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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

große Opfer entlockt für nationalen Ruhm nach außen, während daheim die
nationale Armut nach Brot schreit. Welche Unsummen sind verwandt worden
auf Russifikation und religiöse Bekehrung von allerlei Leuten, wieviel Kräfte
an "Intelligenzen" aller Art wurden im nationalen Sinne nach außen ver¬
wandt, während daheim der Bauer hungerte, der Pope bettelte, die Schule
fehlte, die guten Beamten und Richter selten waren! Es ist nicht zum Ver¬
wundern, wenn das wirtschaftliche Rußland von einem russischen Schriftsteller
neulich wehklagend mit einem Kuchen verglichen wurde, der an den Rändern
schön emporwächst, während das Innere immer mehr zu einer versinkendem
Höhlung wird.

Extensio wie die russische Landwirtschaft ist auch die Politik, und der
Bau der großen sibirischen Bahn erinnert in etwas an einen Landmann, der
einen Sumpf an der äußersten Grenze seines Besitztums mit großen Kosten zu
entwässern sucht, während sein alter Acker aus Mangel an Sorgfalt und Mitteln
der Versumpfung anheimfällt. Hunderte von Millionen werden für eine Bahn
verausgabt, deren wirtschaftlicher Nutzen für das europäische Rußland denn
doch noch sehr in fraglicher Ferne liegt. An Land, an Kolonialbvden besitzt
Rußland in Europa wie in Asien längst übergenug; die Landwirtschaft kann
sich von dieser Bahn also keinen Vorteil versprechen, sondern eher fürchten,
daß sich neue Flächen dem Raubbau öffnen lind den Übergang zu intensiverer
Bodenkultur in den alten Provinzen erschweren und verzögern. Es könnte sich
um Absatzgebiete im chinesischen Osten für die russische Industrie handeln. Aber
wenn auch der neue Weg der überlegnen westeuropäischen Industrie verlegt
werden könnte, so fänden die russischen Fabrikanten an dem andern Endpunkte
industrielle Konkurrenten, denen sie schwerlich gewachsen sein werden. Die
Japanesen sind schon jetzt ganz in der Lage, den Abfluß russischer Fabrikate
uach Japan, Korea, China zurückzudümmen; und die Chinesen werden bald
hinter ihnen herkommen. Dort kann es sich nur um Fabrikate, nicht um Roh¬
stoffe für die russische Ausfuhr handeln, sofern man von einem Nutzen für das
europäische Rußland redet; für Fabrikwesen aber liegen die Verhältnisse den
Japanern und Chinesen weit günstiger als den Russen an der Wolga oder in
Moskau. Japaner und Chinesen sind den Russen in allem überlegen, was die
Industrie erheischt, in alter Kultur, Kunstsinn, Arbeitsamkeit, Anstelligkeit, in
billiger, genauer, ausdauernder Arbeit, in billigen Rohstoffen. Und was den
Handel angeht, so versteht der Chinese sich darauf besser als irgend wer sonst
in der Welt. Es ist demnach weit wahrscheinlicher, daß die sibirische Bahn
zum Vorteil der gelben Rasse dienen, als daß sie dem russischen Handel und
russischer Ausfuhr nützen werde, auch wenn man die Konkurrenz europäischer
Ausfuhrländer auf dem Seewege gar nicht in Anschlag bringt.

Wenn man annehmen wollte, daß ein tiefer Plan diesem Unternehmen zum
Dasein verholfen habe, so scheint es nur ein solcher gewesen zu sein, wie ihn


Politik und Finanzen in Rußland

große Opfer entlockt für nationalen Ruhm nach außen, während daheim die
nationale Armut nach Brot schreit. Welche Unsummen sind verwandt worden
auf Russifikation und religiöse Bekehrung von allerlei Leuten, wieviel Kräfte
an „Intelligenzen" aller Art wurden im nationalen Sinne nach außen ver¬
wandt, während daheim der Bauer hungerte, der Pope bettelte, die Schule
fehlte, die guten Beamten und Richter selten waren! Es ist nicht zum Ver¬
wundern, wenn das wirtschaftliche Rußland von einem russischen Schriftsteller
neulich wehklagend mit einem Kuchen verglichen wurde, der an den Rändern
schön emporwächst, während das Innere immer mehr zu einer versinkendem
Höhlung wird.

