Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert

mehr habe umwandeln können. Dieses Geschlecht mußte verschwinden, wenn
es in Deutschland besser werden sollte." Hüffer hat damals dem Kritikus
gründlich heimgeleuchtet (vgl. Heft 27 a. a. O., S. 448) und betont, daß sich
in Wahrheit neben den abgestorbnen staatsrechtlichen Formen ein reicher Schatz
von künstlerischer Befähigung und gelehrten Kenntnissen erhalten hatte, be¬
sonders in den mittlern Ständen. Wäre es anders gewesen, so würde der
gewaltige Anstoß von außen die Zerstörung, nicht die Neugestaltung und
Kräftigung unsers Vaterlandes herbeigeführt haben.

Die folgenden Ausführungen werden hoffentlich genügendes Material
zur Beantwortung der uns gestellten Aufgabe bringen, um auch die letzten
Schatten einer voreingenommenen und geschichtsfälschenden Beurteilung des
Bildungsgrades unsrer Vorväter am Rhein im achtzehnten Jahrhundert zu
vertreiben und das Märchen von dem obskuranten Rhein ein für allemal
energisch zurückzuweisen.

Die deutsche Litteratur erfuhr in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts einen mächtigen Umschwung. Hochbegabte Männer der verschiedensten
Richtung schlugen neue Bahnen ein und erreichten teils durch die Zerstörung
und Bekämpfung verjährter Irrtümer, Vorurteile und falscher Ansichten, teils
durch geniale Schöpfungen eine Höhe der Bildung, wie sie in der neuern
Geschichte kaum ihresgleichen hatte. Den größten Aufschwung nahmen die
Dichtung und der Kunstgeschmack, sodaß die poetische Bildung jeder andern
den Vorrang abgewann, daß Philosophie und Religion im Bunde mit der
Dichtkunst standen, daß Phantasie und Gefühl auch auf das Gebiet der Wissen¬
schaft hinübergetragen wurde. Die größten und edelsten Geister der Nation
wandte" der Dichtkunst ihre Talente zu. Die litterarische Bildung war vor
einem Jahrhundert weiter entwickelt und stand höher im Preise als heute, wo
Politik und Naturwissenschaften mit ihren fortwährenden Überraschungen und
neuen Entdeckungen das Interesse der Zeitgenossen vorwiegend beschäftigen.

Das gemeinsame Band für die geistigen Bestrebungen war damals vor¬
wiegend die litterarische Bildung. Sprachforscher wie Wilhelm von Humboldt,
Naturforscher wie Alexander von Humboldt waren mit unsern großen Dichtern
aufs engste verbunden; die Vertreter der Philosophie gingen mit den Heroen der
Dichtung Hand in Hand. Während Goethe auch als Naturforscher Entdeckungen
machte und wissenschaftliche Theorien aufstellte, die damals, wenn auch viel
umstritten, großes Aufsehen erregten, lebt Schiller nicht nur als Dichter,
sondern auch als Denker in unsrer Nationallitteratur fort. Mau denke ferner
an den Physiker Lichtenberg, an den Philosophen Herder und andre Größen,
in deren Schriften und Gedanken Wissenschaft und Dichtkunst Hemd in Hand
gehn. Selbst die strengern Fachmänner schlossen sich nicht von den schön-
wisfenschaftlichen Bestrebungen der damaligen Zeit ab. Aber auch schon damals
haftete dem deutschen Schriftwesen der Fluch an, daß Bücher auch solcher


Grenzboten I 1899 27
Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert

mehr habe umwandeln können. Dieses Geschlecht mußte verschwinden, wenn
es in Deutschland besser werden sollte." Hüffer hat damals dem Kritikus
gründlich heimgeleuchtet (vgl. Heft 27 a. a. O., S. 448) und betont, daß sich
in Wahrheit neben den abgestorbnen staatsrechtlichen Formen ein reicher Schatz
von künstlerischer Befähigung und gelehrten Kenntnissen erhalten hatte, be¬
sonders in den mittlern Ständen. Wäre es anders gewesen, so würde der
gewaltige Anstoß von außen die Zerstörung, nicht die Neugestaltung und
Kräftigung unsers Vaterlandes herbeigeführt haben.

Die folgenden Ausführungen werden hoffentlich genügendes Material
zur Beantwortung der uns gestellten Aufgabe bringen, um auch die letzten
Schatten einer voreingenommenen und geschichtsfälschenden Beurteilung des
Bildungsgrades unsrer Vorväter am Rhein im achtzehnten Jahrhundert zu
vertreiben und das Märchen von dem obskuranten Rhein ein für allemal
energisch zurückzuweisen.

