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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Erziehung

kommt andre Klage, gewissermaßen die entgegengesetzte: daß nun zu viel auch
über die deutschen Dichtungen geredet, an ihnen erklärt und erläutert und
experimentiert werde, während sie doch nicht als oorxus vns zum Experimentieren,
auch nicht zum geistigen, bestimmt sein könnten. So sprechen Erzieher vom
Fach ebensowohl wie gebildete Eltern und, worauf sicher nicht am wenigsten an¬
kommt, manche ehemaligen Schulzvglinge in der Erinnerung an die empfangner
Eindrücke. Wenn hier fehlgegangen wird (und auch ich bin allerdings der
Ansicht, daß ein solches Festgeber gegenwärtig ziemlich weit verbreitet ist), so
ist es ja irrender Eifer, aber darum doch Irrung und Schade. Es ist nicht
so sehr verirrte Gelehrsamkeit, die sich ehedem so gern auch auf Schul¬
kathedern in selbstgefälligen Behagen und pädagogischer Naivität erging, als
vielmehr das Bestreben, allzu pädagogisch zu sein, allzu bewußt zu bilden; es
ist die Gewohnheit, der Phantasie und dem Gefühl niemals viel Recht über
den Verstand zu lassen oder dem ästhetischen Empfinden gegenüber dem sach¬
lichen Wissen; es ist die Neigung, in Worte und Gedanken und vielleicht Formeln
auch das innerste Leben umzusetzen, der Wunsch, immer etwas recht sichres,
wenn auch nicht schwarz auf weiß in nachgeschricbnem Hefte, aber doch im
Kopfe wohl auseinandergelegt und lückenlos zusammengestellt nach Hause tragen
zu lassen. Es giebt eine Art von umgekehrter Midaswirkung: in gewissen
Schulstuben verwandelt man auch alles Gold in bloße Speise zum (geistigen)
Verdauen. Die Blüten sollen nicht bloß schon sein und duften, sondern sich
auch sogleich als Früchte verzehren lassen.

In Wahrheit stellt sich hier eine schwierige Aufgabe dar. Denn es ist
wahr, daß sich ein planvoller, ein geistig erziehender Unterricht nicht mit
dem Hintreten vor die Objekte, auch die edelsten, nicht mit einem vagen
Anschauen und einem unsichern Innewerden begnügen kann. Er soll deuten
und soll finden lassen, und die Klarheit der Aufnahme muß sich durch das
Wort bekunden. Es ist auch wahr, daß die wahrste Bildung die ist, bei der
sich überall Empfundnes oder Verstandnes durchdringt oder deckt, das klare
Verstehen einem starken Empfinden keinen Eintrag thut und ebensowenig das
Empfinden dem Verstehen, vielmehr das eine den Wert des andern erhöht.
Doch dieses Verhältnis ist ein Ideal, dem die Wirklichkeit nur bei den Aller¬
besten und Reifsten entspricht. Dann aber kommt erst für diese Reifen die
Schwierigkeit, daß es nicht genügt, für sich selbst einigermaßen jenes Gleich¬
gewicht erworben zu haben ; es zu nützen, namentlich aber Empfindung zu über¬
tragen, svdciß es nicht bloß unsichre Regung wird und halblebendiges Wort
bleibt, erfordert mehr als Geschick, erfordert Persönlichkeit. Es vollzieht und
zeigt sich mehr in einzelnen Momenten als im zusammenhängenden Ganzen,
in dem Berühren und Treffen der rechten Punkte, in dem Finden der rechten
Beziehungen, in dem Gefühl für die drüben vorhandne Empfänglichkeit, in dem
Anschlagen des rechten Tons, in Miene, Blick und Stimme, nicht zum wenigsten
auch in der Beschränkung, in dem Verschweigen von gar manchem, das heraus-


Poesie und Erziehung

kommt andre Klage, gewissermaßen die entgegengesetzte: daß nun zu viel auch
über die deutschen Dichtungen geredet, an ihnen erklärt und erläutert und
experimentiert werde, während sie doch nicht als oorxus vns zum Experimentieren,
auch nicht zum geistigen, bestimmt sein könnten. So sprechen Erzieher vom
Fach ebensowohl wie gebildete Eltern und, worauf sicher nicht am wenigsten an¬
kommt, manche ehemaligen Schulzvglinge in der Erinnerung an die empfangner
Eindrücke. Wenn hier fehlgegangen wird (und auch ich bin allerdings der
Ansicht, daß ein solches Festgeber gegenwärtig ziemlich weit verbreitet ist), so
ist es ja irrender Eifer, aber darum doch Irrung und Schade. Es ist nicht
so sehr verirrte Gelehrsamkeit, die sich ehedem so gern auch auf Schul¬
kathedern in selbstgefälligen Behagen und pädagogischer Naivität erging, als
vielmehr das Bestreben, allzu pädagogisch zu sein, allzu bewußt zu bilden; es
ist die Gewohnheit, der Phantasie und dem Gefühl niemals viel Recht über
den Verstand zu lassen oder dem ästhetischen Empfinden gegenüber dem sach¬
lichen Wissen; es ist die Neigung, in Worte und Gedanken und vielleicht Formeln
auch das innerste Leben umzusetzen, der Wunsch, immer etwas recht sichres,
wenn auch nicht schwarz auf weiß in nachgeschricbnem Hefte, aber doch im
Kopfe wohl auseinandergelegt und lückenlos zusammengestellt nach Hause tragen
zu lassen. Es giebt eine Art von umgekehrter Midaswirkung: in gewissen
Schulstuben verwandelt man auch alles Gold in bloße Speise zum (geistigen)
Verdauen. Die Blüten sollen nicht bloß schon sein und duften, sondern sich
auch sogleich als Früchte verzehren lassen.

