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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fabel vom Untergang des Handwerks

amtlichen Veröffentlichungen werden den Vergleich der Zahlen von 1895 und
1882 hoffentlich auch im einzelnen wesentlich erleichtern.

Daran ist schon nach dem, was jetzt vorliegt, nicht zu zweifeln, daß die
Verkündiger der Lehre vom Untergang des Handwerks nicht weniger wie all
die sensationslustigen Apostel des Dogmas von der völligen Umwälzung der
sozialen Struktur des modernen Erwerbslebens in den Ergebnissen der Bcrufs-
und Gewerbezählung von 1895 ein eiskaltes Sturzbad erhalten haben, das
eine starke Hypnose zu brechen, arge Phantasten zu ernüchtern imstande sein
sollte. Ob es die Träumer selbst aufwecken wird, wer kann das wissen? Aber
es genügt schon, wenn der Nimbus, der sie bisher vor der kritiklosen Masse
der Gebildeten unsrer Tage umgab, abgestreift wird. Das aber gebe der
Himmel!

Vor zwanzig Jahren ist die Jnnungsbewegung verdorben worden durch
die wirtschaftliche Reaktion mit der Parole, man könne dem Handwerksmeister
nicht zumuten, seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit gegen Lehrling, Gesellen,
das Handwerk und die Kundschaft zu thun, wenn man ihm nicht durch nutz¬
bringende Privilegien Geschäftsgewinne wenigstens vorgaukle. Zu dieser Zeit
hoffte ich, beim deutschen Handwerk werde das damals wieder auflebende
Verständnis von Bestand sein, daß die Rückkehr des Einzelnen zu seiner per¬
sönlichen Pflichterfüllung das Haupstück sei, auf das es ankomme, wenn dem
Handwerk im ganzen geholfen werden solle, und daß ohne Rückkehr des Einzelnen
zur Pflicht alle Zwangsorganisationen und nutzbringenden Privilegien keinen
Pfifferling wert seien. Nichts hat das Wiedererwachen des Pflichtbewußtseins
bei den Handwerksmeistern mehr vereitelt, als die unglückselige Lehre: Laßt
alle Hoffnung fahren, die moderne Wirtschaftsordnung hat keinen Platz mehr
für euch! Möchte auch in dieser Beziehung die Statistik mit ihrem kalten
Wasserstrahl die giftigen Nebel zerstreuen. Aber die sündhafte Übertreibung der
unüberwindbaren Macht der neuen Verhältnisse hat mehr als alles andre auch
die Rückkehr zur sozialen Pflichterfüllung bei den Einzelnen überhaupt ver¬
hindert, den Wahn, daß der Staat, das organisierte Ganze, jetzt die Pflichten
des Einzelnen zu übernehmen habe, erzeugt und großgezogen. Das ist die
Lüge, an der unsre Entwicklung krankt, die unsre Zukunft bedroht. Die
Wahrheit führt nicht zum Umsturz, wenn man sie nur sprechen läßt. Und
die Statistik ist die Wahrheit über unser gesellschaftliches Leben. Sie mund¬
tot machen ist die größte staatsmännische Sünde und Dummheit.




Die Fabel vom Untergang des Handwerks

amtlichen Veröffentlichungen werden den Vergleich der Zahlen von 1895 und
1882 hoffentlich auch im einzelnen wesentlich erleichtern.

Daran ist schon nach dem, was jetzt vorliegt, nicht zu zweifeln, daß die
Verkündiger der Lehre vom Untergang des Handwerks nicht weniger wie all
die sensationslustigen Apostel des Dogmas von der völligen Umwälzung der
sozialen Struktur des modernen Erwerbslebens in den Ergebnissen der Bcrufs-
und Gewerbezählung von 1895 ein eiskaltes Sturzbad erhalten haben, das
eine starke Hypnose zu brechen, arge Phantasten zu ernüchtern imstande sein
sollte. Ob es die Träumer selbst aufwecken wird, wer kann das wissen? Aber
es genügt schon, wenn der Nimbus, der sie bisher vor der kritiklosen Masse
der Gebildeten unsrer Tage umgab, abgestreift wird. Das aber gebe der
Himmel!

