem Höhepunkte ihrer Kultur eine bedeutende koloniale Thätigkeit entfaltet: im Altertume die Phönikier, die Griechen und die Römer; gegen den Ausgang des Mittelalters und zum Beginn der Neuzeit die Spanier und Portugiesen, dann die Holländer, schließlich die Franzosen und die Engländer. Besonders lehrreich ist die Kolonialgeschichte der Engländer. Von den fünf europäischen Westmächten, die sich nach der Entdeckung Amerikas und nach der Auffindung des Seeweges nach Ostindien in die neue Welt teilten, hat es England verstanden, sich zur gewaltigsten weltbeherrschenden Kolonialmacht zu entwickeln. Dies ist ihm nicht zum wenigsten dadurch gelungen, daß es sich ferngehalten hat von der oft verhängnisvollen Politik der europäischen Festlandsstaaten, die sich in Religionskümpfen und in Kriegen um kleine Fetzen Landes auf dem Kontinent gegenseitig schwachem. Der wirtschaftliche Sinn englischer Staatsmänner hat weitausschauend den Blick über die Grenzen Europas hinaus auf die Gründung und Sicherung eines weitumfassenden Kolonialreichs gerichtet gehalten und sich in die Festlandspolitik nur hineingemischt, wenn es galt, Gewinn für den englischen Handel und die Kolonialpolitik herauszuschlagen. Von diesem Ge¬ sichtspunkte aus hat sich England an dem spanischen Erbfolgckriege beteiligt und dadurch die Vereinigung der Kronen Spaniens und Frankreichs auf einem Haupte und somit die Auslieferung der großen spanischen Besitzungen in Amerika an Frankreich zu verhindern gewußt. „Wäre diese Vereinigung, sagt Dr. Alexander Peez,") erfolgt, fo hätte die durch Colberts weise Pflege mächtig emporgeblühte französische Industrie einen gewaltigen, den andern Jndustrievölkern verschlossenen Markt in Amerika und mit demselben die Superiorität gewonnen, und ebenso hätten die Nieder¬ lassungen Frankreichs in Nordamerika und Indien eine außerordentliche Stütze und dadurch sicherlich deu Vorsprung vor den englischen erlangt. Daß dies nicht geschah, war das Hauptergebnis der Siege .... Marlboronghs. Neben diesem unendlich wichtigen negativen Erfolge, welcher das spätere Übergewicht Englands in Amerika und Indien begründete, brachte der Friede von Utrecht (1713) den Engländern einen beträchtlichen Teil Kanadas, Neufundland und Neuschottland, sodann Gibraltar und Minorca von Spanien, sowie den so¬ genannten »Assiento-Vertrag«, welcher ihnen das Recht gab, in die spanischen Kolonien jährlich eine gewisse Anzahl afrikanischer Neger einzuführen und den Hafen von Portobello alljährlich mit einem Schiff zu besuchen, wodurch sie Gelegenheit erhielten, Massen von englischen Fabrikaten in die spanischen Kolonien einzuschmuggeln." Im siebenjährigen Kriege von 1756 bis 1763 hatte England seinen be¬ sondern Grund. Friedrich den Großen mit Geld zu unterstützen. Es ließ auf *) Peoz, Zur neuesten Handelspolitik. Wien, 18SS.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/410>, abgerufen am 23.07.2024.