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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Islam und Zivilisation

überlassen. Der Neffe Schirkuhs und sein Nachfolger ist der große Saladin,
der 1171 den Kalifen beseitigte und sich selbst zum Herrn machte.

Bei dem fortschreitenden Verfall des abbcissidischen Kalifats machen sich die
asiatischen Gebiete mehr und mehr unabhängig; die Statthalter bemächtigen
sich der Herrschaft und erkennen den Kalifen nur noch nominell als Oberhaupt
an. Die Bujiden, eine der persischen Lokaldynastien, entkleideten den Kalifen
schließlich ganz der weltlichen Macht, ihre Häupter regierten als erbliche Fürsten
unter Annahme des Titels von Sultanen weiter, während den Kalifen nur die
Würde des geistlichen Oberhauptes blieb. In dieser Stellung lebten die Kalifen
drei Jahrhunderte hindurch unter der wechselnden Herrschaft persischer und tür¬
kischer Emire; als die Mongolen 1258 Bagdad eroberten, wurde der letzte Kauf
hingerichtet. Einige abbassidische Prinzen entkamen nach Ägypten, wo der
Mamelukensultan den einen zum Kalifen machte, um der eignen Herrschaft die
Weihe der Legitimität zu geben. Als dann 1517 die Osmanen Ägypten er¬
oberten, nahmen sie den Kalifen nach Konstantinopel mit. Seitdem führen die
türkischen Sultane den Kalifentitel und vereinen als solche die geistliche und
weltliche Macht wieder in ihrer Hand.

Dies ist in kürzesten Zügen die Geschichte des Kalifats -- nicht nur einer
historischen Erscheinung, sondern einer Idee -- bis zu seinem Übergang von
den Arabern zu den Türken; es bleiben noch einige Bemerkungen über die
Geschichte der Türken hinzuzufügen.

Wir haben sie schon erwähnt; im zehnten Jahrhundert treten sie in Bagdad
in der Rolle auf, wie die Prätorianer und die germanischen Söldnerscharen in der
spätesten Kaiserzeit zu Rom. Ihr Oberbefehlshaber -- der Emir al Omara --
gewinnt mit der Zeit dem Kalifen gegenüber eine Stellung ähnlich der des
Hausmeiers im Reiche der Merowinger. Auf die Analogie mit dem Auftreten
der occidentalischen Normannen hat schon L. von Ranke aufmerksam gemacht.
Aber die Normannen gehen in den ältern Nationalitäten auf, während die
Türken schließlich die Herrschaft ergreifen und behaupten, wie die Germanen
in Rom. Im Jahre 1055 wird der seldschukische Oberbefehlshaber Thogrilbeg
von dem Kalifen zum König des Ostens und Westens ernannt und nennt sich
von da an Sultan; sein Reich erstreckt sich vom Euphrat bis zum Aralsee.
Unter ihm und seinen nächsten tüchtigen Nachfolgern machte sich in dem ver¬
fallenden Kalifate die frische und kriegerische Nationalität der türkischen Stämme
bald geltend und verlieh dem Islam Asiens die Kraft, dem griechischen Kaiser¬
tum und den ägyptischen Fatimiden angriffsweise entgegenzutreten. Im byzan¬
tinischen Reiche hatte im Jahre 1057 die feudale Aristokratie über das zentra¬
lisierende absolutistische Kaisertum gesiegt; unaufhörliche Thronstreitigkeiten haben
seitdem mehr als alles andre die Macht des Reiches untergraben und schließlich
zu seinem Untergange geführt. Das Jahr 1071 ist der Zeitpunkt der ent¬
scheidenden Umwälzung in Kleinasien und Syrien, die diese Länder unter die
Herrschaft der Seldschuken bringt, und von da an beginnt die Vernichtung


Islam und Zivilisation

überlassen. Der Neffe Schirkuhs und sein Nachfolger ist der große Saladin,
der 1171 den Kalifen beseitigte und sich selbst zum Herrn machte.

Bei dem fortschreitenden Verfall des abbcissidischen Kalifats machen sich die
asiatischen Gebiete mehr und mehr unabhängig; die Statthalter bemächtigen
sich der Herrschaft und erkennen den Kalifen nur noch nominell als Oberhaupt
an. Die Bujiden, eine der persischen Lokaldynastien, entkleideten den Kalifen
schließlich ganz der weltlichen Macht, ihre Häupter regierten als erbliche Fürsten
unter Annahme des Titels von Sultanen weiter, während den Kalifen nur die
Würde des geistlichen Oberhauptes blieb. In dieser Stellung lebten die Kalifen
drei Jahrhunderte hindurch unter der wechselnden Herrschaft persischer und tür¬
kischer Emire; als die Mongolen 1258 Bagdad eroberten, wurde der letzte Kauf
hingerichtet. Einige abbassidische Prinzen entkamen nach Ägypten, wo der
Mamelukensultan den einen zum Kalifen machte, um der eignen Herrschaft die
Weihe der Legitimität zu geben. Als dann 1517 die Osmanen Ägypten er¬
oberten, nahmen sie den Kalifen nach Konstantinopel mit. Seitdem führen die
türkischen Sultane den Kalifentitel und vereinen als solche die geistliche und
weltliche Macht wieder in ihrer Hand.

Dies ist in kürzesten Zügen die Geschichte des Kalifats — nicht nur einer
historischen Erscheinung, sondern einer Idee — bis zu seinem Übergang von
den Arabern zu den Türken; es bleiben noch einige Bemerkungen über die
Geschichte der Türken hinzuzufügen.

