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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Erziehung

zur Verstandesfreude an Maß und Formel und Kategorie erzogen oder dafür
geboren sind. Darum aber sollen doch die Werke auch der fremden Dichter
minder ausdauernd unter das Objektiv des Mikroskops gelegt, denn als Sterne
durch eine Art von geistigem Teleskop angeschaut werden.

Die Wendung der Dinge, die sich mit Herders Predigt von der Poesie
als der Muttersprache des menschlichen Geschlechts vollzog, ist eine der tief¬
greifendsten für das geistige Leben unsrer deutschen -- und nicht bloß unsrer
deutschen -- Menschheit. Wer möchte jenseits dieser Entdeckung gelebt haben!
Wenn die Gedankenreihen Lessings im Laokoon bewirkten, daß es Goethe und
seinen Genossen wie Schuppen von den Augen fiel, so müssen Herders begeisterte
Zurufe bewirkt haben, daß es wie eine neue Sonne am Himmel aufging; man
muß sich mit einemmale außerordentlich viel jünger gefühlt haben, verjüngt
gewissermaßen für immer, kindlich zugleich und reif, beschenkt mit einer uuvergüng-
lichen Freude an dem, was früher nnr als freundliche Zierde guter Stunden
galt. Doch freilich, die neue Lehre an sich konnte es nicht thun; das Empor¬
quellen, das leuchtende Aufgehen der neuen Dichtung selbst war der unvergleich¬
liche Gewinn des neuen Geschlechts, der neuen und der kommenden Geschlechter!
Denn wie hoch der Montblanc eigentlich über den andern Bergen ist, dessen
wird man erst bei großer Raumentfernung inne, und zu unsern großen Dichter¬
fürsten wird sich nach weitern Jahrhunderten der Blick noch dankbarer zurück¬
lenken als der unsrige, wobei es gar nicht hinderlich ist, wenn mittlerweile
allerlei unruhige Wasserwellen andrer Art bergartig emporgeschlagen sind oder
auch sich solide Hügel von verschiedner Höhe vorgelagert haben. Aber bei
dem wertvollsten Neuen, das einem Volke geschenkt wird, dauert es meist eine
ganze Zeit lang, bis es sich recht darüber freuen lernt, und bis es heraus¬
gefunden hat, was es daran besitzt und daraus ziehen kann. In einer so um¬
fassenden Gemeinschaft -- wie erregbar und wie einmütig in ihrem Empfinden
sie auch scheinen mag -- bildet sich eine gesunde Schützung des Wertes meist
erst sehr allmählich; rasch kann nur die fruchtbare That gewürdigt werden.
Und die deutschen Schulen sind fürwahr nicht (es war das niemals ihre Art) eilig
gewesen, sich von dem neuen Lichte durchströmen zu lassen.

Zunächst war es ja schon gut und schön, daß inzwischen durch die Neu¬
humanisten für Universitäten und Schulen eine echtere und vollere Würdigung,
eine über die äußere Gestalt hinausstrebendc, dem Innern zugewandte Beleuch¬
tung der antiken Dichtung gewonnen wurde. Aber freilich, auch dieser Gewinn
war nur ein grundsätzlicher, ein gewissermaßen in der Höhe schwebender, der
immer wieder erst ergriffen werden mußte von der einzelnen sichern Hand, ein
Erbe, das sich den nachwachsenden nur überlieferte und ihr "Besitz" wurde,
menn es von ihnen "erworben" war. Daß helle Augen die Harmonie der
Farben geschaut hatten, verbürgte nicht, daß sie auch blöden Augen wirklich
erstrahlte. Immer wieder neigte auch in dieser Periode die große Menge der


Poesie und Erziehung

zur Verstandesfreude an Maß und Formel und Kategorie erzogen oder dafür
geboren sind. Darum aber sollen doch die Werke auch der fremden Dichter
minder ausdauernd unter das Objektiv des Mikroskops gelegt, denn als Sterne
durch eine Art von geistigem Teleskop angeschaut werden.

Die Wendung der Dinge, die sich mit Herders Predigt von der Poesie
als der Muttersprache des menschlichen Geschlechts vollzog, ist eine der tief¬
greifendsten für das geistige Leben unsrer deutschen — und nicht bloß unsrer
deutschen — Menschheit. Wer möchte jenseits dieser Entdeckung gelebt haben!
Wenn die Gedankenreihen Lessings im Laokoon bewirkten, daß es Goethe und
seinen Genossen wie Schuppen von den Augen fiel, so müssen Herders begeisterte
Zurufe bewirkt haben, daß es wie eine neue Sonne am Himmel aufging; man
muß sich mit einemmale außerordentlich viel jünger gefühlt haben, verjüngt
gewissermaßen für immer, kindlich zugleich und reif, beschenkt mit einer uuvergüng-
lichen Freude an dem, was früher nnr als freundliche Zierde guter Stunden
galt. Doch freilich, die neue Lehre an sich konnte es nicht thun; das Empor¬
quellen, das leuchtende Aufgehen der neuen Dichtung selbst war der unvergleich¬
liche Gewinn des neuen Geschlechts, der neuen und der kommenden Geschlechter!
Denn wie hoch der Montblanc eigentlich über den andern Bergen ist, dessen
wird man erst bei großer Raumentfernung inne, und zu unsern großen Dichter¬
fürsten wird sich nach weitern Jahrhunderten der Blick noch dankbarer zurück¬
lenken als der unsrige, wobei es gar nicht hinderlich ist, wenn mittlerweile
allerlei unruhige Wasserwellen andrer Art bergartig emporgeschlagen sind oder
auch sich solide Hügel von verschiedner Höhe vorgelagert haben. Aber bei
dem wertvollsten Neuen, das einem Volke geschenkt wird, dauert es meist eine
ganze Zeit lang, bis es sich recht darüber freuen lernt, und bis es heraus¬
gefunden hat, was es daran besitzt und daraus ziehen kann. In einer so um¬
fassenden Gemeinschaft — wie erregbar und wie einmütig in ihrem Empfinden
sie auch scheinen mag — bildet sich eine gesunde Schützung des Wertes meist
erst sehr allmählich; rasch kann nur die fruchtbare That gewürdigt werden.
Und die deutschen Schulen sind fürwahr nicht (es war das niemals ihre Art) eilig
gewesen, sich von dem neuen Lichte durchströmen zu lassen.

