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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

nicht ein Finanzminister, sondern ein Minister des Äußern faßt. Die politische
Machtstellung hat hier den Ausschlag gegeben. Ohne Zweifel wird es Rußland
möglich sein, nach dem Bau der Bahn eine Stellung in China und Zentral¬
asien einzunehmen, der England unter den heutigen Verhältnissen schwerlich das
Gegengewicht wird halten können. Aber ich wüßte nicht, womit die ungeheuern
Kosten, die die Erwerbung und Erhaltung solcher Stellung Rußland auferlegen,
gedeckt werden könnten, wenn man nicht etwa politische Macht und politischen
Ruhm an sich gegen Millionen in gutem Golde in Tausch nehmen will. Der
Stille Ozean ist kein günstiges Gefechtsfeld in einem Kampf mit England; die
Stellung dort bietet eher einen neuen und gefährlichen Posten dem Angriffe
Englands dar. Dem verwundbarsten Punkte Englands nahe zu kommen, ge¬
nügte die Bahn über Merw nach Kuschk, die im Dezember 1398 eröffnet
worden ist.

So gehören, wie ich glaube, die großen Erfolge, die Rußland im Osten
davon getragen hat, wiederum, wie die von 1877, weit mehr in das Gebiet der
rein staatlichen Mnchtpolitik, als in das des Nutzens für die Wirtschaft und die
Kultur des russischen Volks. Diese Unternehmungen sind Tratten auf zu weite
Sicht für ein Volk, das heute nach Brot und Geld verlangt, für ein Volk, dessen
Eintritt in moderne industrielle Wirtschaft vielleicht etwas verfrüht war angesichts
einer Landwirtschaft, die im ganzen noch auf der untersten Stufe der Technik steht,
und einer Manufaktur, die nur sorgsam gepflegt zu werden brauchte, um sich
reich zu entfalten und allmählich die natürliche Unterlage für den Großbetrieb
zu werden. Auch die etwas gewaltsam gezüchtete Industrie gehört zu den
Dingen in Nußland, die nur zum Teil von den natürlichen Kräften des Landes
und Volkes, zum andern Teil von den bedenklichen Ehrenpflichten hervor¬
getrieben werden, die ein Staat im Bewußtsein der Großmacht sich und seinem
Volke gelegentlich auferlegt. Wie so oft und mit so schlimmen Folgen, vergißt
man auch in dieser Sache wieder, daß große staatliche Machtstellung den Vorzug
nicht auszugleichen vermag, der sich aus der Schulung und Arbeit von Jahr¬
hunderten zu Gunsten des einen Volkes gegenüber einem andern, wenn auch
hoch begabten ergiebt, das erst im Beginn seiner Schulzeit ist.

Aus Rußland kommen böse Gerüchte herüber. Als zu Anfang des letzten
Sommers die Presse von bevorstehender Not in einigen östlichen Gubernien
zu erzählen begann, erklärte die Regierung, dem sei nicht so. Nachher fand
sie doch, daß vier, fünf oder sechs Gubernien von einem Mißwachs bedroht
seien. Jetzt will man wissen, daß viele Millionen Menschen dem Hunger ent¬
gegengehn. Das Note Kreuz ist von der Regierung mit der Aufgabe betraut
worden, den Kampf gegen den Hunger zu leiten. Diese Gesellschaft hat in
neun Gubernien von ungeheurer Ausdehnung ihre Thätigkeit begonnen. In
derselben Zeitungsnummer aber (Ur. 349 der Se. Petersburger Zeitung), in
der das Rote Kreuz seinen ersten Bericht veröffentlicht, lesen wir ein paar


Politik und Finanzen in Rußland

nicht ein Finanzminister, sondern ein Minister des Äußern faßt. Die politische
Machtstellung hat hier den Ausschlag gegeben. Ohne Zweifel wird es Rußland
möglich sein, nach dem Bau der Bahn eine Stellung in China und Zentral¬
asien einzunehmen, der England unter den heutigen Verhältnissen schwerlich das
Gegengewicht wird halten können. Aber ich wüßte nicht, womit die ungeheuern
Kosten, die die Erwerbung und Erhaltung solcher Stellung Rußland auferlegen,
gedeckt werden könnten, wenn man nicht etwa politische Macht und politischen
Ruhm an sich gegen Millionen in gutem Golde in Tausch nehmen will. Der
Stille Ozean ist kein günstiges Gefechtsfeld in einem Kampf mit England; die
Stellung dort bietet eher einen neuen und gefährlichen Posten dem Angriffe
Englands dar. Dem verwundbarsten Punkte Englands nahe zu kommen, ge¬
nügte die Bahn über Merw nach Kuschk, die im Dezember 1398 eröffnet
worden ist.

