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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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geredet werden könnte, in dem rechten Maß für das Nebensächliche und für
das Große. Es gehört dazu auch die Befähigung, lebendig wiederzugeben,
was in den gedruckten Buchstaben nur ein Halbtotes ist, nur in einer Art
Verpuppung vorliegt, die sich erst wieder lösen muß, eben durch das erklingende
Wort. Der gute Vortrag ist mehr als die beste Erklärung; ihn leisten zu
sollen, das adelt die gesamte Aufgabe des Sprachlehrers, giebt der Arbeits¬
prosa eine festliche Unterbrechung; es läßt den Vortragenden selbst und die
Hörer erst nacherleben, was der Dichter, in dem sich die Kraft vollem
Empfindens mit der Gabe edeln Ausdrucks kreuzt, in seinem Innern erlebt
hat. Nicht zum Dichter geboren zu sein, kann niemand bedrücken; aber
beschämend ist, nicht zum Verständnis des Dichters, zum Mitverständnis des
bewegter" Menschen befähigt zu sein, und nicht die verschiednen Töne in sich
wirklich wiederklingen zu lassen. Wenn beim schelmischen Gedicht die Ver¬
dolmetschung nichts vom schelmischen Ton zu wahren weiß und beim rührenden
oder tiefernsten oder schmerzvollen nichts von dem entsprechenden, wenn die
verschieden erklingende Weise immer mit demselben blechernen Saitenspiel des
schulmeisterlichen Verstandes begleitet werden soll, dann wird eben dem Ohre
nicht Wohl und dem Herzen noch weniger.

Vielleicht kann in diesem Sinne mehr noch gefehlt werden bei den kleinern
und einfachern Gedichten als bei den groß organisierten Dichtwerken. Daß
die letztern, den reifern Stufen vorbehalten, entsprechend ihrer reichern Aus¬
gestaltung, ihrem großen Plane, ihren bedeutendern Zielen mehr Analyse er¬
fordern, überhaupt Analyse und Betrachtung erfordern und noch gewisser er¬
möglichen, ohne darüber Schaden leiden zu müssen, ist ebenso außer Zweifel,
wie daß die größere Gedankenlyrik (an der wir Deutschen einen so edeln Besitz
haben) auch ein gedankenmäßiges Durchdringen erheischt und damit gerade
ein so besonders fruchtbares Gebiet für die Bildung der gereiften Jugend
bedeutet. Dennoch wird Besorgnis wach, wenn man die vielen und ein¬
gehenden Kommentare sieht, die auch für unsre klassischen Dramen seit einiger
Zeit in die Schule eingedrungen sind und noch immer mehr eindringen möchten,
und die, abgesehen davon, daß sie vielfach ein fertiges Wortwiffen über den
Gegenstand übermitteln, und daß sie dem zu lebendiger Behandlung berufnen
Lehrer die Freude nehmen können, leicht auch die innere Stellung des Lesers
zur Dichtung selbst, bei der ein gewisses Ahnen, Wundern und Träumen
bleiben darf und vielleicht bleiben soll, verschieben. Alles zerlegt und belegt,
benannt, gedeutet und in Beziehung gesetzt zu finden, das hilft nicht den
Besitz der Poesie als solchen schätzen. Schöner ist es, wenn Fragen geweckt und
in lebendigem Unterrichtsverkehr beantwortet werden. Aber ob die Heraus¬
geber der Erläuterungen mehr dem Wunsche dienen, ihren unmündiger" Fach¬
genossen Hilfe zu leisten und bei der deutschen Jugend das Verständnis zu
sichern, oder das von ihnen Erdachte und Zurechtgelegte vor die Augen der
Welt zu bringen, wird die sehr bedenkliche Frage bleiben.


geredet werden könnte, in dem rechten Maß für das Nebensächliche und für
das Große. Es gehört dazu auch die Befähigung, lebendig wiederzugeben,
was in den gedruckten Buchstaben nur ein Halbtotes ist, nur in einer Art
Verpuppung vorliegt, die sich erst wieder lösen muß, eben durch das erklingende
Wort. Der gute Vortrag ist mehr als die beste Erklärung; ihn leisten zu
sollen, das adelt die gesamte Aufgabe des Sprachlehrers, giebt der Arbeits¬
prosa eine festliche Unterbrechung; es läßt den Vortragenden selbst und die
Hörer erst nacherleben, was der Dichter, in dem sich die Kraft vollem
Empfindens mit der Gabe edeln Ausdrucks kreuzt, in seinem Innern erlebt
hat. Nicht zum Dichter geboren zu sein, kann niemand bedrücken; aber
beschämend ist, nicht zum Verständnis des Dichters, zum Mitverständnis des
bewegter» Menschen befähigt zu sein, und nicht die verschiednen Töne in sich
wirklich wiederklingen zu lassen. Wenn beim schelmischen Gedicht die Ver¬
dolmetschung nichts vom schelmischen Ton zu wahren weiß und beim rührenden
oder tiefernsten oder schmerzvollen nichts von dem entsprechenden, wenn die
verschieden erklingende Weise immer mit demselben blechernen Saitenspiel des
schulmeisterlichen Verstandes begleitet werden soll, dann wird eben dem Ohre
nicht Wohl und dem Herzen noch weniger.

