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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Erziehung

Kindischen Annalen und schon sehr frühzeitig Vergil werden in den Schulen
gelesen; noch viel früher schon muß Einfacheres in poetischer Form allgemein
eingeprägt worden sein. Später durfte sich Horaz das schöne Schicksal aus¬
malen, dem kommenden Geschlecht wackre Thaten im Lied zu übermitteln und
ihm Sinn und Herz mit schön gestalteter Rede zu bildend) Zum Lernen kam
die Übung im Vortrag allerwürts hinzu, und weit in die spätern Jahrhunderte
hinein trägt die Überlieferung -- zusammen mit der Sprache -- die Ziele und
Künste römischer Schulen sort. Freilich eben auch die Künste, und daß diese
inmitten der andersartigen Welt des Mittelalters nur roher geübt und ver¬
waltet oder nur äußerlicher gehandhabt wurden, ist die natürliche Entwicklung
der Dinge.

Die Schulen des Mittelalters -- von der nicht schulmäßigen und sich auf
ganz andern Linien bewegenden Ausbildung der jungen Sprossen des Ritter¬
standes ist vorhin schon die Rede gewesen -- bieten uns kein Bild, an dem sich
ein pädagogisches Auge erfreuen könnte. Und so sehr die Freude an dem Stu¬
dium und der Eifer des Lehrens in der Humanistenzeit gestiegen ist, hier fast
ebenso wenig wie dort weiß man der edeln Dichtung gerecht zu werden. Selt¬
sam willkürliche Ausdeutung, einseitiges Aufmerken auf die äußere Form, unfrucht¬
bare Versuche in der Nachahmung: eins von diesen Dingen ist für uns nicht
anmutender als das andre. Daß es -- bei uns Deutschen wenigstens -- nur
fremde, ferne, jenseitige Poesie war, die man der Beschäftigung würdig fand,
mag als eine Art von Durchgangsstadium erträglich erscheinen, zumal da es
ja nicht beliebig fremde Dichtung war, sondern die aus ihrer Höhe hernieder-
lcuchtende der Alten. Aber bis man sie als Poesie eigentlich und voll empfinden
lernte, sie würdigen nach ihrem innersten Wesen, das währte lange, und bis
dieses innere Verständnis und Interesse in Schulen das sür die Form, für
Metrum und Versfüße, Tropen und Figuren, Normen und Lizenzen ablöste,
dauerte es noch länger, ja man wird wohl fragen dürfen, ob diese Periode
jetzt wirklich und allgemein eingetreten sei, ob nicht immer wieder der Geist der
kleinen Gelehrsamkeit siegreich ringe mit der warmen Nachempfindung und die
scholastische Routine mit der erzieherischen Kunst. Freilich, sofern es der Schule
nun einmal obliegt, zu Schulen, die Form zu deuten neben dem Inhalt, auch
begrifflich erkennen zu lassen, damit man weiterhin selbständig unterscheiden und
würdigen könne, Maßstäbe, Kategorien, Typen zu übermitteln, ist kein Zweifel,
daß das in leichterer und natürlicherer Weise an den Dichtungen in fremder
Sprache geschieht, seien sie auch die edelsten, als an denen der Muttersprache,
wo sich das Herz viel eher verstimmt sühlt, wenn sich das Auge beobachtend
der Form zuwenden soll, wenigstens bei solchen Naturen, die nicht vor allem



") Dx. II, I, 126 s.: 0s tousrrull xusri dklbrimqus xost" Lgur"t, Lor^use s>d vdsvosni8
isw, uuuo sormollibas "vrvm, Atox sti"in xoctus xr-wosxtis korwst "wiois, ^sxsritatis ot
invickmo oorrootor se ir"o. Rsots lave" rsksrt, orisntis, tsmxor" notis lustrriit oxswxlis.
Poesie und Erziehung

Kindischen Annalen und schon sehr frühzeitig Vergil werden in den Schulen
gelesen; noch viel früher schon muß Einfacheres in poetischer Form allgemein
eingeprägt worden sein. Später durfte sich Horaz das schöne Schicksal aus¬
malen, dem kommenden Geschlecht wackre Thaten im Lied zu übermitteln und
ihm Sinn und Herz mit schön gestalteter Rede zu bildend) Zum Lernen kam
die Übung im Vortrag allerwürts hinzu, und weit in die spätern Jahrhunderte
hinein trägt die Überlieferung — zusammen mit der Sprache — die Ziele und
Künste römischer Schulen sort. Freilich eben auch die Künste, und daß diese
inmitten der andersartigen Welt des Mittelalters nur roher geübt und ver¬
waltet oder nur äußerlicher gehandhabt wurden, ist die natürliche Entwicklung
der Dinge.