Vor zwanzig Jahren ist die Jnnungsbewegung verdorben worden durch
die wirtschaftliche Reaktion mit der Parole, man könne dem Handwerksmeister
nicht zumuten, seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit gegen Lehrling, Gesellen,
das Handwerk und die Kundschaft zu thun, wenn man ihm nicht durch nutz¬
bringende Privilegien Geschäftsgewinne wenigstens vorgaukle. Zu dieser Zeit
hoffte ich, beim deutschen Handwerk werde das damals wieder auflebende
Verständnis von Bestand sein, daß die Rückkehr des Einzelnen zu seiner per¬
sönlichen Pflichterfüllung das Haupstück sei, auf das es ankomme, wenn dem
Handwerk im ganzen geholfen werden solle, und daß ohne Rückkehr des Einzelnen
zur Pflicht alle Zwangsorganisationen und nutzbringenden Privilegien keinen
Pfifferling wert seien. Nichts hat das Wiedererwachen des Pflichtbewußtseins
bei den Handwerksmeistern mehr vereitelt, als die unglückselige Lehre: Laßt
alle Hoffnung fahren, die moderne Wirtschaftsordnung hat keinen Platz mehr
für euch! Möchte auch in dieser Beziehung die Statistik mit ihrem kalten
Wasserstrahl die giftigen Nebel zerstreuen. Aber die sündhafte Übertreibung der
unüberwindbaren Macht der neuen Verhältnisse hat mehr als alles andre auch
die Rückkehr zur sozialen Pflichterfüllung bei den Einzelnen überhaupt ver¬
hindert, den Wahn, daß der Staat, das organisierte Ganze, jetzt die Pflichten
des Einzelnen zu übernehmen habe, erzeugt und großgezogen. Das ist die
Lüge, an der unsre Entwicklung krankt, die unsre Zukunft bedroht. Die
Wahrheit führt nicht zum Umsturz, wenn man sie nur sprechen läßt. Und
die Statistik ist die Wahrheit über unser gesellschaftliches Leben. Sie mund¬
tot machen ist die größte staatsmännische Sünde und Dummheit.




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[0250] Die Fabel vom Untergang des Handwerks amtlichen Veröffentlichungen werden den Vergleich der Zahlen von 1895 und 1882 hoffentlich auch im einzelnen wesentlich erleichtern. Daran ist schon nach dem, was jetzt vorliegt, nicht zu zweifeln, daß die Verkündiger der Lehre vom Untergang des Handwerks nicht weniger wie all die sensationslustigen Apostel des Dogmas von der völligen Umwälzung der sozialen Struktur des modernen Erwerbslebens in den Ergebnissen der Bcrufs- und Gewerbezählung von 1895 ein eiskaltes Sturzbad erhalten haben, das eine starke Hypnose zu brechen, arge Phantasten zu ernüchtern imstande sein sollte. Ob es die Träumer selbst aufwecken wird, wer kann das wissen? Aber es genügt schon, wenn der Nimbus, der sie bisher vor der kritiklosen Masse der Gebildeten unsrer Tage umgab, abgestreift wird. Das aber gebe der Himmel! Vor zwanzig Jahren ist die Jnnungsbewegung verdorben worden durch die wirtschaftliche Reaktion mit der Parole, man könne dem Handwerksmeister nicht zumuten, seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit gegen Lehrling, Gesellen, das Handwerk und die Kundschaft zu thun, wenn man ihm nicht durch nutz¬ bringende Privilegien Geschäftsgewinne wenigstens vorgaukle. Zu dieser Zeit hoffte ich, beim deutschen Handwerk werde das damals wieder auflebende Verständnis von Bestand sein, daß die Rückkehr des Einzelnen zu seiner per¬ sönlichen Pflichterfüllung das Haupstück sei, auf das es ankomme, wenn dem Handwerk im ganzen geholfen werden solle, und daß ohne Rückkehr des Einzelnen zur Pflicht alle Zwangsorganisationen und nutzbringenden Privilegien keinen Pfifferling wert seien. Nichts hat das Wiedererwachen des Pflichtbewußtseins bei den Handwerksmeistern mehr vereitelt, als die unglückselige Lehre: Laßt alle Hoffnung fahren, die moderne Wirtschaftsordnung hat keinen Platz mehr für euch! Möchte auch in dieser Beziehung die Statistik mit ihrem kalten Wasserstrahl die giftigen Nebel zerstreuen. Aber die sündhafte Übertreibung der unüberwindbaren Macht der neuen Verhältnisse hat mehr als alles andre auch die Rückkehr zur sozialen Pflichterfüllung bei den Einzelnen überhaupt ver¬ hindert, den Wahn, daß der Staat, das organisierte Ganze, jetzt die Pflichten des Einzelnen zu übernehmen habe, erzeugt und großgezogen. Das ist die Lüge, an der unsre Entwicklung krankt, die unsre Zukunft bedroht. Die Wahrheit führt nicht zum Umsturz, wenn man sie nur sprechen läßt. Und die Statistik ist die Wahrheit über unser gesellschaftliches Leben. Sie mund¬ tot machen ist die größte staatsmännische Sünde und Dummheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/250>, abgerufen am 23.07.2024.