Die deutsche Litteratur erfuhr in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts einen mächtigen Umschwung. Hochbegabte Männer der verschiedensten
Richtung schlugen neue Bahnen ein und erreichten teils durch die Zerstörung
und Bekämpfung verjährter Irrtümer, Vorurteile und falscher Ansichten, teils
durch geniale Schöpfungen eine Höhe der Bildung, wie sie in der neuern
Geschichte kaum ihresgleichen hatte. Den größten Aufschwung nahmen die
Dichtung und der Kunstgeschmack, sodaß die poetische Bildung jeder andern
den Vorrang abgewann, daß Philosophie und Religion im Bunde mit der
Dichtkunst standen, daß Phantasie und Gefühl auch auf das Gebiet der Wissen¬
schaft hinübergetragen wurde. Die größten und edelsten Geister der Nation
wandte» der Dichtkunst ihre Talente zu. Die litterarische Bildung war vor
einem Jahrhundert weiter entwickelt und stand höher im Preise als heute, wo
Politik und Naturwissenschaften mit ihren fortwährenden Überraschungen und
neuen Entdeckungen das Interesse der Zeitgenossen vorwiegend beschäftigen.

Das gemeinsame Band für die geistigen Bestrebungen war damals vor¬
wiegend die litterarische Bildung. Sprachforscher wie Wilhelm von Humboldt,
Naturforscher wie Alexander von Humboldt waren mit unsern großen Dichtern
aufs engste verbunden; die Vertreter der Philosophie gingen mit den Heroen der
Dichtung Hand in Hand. Während Goethe auch als Naturforscher Entdeckungen
machte und wissenschaftliche Theorien aufstellte, die damals, wenn auch viel
umstritten, großes Aufsehen erregten, lebt Schiller nicht nur als Dichter,
sondern auch als Denker in unsrer Nationallitteratur fort. Mau denke ferner
an den Physiker Lichtenberg, an den Philosophen Herder und andre Größen,
in deren Schriften und Gedanken Wissenschaft und Dichtkunst Hemd in Hand
gehn. Selbst die strengern Fachmänner schlossen sich nicht von den schön-
wisfenschaftlichen Bestrebungen der damaligen Zeit ab. Aber auch schon damals
haftete dem deutschen Schriftwesen der Fluch an, daß Bücher auch solcher