Vielleicht kann in diesem Sinne mehr noch gefehlt werden bei den kleinern
und einfachern Gedichten als bei den groß organisierten Dichtwerken. Daß
die letztern, den reifern Stufen vorbehalten, entsprechend ihrer reichern Aus¬
gestaltung, ihrem großen Plane, ihren bedeutendern Zielen mehr Analyse er¬
fordern, überhaupt Analyse und Betrachtung erfordern und noch gewisser er¬
möglichen, ohne darüber Schaden leiden zu müssen, ist ebenso außer Zweifel,
wie daß die größere Gedankenlyrik (an der wir Deutschen einen so edeln Besitz
haben) auch ein gedankenmäßiges Durchdringen erheischt und damit gerade
ein so besonders fruchtbares Gebiet für die Bildung der gereiften Jugend
bedeutet. Dennoch wird Besorgnis wach, wenn man die vielen und ein¬
gehenden Kommentare sieht, die auch für unsre klassischen Dramen seit einiger
Zeit in die Schule eingedrungen sind und noch immer mehr eindringen möchten,
und die, abgesehen davon, daß sie vielfach ein fertiges Wortwiffen über den
Gegenstand übermitteln, und daß sie dem zu lebendiger Behandlung berufnen
Lehrer die Freude nehmen können, leicht auch die innere Stellung des Lesers
zur Dichtung selbst, bei der ein gewisses Ahnen, Wundern und Träumen
bleiben darf und vielleicht bleiben soll, verschieben. Alles zerlegt und belegt,
benannt, gedeutet und in Beziehung gesetzt zu finden, das hilft nicht den
Besitz der Poesie als solchen schätzen. Schöner ist es, wenn Fragen geweckt und
in lebendigem Unterrichtsverkehr beantwortet werden. Aber ob die Heraus¬
geber der Erläuterungen mehr dem Wunsche dienen, ihren unmündiger« Fach¬
genossen Hilfe zu leisten und bei der deutschen Jugend das Verständnis zu
sichern, oder das von ihnen Erdachte und Zurechtgelegte vor die Augen der
Welt zu bringen, wird die sehr bedenkliche Frage bleiben.


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[0396] geredet werden könnte, in dem rechten Maß für das Nebensächliche und für das Große. Es gehört dazu auch die Befähigung, lebendig wiederzugeben, was in den gedruckten Buchstaben nur ein Halbtotes ist, nur in einer Art Verpuppung vorliegt, die sich erst wieder lösen muß, eben durch das erklingende Wort. Der gute Vortrag ist mehr als die beste Erklärung; ihn leisten zu sollen, das adelt die gesamte Aufgabe des Sprachlehrers, giebt der Arbeits¬ prosa eine festliche Unterbrechung; es läßt den Vortragenden selbst und die Hörer erst nacherleben, was der Dichter, in dem sich die Kraft vollem Empfindens mit der Gabe edeln Ausdrucks kreuzt, in seinem Innern erlebt hat. Nicht zum Dichter geboren zu sein, kann niemand bedrücken; aber beschämend ist, nicht zum Verständnis des Dichters, zum Mitverständnis des bewegter» Menschen befähigt zu sein, und nicht die verschiednen Töne in sich wirklich wiederklingen zu lassen. Wenn beim schelmischen Gedicht die Ver¬ dolmetschung nichts vom schelmischen Ton zu wahren weiß und beim rührenden oder tiefernsten oder schmerzvollen nichts von dem entsprechenden, wenn die verschieden erklingende Weise immer mit demselben blechernen Saitenspiel des schulmeisterlichen Verstandes begleitet werden soll, dann wird eben dem Ohre nicht Wohl und dem Herzen noch weniger. Vielleicht kann in diesem Sinne mehr noch gefehlt werden bei den kleinern und einfachern Gedichten als bei den groß organisierten Dichtwerken. Daß die letztern, den reifern Stufen vorbehalten, entsprechend ihrer reichern Aus¬ gestaltung, ihrem großen Plane, ihren bedeutendern Zielen mehr Analyse er¬ fordern, überhaupt Analyse und Betrachtung erfordern und noch gewisser er¬ möglichen, ohne darüber Schaden leiden zu müssen, ist ebenso außer Zweifel, wie daß die größere Gedankenlyrik (an der wir Deutschen einen so edeln Besitz haben) auch ein gedankenmäßiges Durchdringen erheischt und damit gerade ein so besonders fruchtbares Gebiet für die Bildung der gereiften Jugend bedeutet. Dennoch wird Besorgnis wach, wenn man die vielen und ein¬ gehenden Kommentare sieht, die auch für unsre klassischen Dramen seit einiger Zeit in die Schule eingedrungen sind und noch immer mehr eindringen möchten, und die, abgesehen davon, daß sie vielfach ein fertiges Wortwiffen über den Gegenstand übermitteln, und daß sie dem zu lebendiger Behandlung berufnen Lehrer die Freude nehmen können, leicht auch die innere Stellung des Lesers zur Dichtung selbst, bei der ein gewisses Ahnen, Wundern und Träumen bleiben darf und vielleicht bleiben soll, verschieben. Alles zerlegt und belegt, benannt, gedeutet und in Beziehung gesetzt zu finden, das hilft nicht den Besitz der Poesie als solchen schätzen. Schöner ist es, wenn Fragen geweckt und in lebendigem Unterrichtsverkehr beantwortet werden. Aber ob die Heraus¬ geber der Erläuterungen mehr dem Wunsche dienen, ihren unmündiger« Fach¬ genossen Hilfe zu leisten und bei der deutschen Jugend das Verständnis zu sichern, oder das von ihnen Erdachte und Zurechtgelegte vor die Augen der Welt zu bringen, wird die sehr bedenkliche Frage bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/396>, abgerufen am 23.07.2024.