In Wahrheit stellt sich hier eine schwierige Aufgabe dar. Denn es ist
wahr, daß sich ein planvoller, ein geistig erziehender Unterricht nicht mit
dem Hintreten vor die Objekte, auch die edelsten, nicht mit einem vagen
Anschauen und einem unsichern Innewerden begnügen kann. Er soll deuten
und soll finden lassen, und die Klarheit der Aufnahme muß sich durch das
Wort bekunden. Es ist auch wahr, daß die wahrste Bildung die ist, bei der
sich überall Empfundnes oder Verstandnes durchdringt oder deckt, das klare
Verstehen einem starken Empfinden keinen Eintrag thut und ebensowenig das
Empfinden dem Verstehen, vielmehr das eine den Wert des andern erhöht.
Doch dieses Verhältnis ist ein Ideal, dem die Wirklichkeit nur bei den Aller¬
besten und Reifsten entspricht. Dann aber kommt erst für diese Reifen die
Schwierigkeit, daß es nicht genügt, für sich selbst einigermaßen jenes Gleich¬
gewicht erworben zu haben ; es zu nützen, namentlich aber Empfindung zu über¬
tragen, svdciß es nicht bloß unsichre Regung wird und halblebendiges Wort
bleibt, erfordert mehr als Geschick, erfordert Persönlichkeit. Es vollzieht und
zeigt sich mehr in einzelnen Momenten als im zusammenhängenden Ganzen,
in dem Berühren und Treffen der rechten Punkte, in dem Finden der rechten
Beziehungen, in dem Gefühl für die drüben vorhandne Empfänglichkeit, in dem
Anschlagen des rechten Tons, in Miene, Blick und Stimme, nicht zum wenigsten
auch in der Beschränkung, in dem Verschweigen von gar manchem, das heraus-


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[0395] Poesie und Erziehung kommt andre Klage, gewissermaßen die entgegengesetzte: daß nun zu viel auch über die deutschen Dichtungen geredet, an ihnen erklärt und erläutert und experimentiert werde, während sie doch nicht als oorxus vns zum Experimentieren, auch nicht zum geistigen, bestimmt sein könnten. So sprechen Erzieher vom Fach ebensowohl wie gebildete Eltern und, worauf sicher nicht am wenigsten an¬ kommt, manche ehemaligen Schulzvglinge in der Erinnerung an die empfangner Eindrücke. Wenn hier fehlgegangen wird (und auch ich bin allerdings der Ansicht, daß ein solches Festgeber gegenwärtig ziemlich weit verbreitet ist), so ist es ja irrender Eifer, aber darum doch Irrung und Schade. Es ist nicht so sehr verirrte Gelehrsamkeit, die sich ehedem so gern auch auf Schul¬ kathedern in selbstgefälligen Behagen und pädagogischer Naivität erging, als vielmehr das Bestreben, allzu pädagogisch zu sein, allzu bewußt zu bilden; es ist die Gewohnheit, der Phantasie und dem Gefühl niemals viel Recht über den Verstand zu lassen oder dem ästhetischen Empfinden gegenüber dem sach¬ lichen Wissen; es ist die Neigung, in Worte und Gedanken und vielleicht Formeln auch das innerste Leben umzusetzen, der Wunsch, immer etwas recht sichres, wenn auch nicht schwarz auf weiß in nachgeschricbnem Hefte, aber doch im Kopfe wohl auseinandergelegt und lückenlos zusammengestellt nach Hause tragen zu lassen. Es giebt eine Art von umgekehrter Midaswirkung: in gewissen Schulstuben verwandelt man auch alles Gold in bloße Speise zum (geistigen) Verdauen. Die Blüten sollen nicht bloß schon sein und duften, sondern sich auch sogleich als Früchte verzehren lassen. In Wahrheit stellt sich hier eine schwierige Aufgabe dar. Denn es ist wahr, daß sich ein planvoller, ein geistig erziehender Unterricht nicht mit dem Hintreten vor die Objekte, auch die edelsten, nicht mit einem vagen Anschauen und einem unsichern Innewerden begnügen kann. Er soll deuten und soll finden lassen, und die Klarheit der Aufnahme muß sich durch das Wort bekunden. Es ist auch wahr, daß die wahrste Bildung die ist, bei der sich überall Empfundnes oder Verstandnes durchdringt oder deckt, das klare Verstehen einem starken Empfinden keinen Eintrag thut und ebensowenig das Empfinden dem Verstehen, vielmehr das eine den Wert des andern erhöht. Doch dieses Verhältnis ist ein Ideal, dem die Wirklichkeit nur bei den Aller¬ besten und Reifsten entspricht. Dann aber kommt erst für diese Reifen die Schwierigkeit, daß es nicht genügt, für sich selbst einigermaßen jenes Gleich¬ gewicht erworben zu haben ; es zu nützen, namentlich aber Empfindung zu über¬ tragen, svdciß es nicht bloß unsichre Regung wird und halblebendiges Wort bleibt, erfordert mehr als Geschick, erfordert Persönlichkeit. Es vollzieht und zeigt sich mehr in einzelnen Momenten als im zusammenhängenden Ganzen, in dem Berühren und Treffen der rechten Punkte, in dem Finden der rechten Beziehungen, in dem Gefühl für die drüben vorhandne Empfänglichkeit, in dem Anschlagen des rechten Tons, in Miene, Blick und Stimme, nicht zum wenigsten auch in der Beschränkung, in dem Verschweigen von gar manchem, das heraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/395>, abgerufen am 23.07.2024.