Grenzboten I 1899 27
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229903"/>
          <fw type="header" place="top"> Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_878" prev="#ID_877"> mehr habe umwandeln können. Dieses Geschlecht mußte verschwinden, wenn<lb/>
es in Deutschland besser werden sollte." Hüffer hat damals dem Kritikus<lb/>
gründlich heimgeleuchtet (vgl. Heft 27 a. a. O., S. 448) und betont, daß sich<lb/>
in Wahrheit neben den abgestorbnen staatsrechtlichen Formen ein reicher Schatz<lb/>
von künstlerischer Befähigung und gelehrten Kenntnissen erhalten hatte, be¬<lb/>
sonders in den mittlern Ständen. Wäre es anders gewesen, so würde der<lb/>
gewaltige Anstoß von außen die Zerstörung, nicht die Neugestaltung und<lb/>
Kräftigung unsers Vaterlandes herbeigeführt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_879"> Die folgenden Ausführungen werden hoffentlich genügendes Material<lb/>
zur Beantwortung der uns gestellten Aufgabe bringen, um auch die letzten<lb/>
Schatten einer voreingenommenen und geschichtsfälschenden Beurteilung des<lb/>
Bildungsgrades unsrer Vorväter am Rhein im achtzehnten Jahrhundert zu<lb/>
vertreiben und das Märchen von dem obskuranten Rhein ein für allemal<lb/>
energisch zurückzuweisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_880"> Die deutsche Litteratur erfuhr in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts einen mächtigen Umschwung. Hochbegabte Männer der verschiedensten<lb/>
Richtung schlugen neue Bahnen ein und erreichten teils durch die Zerstörung<lb/>
und Bekämpfung verjährter Irrtümer, Vorurteile und falscher Ansichten, teils<lb/>
durch geniale Schöpfungen eine Höhe der Bildung, wie sie in der neuern<lb/>
Geschichte kaum ihresgleichen hatte. Den größten Aufschwung nahmen die<lb/>
Dichtung und der Kunstgeschmack, sodaß die poetische Bildung jeder andern<lb/>
den Vorrang abgewann, daß Philosophie und Religion im Bunde mit der<lb/>
Dichtkunst standen, daß Phantasie und Gefühl auch auf das Gebiet der Wissen¬<lb/>
schaft hinübergetragen wurde. Die größten und edelsten Geister der Nation<lb/>
wandte» der Dichtkunst ihre Talente zu. Die litterarische Bildung war vor<lb/>
einem Jahrhundert weiter entwickelt und stand höher im Preise als heute, wo<lb/>
Politik und Naturwissenschaften mit ihren fortwährenden Überraschungen und<lb/>
neuen Entdeckungen das Interesse der Zeitgenossen vorwiegend beschäftigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_881" next="#ID_882"> Das gemeinsame Band für die geistigen Bestrebungen war damals vor¬<lb/>
wiegend die litterarische Bildung. Sprachforscher wie Wilhelm von Humboldt,<lb/>
Naturforscher wie Alexander von Humboldt waren mit unsern großen Dichtern<lb/>
aufs engste verbunden; die Vertreter der Philosophie gingen mit den Heroen der<lb/>
Dichtung Hand in Hand. Während Goethe auch als Naturforscher Entdeckungen<lb/>
machte und wissenschaftliche Theorien aufstellte, die damals, wenn auch viel<lb/>
umstritten, großes Aufsehen erregten, lebt Schiller nicht nur als Dichter,<lb/>
sondern auch als Denker in unsrer Nationallitteratur fort. Mau denke ferner<lb/>
an den Physiker Lichtenberg, an den Philosophen Herder und andre Größen,<lb/>
in deren Schriften und Gedanken Wissenschaft und Dichtkunst Hemd in Hand<lb/>
gehn. Selbst die strengern Fachmänner schlossen sich nicht von den schön-<lb/>
wisfenschaftlichen Bestrebungen der damaligen Zeit ab. Aber auch schon damals<lb/>
haftete dem deutschen Schriftwesen der Fluch an, daß Bücher auch solcher</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1899 27</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0217] Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert mehr habe umwandeln können. Dieses Geschlecht mußte verschwinden, wenn es in Deutschland besser werden sollte." Hüffer hat damals dem Kritikus gründlich heimgeleuchtet (vgl. Heft 27 a. a. O., S. 448) und betont, daß sich in Wahrheit neben den abgestorbnen staatsrechtlichen Formen ein reicher Schatz von künstlerischer Befähigung und gelehrten Kenntnissen erhalten hatte, be¬ sonders in den mittlern Ständen. Wäre es anders gewesen, so würde der gewaltige Anstoß von außen die Zerstörung, nicht die Neugestaltung und Kräftigung unsers Vaterlandes herbeigeführt haben. Die folgenden Ausführungen werden hoffentlich genügendes Material zur Beantwortung der uns gestellten Aufgabe bringen, um auch die letzten Schatten einer voreingenommenen und geschichtsfälschenden Beurteilung des Bildungsgrades unsrer Vorväter am Rhein im achtzehnten Jahrhundert zu vertreiben und das Märchen von dem obskuranten Rhein ein für allemal energisch zurückzuweisen. Die deutsche Litteratur erfuhr in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬ hunderts einen mächtigen Umschwung. Hochbegabte Männer der verschiedensten Richtung schlugen neue Bahnen ein und erreichten teils durch die Zerstörung und Bekämpfung verjährter Irrtümer, Vorurteile und falscher Ansichten, teils durch geniale Schöpfungen eine Höhe der Bildung, wie sie in der neuern Geschichte kaum ihresgleichen hatte. Den größten Aufschwung nahmen die Dichtung und der Kunstgeschmack, sodaß die poetische Bildung jeder andern den Vorrang abgewann, daß Philosophie und Religion im Bunde mit der Dichtkunst standen, daß Phantasie und Gefühl auch auf das Gebiet der Wissen¬ schaft hinübergetragen wurde. Die größten und edelsten Geister der Nation wandte» der Dichtkunst ihre Talente zu. Die litterarische Bildung war vor einem Jahrhundert weiter entwickelt und stand höher im Preise als heute, wo Politik und Naturwissenschaften mit ihren fortwährenden Überraschungen und neuen Entdeckungen das Interesse der Zeitgenossen vorwiegend beschäftigen. Das gemeinsame Band für die geistigen Bestrebungen war damals vor¬ wiegend die litterarische Bildung. Sprachforscher wie Wilhelm von Humboldt, Naturforscher wie Alexander von Humboldt waren mit unsern großen Dichtern aufs engste verbunden; die Vertreter der Philosophie gingen mit den Heroen der Dichtung Hand in Hand. Während Goethe auch als Naturforscher Entdeckungen machte und wissenschaftliche Theorien aufstellte, die damals, wenn auch viel umstritten, großes Aufsehen erregten, lebt Schiller nicht nur als Dichter, sondern auch als Denker in unsrer Nationallitteratur fort. Mau denke ferner an den Physiker Lichtenberg, an den Philosophen Herder und andre Größen, in deren Schriften und Gedanken Wissenschaft und Dichtkunst Hemd in Hand gehn. Selbst die strengern Fachmänner schlossen sich nicht von den schön- wisfenschaftlichen Bestrebungen der damaligen Zeit ab. Aber auch schon damals haftete dem deutschen Schriftwesen der Fluch an, daß Bücher auch solcher Grenzboten I 1899 27

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/217
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/217>, abgerufen am 23.07.2024.