Die Schulen des Mittelalters — von der nicht schulmäßigen und sich auf
ganz andern Linien bewegenden Ausbildung der jungen Sprossen des Ritter¬
standes ist vorhin schon die Rede gewesen — bieten uns kein Bild, an dem sich
ein pädagogisches Auge erfreuen könnte. Und so sehr die Freude an dem Stu¬
dium und der Eifer des Lehrens in der Humanistenzeit gestiegen ist, hier fast
ebenso wenig wie dort weiß man der edeln Dichtung gerecht zu werden. Selt¬
sam willkürliche Ausdeutung, einseitiges Aufmerken auf die äußere Form, unfrucht¬
bare Versuche in der Nachahmung: eins von diesen Dingen ist für uns nicht
anmutender als das andre. Daß es — bei uns Deutschen wenigstens — nur
fremde, ferne, jenseitige Poesie war, die man der Beschäftigung würdig fand,
mag als eine Art von Durchgangsstadium erträglich erscheinen, zumal da es
ja nicht beliebig fremde Dichtung war, sondern die aus ihrer Höhe hernieder-
lcuchtende der Alten. Aber bis man sie als Poesie eigentlich und voll empfinden
lernte, sie würdigen nach ihrem innersten Wesen, das währte lange, und bis
dieses innere Verständnis und Interesse in Schulen das sür die Form, für
Metrum und Versfüße, Tropen und Figuren, Normen und Lizenzen ablöste,
dauerte es noch länger, ja man wird wohl fragen dürfen, ob diese Periode
jetzt wirklich und allgemein eingetreten sei, ob nicht immer wieder der Geist der
kleinen Gelehrsamkeit siegreich ringe mit der warmen Nachempfindung und die
scholastische Routine mit der erzieherischen Kunst. Freilich, sofern es der Schule
nun einmal obliegt, zu Schulen, die Form zu deuten neben dem Inhalt, auch
begrifflich erkennen zu lassen, damit man weiterhin selbständig unterscheiden und
würdigen könne, Maßstäbe, Kategorien, Typen zu übermitteln, ist kein Zweifel,
daß das in leichterer und natürlicherer Weise an den Dichtungen in fremder
Sprache geschieht, seien sie auch die edelsten, als an denen der Muttersprache,
wo sich das Herz viel eher verstimmt sühlt, wenn sich das Auge beobachtend
der Form zuwenden soll, wenigstens bei solchen Naturen, die nicht vor allem



») Dx. II, I, 126 s.: 0s tousrrull xusri dklbrimqus xost» Lgur»t, Lor^use s>d vdsvosni8
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[0391] Poesie und Erziehung Kindischen Annalen und schon sehr frühzeitig Vergil werden in den Schulen gelesen; noch viel früher schon muß Einfacheres in poetischer Form allgemein eingeprägt worden sein. Später durfte sich Horaz das schöne Schicksal aus¬ malen, dem kommenden Geschlecht wackre Thaten im Lied zu übermitteln und ihm Sinn und Herz mit schön gestalteter Rede zu bildend) Zum Lernen kam die Übung im Vortrag allerwürts hinzu, und weit in die spätern Jahrhunderte hinein trägt die Überlieferung — zusammen mit der Sprache — die Ziele und Künste römischer Schulen sort. Freilich eben auch die Künste, und daß diese inmitten der andersartigen Welt des Mittelalters nur roher geübt und ver¬ waltet oder nur äußerlicher gehandhabt wurden, ist die natürliche Entwicklung der Dinge. Die Schulen des Mittelalters — von der nicht schulmäßigen und sich auf ganz andern Linien bewegenden Ausbildung der jungen Sprossen des Ritter¬ standes ist vorhin schon die Rede gewesen — bieten uns kein Bild, an dem sich ein pädagogisches Auge erfreuen könnte. Und so sehr die Freude an dem Stu¬ dium und der Eifer des Lehrens in der Humanistenzeit gestiegen ist, hier fast ebenso wenig wie dort weiß man der edeln Dichtung gerecht zu werden. Selt¬ sam willkürliche Ausdeutung, einseitiges Aufmerken auf die äußere Form, unfrucht¬ bare Versuche in der Nachahmung: eins von diesen Dingen ist für uns nicht anmutender als das andre. Daß es — bei uns Deutschen wenigstens — nur fremde, ferne, jenseitige Poesie war, die man der Beschäftigung würdig fand, mag als eine Art von Durchgangsstadium erträglich erscheinen, zumal da es ja nicht beliebig fremde Dichtung war, sondern die aus ihrer Höhe hernieder- lcuchtende der Alten. Aber bis man sie als Poesie eigentlich und voll empfinden lernte, sie würdigen nach ihrem innersten Wesen, das währte lange, und bis dieses innere Verständnis und Interesse in Schulen das sür die Form, für Metrum und Versfüße, Tropen und Figuren, Normen und Lizenzen ablöste, dauerte es noch länger, ja man wird wohl fragen dürfen, ob diese Periode jetzt wirklich und allgemein eingetreten sei, ob nicht immer wieder der Geist der kleinen Gelehrsamkeit siegreich ringe mit der warmen Nachempfindung und die scholastische Routine mit der erzieherischen Kunst. Freilich, sofern es der Schule nun einmal obliegt, zu Schulen, die Form zu deuten neben dem Inhalt, auch begrifflich erkennen zu lassen, damit man weiterhin selbständig unterscheiden und würdigen könne, Maßstäbe, Kategorien, Typen zu übermitteln, ist kein Zweifel, daß das in leichterer und natürlicherer Weise an den Dichtungen in fremder Sprache geschieht, seien sie auch die edelsten, als an denen der Muttersprache, wo sich das Herz viel eher verstimmt sühlt, wenn sich das Auge beobachtend der Form zuwenden soll, wenigstens bei solchen Naturen, die nicht vor allem ») Dx. II, I, 126 s.: 0s tousrrull xusri dklbrimqus xost» Lgur»t, Lor^use s>d vdsvosni8 isw, uuuo sormollibas »vrvm, Atox sti»in xoctus xr-wosxtis korwst »wiois, ^sxsritatis ot invickmo oorrootor se ir»o. Rsots lave» rsksrt, orisntis, tsmxor» notis lustrriit oxswxlis.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/391>, abgerufen am 23.07.2024.