So gehören, wie ich glaube, die großen Erfolge, die Rußland im Osten
davon getragen hat, wiederum, wie die von 1877, weit mehr in das Gebiet der
rein staatlichen Mnchtpolitik, als in das des Nutzens für die Wirtschaft und die
Kultur des russischen Volks. Diese Unternehmungen sind Tratten auf zu weite
Sicht für ein Volk, das heute nach Brot und Geld verlangt, für ein Volk, dessen
Eintritt in moderne industrielle Wirtschaft vielleicht etwas verfrüht war angesichts
einer Landwirtschaft, die im ganzen noch auf der untersten Stufe der Technik steht,
und einer Manufaktur, die nur sorgsam gepflegt zu werden brauchte, um sich
reich zu entfalten und allmählich die natürliche Unterlage für den Großbetrieb
zu werden. Auch die etwas gewaltsam gezüchtete Industrie gehört zu den
Dingen in Nußland, die nur zum Teil von den natürlichen Kräften des Landes
und Volkes, zum andern Teil von den bedenklichen Ehrenpflichten hervor¬
getrieben werden, die ein Staat im Bewußtsein der Großmacht sich und seinem
Volke gelegentlich auferlegt. Wie so oft und mit so schlimmen Folgen, vergißt
man auch in dieser Sache wieder, daß große staatliche Machtstellung den Vorzug
nicht auszugleichen vermag, der sich aus der Schulung und Arbeit von Jahr¬
hunderten zu Gunsten des einen Volkes gegenüber einem andern, wenn auch
hoch begabten ergiebt, das erst im Beginn seiner Schulzeit ist.

Aus Rußland kommen böse Gerüchte herüber. Als zu Anfang des letzten
Sommers die Presse von bevorstehender Not in einigen östlichen Gubernien
zu erzählen begann, erklärte die Regierung, dem sei nicht so. Nachher fand
sie doch, daß vier, fünf oder sechs Gubernien von einem Mißwachs bedroht
seien. Jetzt will man wissen, daß viele Millionen Menschen dem Hunger ent¬
gegengehn. Das Note Kreuz ist von der Regierung mit der Aufgabe betraut
worden, den Kampf gegen den Hunger zu leiten. Diese Gesellschaft hat in
neun Gubernien von ungeheurer Ausdehnung ihre Thätigkeit begonnen. In
derselben Zeitungsnummer aber (Ur. 349 der Se. Petersburger Zeitung), in
der das Rote Kreuz seinen ersten Bericht veröffentlicht, lesen wir ein paar


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[0159] Politik und Finanzen in Rußland nicht ein Finanzminister, sondern ein Minister des Äußern faßt. Die politische Machtstellung hat hier den Ausschlag gegeben. Ohne Zweifel wird es Rußland möglich sein, nach dem Bau der Bahn eine Stellung in China und Zentral¬ asien einzunehmen, der England unter den heutigen Verhältnissen schwerlich das Gegengewicht wird halten können. Aber ich wüßte nicht, womit die ungeheuern Kosten, die die Erwerbung und Erhaltung solcher Stellung Rußland auferlegen, gedeckt werden könnten, wenn man nicht etwa politische Macht und politischen Ruhm an sich gegen Millionen in gutem Golde in Tausch nehmen will. Der Stille Ozean ist kein günstiges Gefechtsfeld in einem Kampf mit England; die Stellung dort bietet eher einen neuen und gefährlichen Posten dem Angriffe Englands dar. Dem verwundbarsten Punkte Englands nahe zu kommen, ge¬ nügte die Bahn über Merw nach Kuschk, die im Dezember 1398 eröffnet worden ist. So gehören, wie ich glaube, die großen Erfolge, die Rußland im Osten davon getragen hat, wiederum, wie die von 1877, weit mehr in das Gebiet der rein staatlichen Mnchtpolitik, als in das des Nutzens für die Wirtschaft und die Kultur des russischen Volks. Diese Unternehmungen sind Tratten auf zu weite Sicht für ein Volk, das heute nach Brot und Geld verlangt, für ein Volk, dessen Eintritt in moderne industrielle Wirtschaft vielleicht etwas verfrüht war angesichts einer Landwirtschaft, die im ganzen noch auf der untersten Stufe der Technik steht, und einer Manufaktur, die nur sorgsam gepflegt zu werden brauchte, um sich reich zu entfalten und allmählich die natürliche Unterlage für den Großbetrieb zu werden. Auch die etwas gewaltsam gezüchtete Industrie gehört zu den Dingen in Nußland, die nur zum Teil von den natürlichen Kräften des Landes und Volkes, zum andern Teil von den bedenklichen Ehrenpflichten hervor¬ getrieben werden, die ein Staat im Bewußtsein der Großmacht sich und seinem Volke gelegentlich auferlegt. Wie so oft und mit so schlimmen Folgen, vergißt man auch in dieser Sache wieder, daß große staatliche Machtstellung den Vorzug nicht auszugleichen vermag, der sich aus der Schulung und Arbeit von Jahr¬ hunderten zu Gunsten des einen Volkes gegenüber einem andern, wenn auch hoch begabten ergiebt, das erst im Beginn seiner Schulzeit ist. Aus Rußland kommen böse Gerüchte herüber. Als zu Anfang des letzten Sommers die Presse von bevorstehender Not in einigen östlichen Gubernien zu erzählen begann, erklärte die Regierung, dem sei nicht so. Nachher fand sie doch, daß vier, fünf oder sechs Gubernien von einem Mißwachs bedroht seien. Jetzt will man wissen, daß viele Millionen Menschen dem Hunger ent¬ gegengehn. Das Note Kreuz ist von der Regierung mit der Aufgabe betraut worden, den Kampf gegen den Hunger zu leiten. Diese Gesellschaft hat in neun Gubernien von ungeheurer Ausdehnung ihre Thätigkeit begonnen. In derselben Zeitungsnummer aber (Ur. 349 der Se. Petersburger Zeitung), in der das Rote Kreuz seinen ersten Bericht veröffentlicht, lesen wir ein paar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/159>, abgerufen am 23.07.2024.