Wir haben sie schon erwähnt; im zehnten Jahrhundert treten sie in Bagdad
in der Rolle auf, wie die Prätorianer und die germanischen Söldnerscharen in der
spätesten Kaiserzeit zu Rom. Ihr Oberbefehlshaber — der Emir al Omara —
gewinnt mit der Zeit dem Kalifen gegenüber eine Stellung ähnlich der des
Hausmeiers im Reiche der Merowinger. Auf die Analogie mit dem Auftreten
der occidentalischen Normannen hat schon L. von Ranke aufmerksam gemacht.
Aber die Normannen gehen in den ältern Nationalitäten auf, während die
Türken schließlich die Herrschaft ergreifen und behaupten, wie die Germanen
in Rom. Im Jahre 1055 wird der seldschukische Oberbefehlshaber Thogrilbeg
von dem Kalifen zum König des Ostens und Westens ernannt und nennt sich
von da an Sultan; sein Reich erstreckt sich vom Euphrat bis zum Aralsee.
Unter ihm und seinen nächsten tüchtigen Nachfolgern machte sich in dem ver¬
fallenden Kalifate die frische und kriegerische Nationalität der türkischen Stämme
bald geltend und verlieh dem Islam Asiens die Kraft, dem griechischen Kaiser¬
tum und den ägyptischen Fatimiden angriffsweise entgegenzutreten. Im byzan¬
tinischen Reiche hatte im Jahre 1057 die feudale Aristokratie über das zentra¬
lisierende absolutistische Kaisertum gesiegt; unaufhörliche Thronstreitigkeiten haben
seitdem mehr als alles andre die Macht des Reiches untergraben und schließlich
zu seinem Untergange geführt. Das Jahr 1071 ist der Zeitpunkt der ent¬
scheidenden Umwälzung in Kleinasien und Syrien, die diese Länder unter die
Herrschaft der Seldschuken bringt, und von da an beginnt die Vernichtung


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[0382] Islam und Zivilisation überlassen. Der Neffe Schirkuhs und sein Nachfolger ist der große Saladin, der 1171 den Kalifen beseitigte und sich selbst zum Herrn machte. Bei dem fortschreitenden Verfall des abbcissidischen Kalifats machen sich die asiatischen Gebiete mehr und mehr unabhängig; die Statthalter bemächtigen sich der Herrschaft und erkennen den Kalifen nur noch nominell als Oberhaupt an. Die Bujiden, eine der persischen Lokaldynastien, entkleideten den Kalifen schließlich ganz der weltlichen Macht, ihre Häupter regierten als erbliche Fürsten unter Annahme des Titels von Sultanen weiter, während den Kalifen nur die Würde des geistlichen Oberhauptes blieb. In dieser Stellung lebten die Kalifen drei Jahrhunderte hindurch unter der wechselnden Herrschaft persischer und tür¬ kischer Emire; als die Mongolen 1258 Bagdad eroberten, wurde der letzte Kauf hingerichtet. Einige abbassidische Prinzen entkamen nach Ägypten, wo der Mamelukensultan den einen zum Kalifen machte, um der eignen Herrschaft die Weihe der Legitimität zu geben. Als dann 1517 die Osmanen Ägypten er¬ oberten, nahmen sie den Kalifen nach Konstantinopel mit. Seitdem führen die türkischen Sultane den Kalifentitel und vereinen als solche die geistliche und weltliche Macht wieder in ihrer Hand. Dies ist in kürzesten Zügen die Geschichte des Kalifats — nicht nur einer historischen Erscheinung, sondern einer Idee — bis zu seinem Übergang von den Arabern zu den Türken; es bleiben noch einige Bemerkungen über die Geschichte der Türken hinzuzufügen. Wir haben sie schon erwähnt; im zehnten Jahrhundert treten sie in Bagdad in der Rolle auf, wie die Prätorianer und die germanischen Söldnerscharen in der spätesten Kaiserzeit zu Rom. Ihr Oberbefehlshaber — der Emir al Omara — gewinnt mit der Zeit dem Kalifen gegenüber eine Stellung ähnlich der des Hausmeiers im Reiche der Merowinger. Auf die Analogie mit dem Auftreten der occidentalischen Normannen hat schon L. von Ranke aufmerksam gemacht. Aber die Normannen gehen in den ältern Nationalitäten auf, während die Türken schließlich die Herrschaft ergreifen und behaupten, wie die Germanen in Rom. Im Jahre 1055 wird der seldschukische Oberbefehlshaber Thogrilbeg von dem Kalifen zum König des Ostens und Westens ernannt und nennt sich von da an Sultan; sein Reich erstreckt sich vom Euphrat bis zum Aralsee. Unter ihm und seinen nächsten tüchtigen Nachfolgern machte sich in dem ver¬ fallenden Kalifate die frische und kriegerische Nationalität der türkischen Stämme bald geltend und verlieh dem Islam Asiens die Kraft, dem griechischen Kaiser¬ tum und den ägyptischen Fatimiden angriffsweise entgegenzutreten. Im byzan¬ tinischen Reiche hatte im Jahre 1057 die feudale Aristokratie über das zentra¬ lisierende absolutistische Kaisertum gesiegt; unaufhörliche Thronstreitigkeiten haben seitdem mehr als alles andre die Macht des Reiches untergraben und schließlich zu seinem Untergange geführt. Das Jahr 1071 ist der Zeitpunkt der ent¬ scheidenden Umwälzung in Kleinasien und Syrien, die diese Länder unter die Herrschaft der Seldschuken bringt, und von da an beginnt die Vernichtung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/382>, abgerufen am 23.07.2024.