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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Bis litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert

Schriftsteller, die zu großem Ansehen gelangten, in der Regel von den Zeit¬
genossen nur einmal*) gelesen und dann für immer beiseite gelegt, von den
nachfolgenden Geschlechtern aber selten wieder aufgenommen wurden. Daher
haben die sinnvollsten und lehrreichsten Dichtungen nur eine geringfügige, jeden¬
falls eine sehr vorübergehende Wirkung auf die nationale Bildung geäußert,
und die historischen Vorurteile, die Lessing vor hundert Jahren aus dem Ge¬
biete der Geschichte hinwegzuräumen bemüht war, behaupten noch heute bei
einem großen Teile der Nation, auch dem gebildeten und belesenen Publikum,
ihre Geltung. Die meisten deutschen Fürsten**) erwiesen der deutschen Litte¬
ratur keine Förderung, und an dem Kaisersitze und bei den katholischen Höfen
war für eine vom protestantischen Norddeutschland ausgehende Geistesregung
noch weniger zu erwarten. Erst in den Tagen, wo die Existenz des Reiches
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Spiele stand, waren Poesie
und Philosophie die Zielpunkte des nationalen Strebens der Deutschen, er¬
regten die Dichtungen, mit denen Goethe und Schiller das Jahrhundert be¬
glückten, die humoristischen Romane des genialen Bayreuthers Jean Paul
Friedrich Richter so sehr die öffentliche Teilnahme, daß selbst hervorragende
politische Ereignisse in den Hintergrund traten. Was nun insbesondre das
geistige Leben am Rhein im vorigen Jahrhundert anbetrifft, so ist es vielfach
durch geschickte Gruppierung vereinzelter Thatsachen als ein vollständiges Nacht¬
gemälde ohne jeden Strahl erwärmenden Lichts dargestellt worden. Es soll
daher unsre Aufgabe sein, in kurzen Zügen ein objektives Bild von dem da¬
maligen geistigen Leben aufzurollen.

Am Rhein gab es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vornehmlich
vier Städte, Köln, Düsseldorf, Koblenz und Bonn, in denen die Kunst und
die Wissenschaft gepflegt wurden. In der kurpfälzischen Residenz der Herzöge
von Berg, in Düsseldorf, war es der Landesherr, der dort im Einvernehmen
mit den Ständen die berühmte Gemäldegalerie anlegte, die noch heute der
Grundstock zu der Münchner Pinakothek ist. Düsseldorf, die sinnige Kunst¬
stadt, hat uns schon im vorigen Jahrhundert eine Reihe unsrer besten Dichter
gegeben, Johann Georg Jacobi, den Freund Gleims, dessen Bruder Friedrich
Heinrich Jacobi, den Freund Goethes, Varnhagen von Ense, Immermann und
Heinrich Heine, der sich zwar in seiner Selbstbiographie als "einen der ersten
Männer des Jahrhunderts" bezeichnet, den wir aber mit Rücksicht auf sein
Geburtsjahr 1797 noch ins achtzehnte Jahrhundert nehmen müssen. Immer¬
mann stammt zwar nicht aus Düsseldorf, aber sein Name ist mit dem geistigen




*) Auch heute kann man von den Deutschen, dem Volke der Dichter und Denker, leider
nur sagen, daß sie das schreibseligste aber nicht das lesefleißigste Volk sind.
Während Friedrich II. in Berlin den Grundsätzen Voltaires huldigte, war Kaiser
Joseph II. ein Verehrer und Bewunderer Rousseaus, den er sogar in Paris in dessen Dach¬
stübchen aufsuchte.
Bis litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert

Schriftsteller, die zu großem Ansehen gelangten, in der Regel von den Zeit¬
genossen nur einmal*) gelesen und dann für immer beiseite gelegt, von den
nachfolgenden Geschlechtern aber selten wieder aufgenommen wurden. Daher
haben die sinnvollsten und lehrreichsten Dichtungen nur eine geringfügige, jeden¬
falls eine sehr vorübergehende Wirkung auf die nationale Bildung geäußert,
und die historischen Vorurteile, die Lessing vor hundert Jahren aus dem Ge¬
biete der Geschichte hinwegzuräumen bemüht war, behaupten noch heute bei
einem großen Teile der Nation, auch dem gebildeten und belesenen Publikum,
ihre Geltung. Die meisten deutschen Fürsten**) erwiesen der deutschen Litte¬
ratur keine Förderung, und an dem Kaisersitze und bei den katholischen Höfen
war für eine vom protestantischen Norddeutschland ausgehende Geistesregung
noch weniger zu erwarten. Erst in den Tagen, wo die Existenz des Reiches
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Spiele stand, waren Poesie
und Philosophie die Zielpunkte des nationalen Strebens der Deutschen, er¬
regten die Dichtungen, mit denen Goethe und Schiller das Jahrhundert be¬
glückten, die humoristischen Romane des genialen Bayreuthers Jean Paul
Friedrich Richter so sehr die öffentliche Teilnahme, daß selbst hervorragende
politische Ereignisse in den Hintergrund traten. Was nun insbesondre das
geistige Leben am Rhein im vorigen Jahrhundert anbetrifft, so ist es vielfach
durch geschickte Gruppierung vereinzelter Thatsachen als ein vollständiges Nacht¬
gemälde ohne jeden Strahl erwärmenden Lichts dargestellt worden. Es soll
daher unsre Aufgabe sein, in kurzen Zügen ein objektives Bild von dem da¬
maligen geistigen Leben aufzurollen.