Zunächst war es ja schon gut und schön, daß inzwischen durch die Neu¬
humanisten für Universitäten und Schulen eine echtere und vollere Würdigung,
eine über die äußere Gestalt hinausstrebendc, dem Innern zugewandte Beleuch¬
tung der antiken Dichtung gewonnen wurde. Aber freilich, auch dieser Gewinn
war nur ein grundsätzlicher, ein gewissermaßen in der Höhe schwebender, der
immer wieder erst ergriffen werden mußte von der einzelnen sichern Hand, ein
Erbe, das sich den nachwachsenden nur überlieferte und ihr „Besitz" wurde,
menn es von ihnen „erworben" war. Daß helle Augen die Harmonie der
Farben geschaut hatten, verbürgte nicht, daß sie auch blöden Augen wirklich
erstrahlte. Immer wieder neigte auch in dieser Periode die große Menge der


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[0392] Poesie und Erziehung zur Verstandesfreude an Maß und Formel und Kategorie erzogen oder dafür geboren sind. Darum aber sollen doch die Werke auch der fremden Dichter minder ausdauernd unter das Objektiv des Mikroskops gelegt, denn als Sterne durch eine Art von geistigem Teleskop angeschaut werden. Die Wendung der Dinge, die sich mit Herders Predigt von der Poesie als der Muttersprache des menschlichen Geschlechts vollzog, ist eine der tief¬ greifendsten für das geistige Leben unsrer deutschen — und nicht bloß unsrer deutschen — Menschheit. Wer möchte jenseits dieser Entdeckung gelebt haben! Wenn die Gedankenreihen Lessings im Laokoon bewirkten, daß es Goethe und seinen Genossen wie Schuppen von den Augen fiel, so müssen Herders begeisterte Zurufe bewirkt haben, daß es wie eine neue Sonne am Himmel aufging; man muß sich mit einemmale außerordentlich viel jünger gefühlt haben, verjüngt gewissermaßen für immer, kindlich zugleich und reif, beschenkt mit einer uuvergüng- lichen Freude an dem, was früher nnr als freundliche Zierde guter Stunden galt. Doch freilich, die neue Lehre an sich konnte es nicht thun; das Empor¬ quellen, das leuchtende Aufgehen der neuen Dichtung selbst war der unvergleich¬ liche Gewinn des neuen Geschlechts, der neuen und der kommenden Geschlechter! Denn wie hoch der Montblanc eigentlich über den andern Bergen ist, dessen wird man erst bei großer Raumentfernung inne, und zu unsern großen Dichter¬ fürsten wird sich nach weitern Jahrhunderten der Blick noch dankbarer zurück¬ lenken als der unsrige, wobei es gar nicht hinderlich ist, wenn mittlerweile allerlei unruhige Wasserwellen andrer Art bergartig emporgeschlagen sind oder auch sich solide Hügel von verschiedner Höhe vorgelagert haben. Aber bei dem wertvollsten Neuen, das einem Volke geschenkt wird, dauert es meist eine ganze Zeit lang, bis es sich recht darüber freuen lernt, und bis es heraus¬ gefunden hat, was es daran besitzt und daraus ziehen kann. In einer so um¬ fassenden Gemeinschaft — wie erregbar und wie einmütig in ihrem Empfinden sie auch scheinen mag — bildet sich eine gesunde Schützung des Wertes meist erst sehr allmählich; rasch kann nur die fruchtbare That gewürdigt werden. Und die deutschen Schulen sind fürwahr nicht (es war das niemals ihre Art) eilig gewesen, sich von dem neuen Lichte durchströmen zu lassen. Zunächst war es ja schon gut und schön, daß inzwischen durch die Neu¬ humanisten für Universitäten und Schulen eine echtere und vollere Würdigung, eine über die äußere Gestalt hinausstrebendc, dem Innern zugewandte Beleuch¬ tung der antiken Dichtung gewonnen wurde. Aber freilich, auch dieser Gewinn war nur ein grundsätzlicher, ein gewissermaßen in der Höhe schwebender, der immer wieder erst ergriffen werden mußte von der einzelnen sichern Hand, ein Erbe, das sich den nachwachsenden nur überlieferte und ihr „Besitz" wurde, menn es von ihnen „erworben" war. Daß helle Augen die Harmonie der Farben geschaut hatten, verbürgte nicht, daß sie auch blöden Augen wirklich erstrahlte. Immer wieder neigte auch in dieser Periode die große Menge der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/392>, abgerufen am 23.07.2024.