Am Rhein gab es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vornehmlich
vier Städte, Köln, Düsseldorf, Koblenz und Bonn, in denen die Kunst und
die Wissenschaft gepflegt wurden. In der kurpfälzischen Residenz der Herzöge
von Berg, in Düsseldorf, war es der Landesherr, der dort im Einvernehmen
mit den Ständen die berühmte Gemäldegalerie anlegte, die noch heute der
Grundstock zu der Münchner Pinakothek ist. Düsseldorf, die sinnige Kunst¬
stadt, hat uns schon im vorigen Jahrhundert eine Reihe unsrer besten Dichter
gegeben, Johann Georg Jacobi, den Freund Gleims, dessen Bruder Friedrich
Heinrich Jacobi, den Freund Goethes, Varnhagen von Ense, Immermann und
Heinrich Heine, der sich zwar in seiner Selbstbiographie als „einen der ersten
Männer des Jahrhunderts" bezeichnet, den wir aber mit Rücksicht auf sein
Geburtsjahr 1797 noch ins achtzehnte Jahrhundert nehmen müssen. Immer¬
mann stammt zwar nicht aus Düsseldorf, aber sein Name ist mit dem geistigen




*) Auch heute kann man von den Deutschen, dem Volke der Dichter und Denker, leider
nur sagen, daß sie das schreibseligste aber nicht das lesefleißigste Volk sind.
Während Friedrich II. in Berlin den Grundsätzen Voltaires huldigte, war Kaiser
Joseph II. ein Verehrer und Bewunderer Rousseaus, den er sogar in Paris in dessen Dach¬
stübchen aufsuchte.
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[0218] Bis litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert Schriftsteller, die zu großem Ansehen gelangten, in der Regel von den Zeit¬ genossen nur einmal*) gelesen und dann für immer beiseite gelegt, von den nachfolgenden Geschlechtern aber selten wieder aufgenommen wurden. Daher haben die sinnvollsten und lehrreichsten Dichtungen nur eine geringfügige, jeden¬ falls eine sehr vorübergehende Wirkung auf die nationale Bildung geäußert, und die historischen Vorurteile, die Lessing vor hundert Jahren aus dem Ge¬ biete der Geschichte hinwegzuräumen bemüht war, behaupten noch heute bei einem großen Teile der Nation, auch dem gebildeten und belesenen Publikum, ihre Geltung. Die meisten deutschen Fürsten**) erwiesen der deutschen Litte¬ ratur keine Förderung, und an dem Kaisersitze und bei den katholischen Höfen war für eine vom protestantischen Norddeutschland ausgehende Geistesregung noch weniger zu erwarten. Erst in den Tagen, wo die Existenz des Reiches am Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Spiele stand, waren Poesie und Philosophie die Zielpunkte des nationalen Strebens der Deutschen, er¬ regten die Dichtungen, mit denen Goethe und Schiller das Jahrhundert be¬ glückten, die humoristischen Romane des genialen Bayreuthers Jean Paul Friedrich Richter so sehr die öffentliche Teilnahme, daß selbst hervorragende politische Ereignisse in den Hintergrund traten. Was nun insbesondre das geistige Leben am Rhein im vorigen Jahrhundert anbetrifft, so ist es vielfach durch geschickte Gruppierung vereinzelter Thatsachen als ein vollständiges Nacht¬ gemälde ohne jeden Strahl erwärmenden Lichts dargestellt worden. Es soll daher unsre Aufgabe sein, in kurzen Zügen ein objektives Bild von dem da¬ maligen geistigen Leben aufzurollen. Am Rhein gab es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vornehmlich vier Städte, Köln, Düsseldorf, Koblenz und Bonn, in denen die Kunst und die Wissenschaft gepflegt wurden. In der kurpfälzischen Residenz der Herzöge von Berg, in Düsseldorf, war es der Landesherr, der dort im Einvernehmen mit den Ständen die berühmte Gemäldegalerie anlegte, die noch heute der Grundstock zu der Münchner Pinakothek ist. Düsseldorf, die sinnige Kunst¬ stadt, hat uns schon im vorigen Jahrhundert eine Reihe unsrer besten Dichter gegeben, Johann Georg Jacobi, den Freund Gleims, dessen Bruder Friedrich Heinrich Jacobi, den Freund Goethes, Varnhagen von Ense, Immermann und Heinrich Heine, der sich zwar in seiner Selbstbiographie als „einen der ersten Männer des Jahrhunderts" bezeichnet, den wir aber mit Rücksicht auf sein Geburtsjahr 1797 noch ins achtzehnte Jahrhundert nehmen müssen. Immer¬ mann stammt zwar nicht aus Düsseldorf, aber sein Name ist mit dem geistigen *) Auch heute kann man von den Deutschen, dem Volke der Dichter und Denker, leider nur sagen, daß sie das schreibseligste aber nicht das lesefleißigste Volk sind. Während Friedrich II. in Berlin den Grundsätzen Voltaires huldigte, war Kaiser Joseph II. ein Verehrer und Bewunderer Rousseaus, den er sogar in Paris in dessen Dach¬ stübchen aufsuchte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/218>, abgerufen am 03.07.2024.