Extensio wie die russische Landwirtschaft ist auch die Politik, und der
Bau der großen sibirischen Bahn erinnert in etwas an einen Landmann, der
einen Sumpf an der äußersten Grenze seines Besitztums mit großen Kosten zu
entwässern sucht, während sein alter Acker aus Mangel an Sorgfalt und Mitteln
der Versumpfung anheimfällt. Hunderte von Millionen werden für eine Bahn
verausgabt, deren wirtschaftlicher Nutzen für das europäische Rußland denn
doch noch sehr in fraglicher Ferne liegt. An Land, an Kolonialbvden besitzt
Rußland in Europa wie in Asien längst übergenug; die Landwirtschaft kann
sich von dieser Bahn also keinen Vorteil versprechen, sondern eher fürchten,
daß sich neue Flächen dem Raubbau öffnen lind den Übergang zu intensiverer
Bodenkultur in den alten Provinzen erschweren und verzögern. Es könnte sich
um Absatzgebiete im chinesischen Osten für die russische Industrie handeln. Aber
wenn auch der neue Weg der überlegnen westeuropäischen Industrie verlegt
werden könnte, so fänden die russischen Fabrikanten an dem andern Endpunkte
industrielle Konkurrenten, denen sie schwerlich gewachsen sein werden. Die
Japanesen sind schon jetzt ganz in der Lage, den Abfluß russischer Fabrikate
uach Japan, Korea, China zurückzudümmen; und die Chinesen werden bald
hinter ihnen herkommen. Dort kann es sich nur um Fabrikate, nicht um Roh¬
stoffe für die russische Ausfuhr handeln, sofern man von einem Nutzen für das
europäische Rußland redet; für Fabrikwesen aber liegen die Verhältnisse den
Japanern und Chinesen weit günstiger als den Russen an der Wolga oder in
Moskau. Japaner und Chinesen sind den Russen in allem überlegen, was die
Industrie erheischt, in alter Kultur, Kunstsinn, Arbeitsamkeit, Anstelligkeit, in
billiger, genauer, ausdauernder Arbeit, in billigen Rohstoffen. Und was den
Handel angeht, so versteht der Chinese sich darauf besser als irgend wer sonst
in der Welt. Es ist demnach weit wahrscheinlicher, daß die sibirische Bahn
zum Vorteil der gelben Rasse dienen, als daß sie dem russischen Handel und
russischer Ausfuhr nützen werde, auch wenn man die Konkurrenz europäischer
Ausfuhrländer auf dem Seewege gar nicht in Anschlag bringt.

Wenn man annehmen wollte, daß ein tiefer Plan diesem Unternehmen zum
Dasein verholfen habe, so scheint es nur ein solcher gewesen zu sein, wie ihn


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[0158] Politik und Finanzen in Rußland große Opfer entlockt für nationalen Ruhm nach außen, während daheim die nationale Armut nach Brot schreit. Welche Unsummen sind verwandt worden auf Russifikation und religiöse Bekehrung von allerlei Leuten, wieviel Kräfte an „Intelligenzen" aller Art wurden im nationalen Sinne nach außen ver¬ wandt, während daheim der Bauer hungerte, der Pope bettelte, die Schule fehlte, die guten Beamten und Richter selten waren! Es ist nicht zum Ver¬ wundern, wenn das wirtschaftliche Rußland von einem russischen Schriftsteller neulich wehklagend mit einem Kuchen verglichen wurde, der an den Rändern schön emporwächst, während das Innere immer mehr zu einer versinkendem Höhlung wird. Extensio wie die russische Landwirtschaft ist auch die Politik, und der Bau der großen sibirischen Bahn erinnert in etwas an einen Landmann, der einen Sumpf an der äußersten Grenze seines Besitztums mit großen Kosten zu entwässern sucht, während sein alter Acker aus Mangel an Sorgfalt und Mitteln der Versumpfung anheimfällt. Hunderte von Millionen werden für eine Bahn verausgabt, deren wirtschaftlicher Nutzen für das europäische Rußland denn doch noch sehr in fraglicher Ferne liegt. An Land, an Kolonialbvden besitzt Rußland in Europa wie in Asien längst übergenug; die Landwirtschaft kann sich von dieser Bahn also keinen Vorteil versprechen, sondern eher fürchten, daß sich neue Flächen dem Raubbau öffnen lind den Übergang zu intensiverer Bodenkultur in den alten Provinzen erschweren und verzögern. Es könnte sich um Absatzgebiete im chinesischen Osten für die russische Industrie handeln. Aber wenn auch der neue Weg der überlegnen westeuropäischen Industrie verlegt werden könnte, so fänden die russischen Fabrikanten an dem andern Endpunkte industrielle Konkurrenten, denen sie schwerlich gewachsen sein werden. Die Japanesen sind schon jetzt ganz in der Lage, den Abfluß russischer Fabrikate uach Japan, Korea, China zurückzudümmen; und die Chinesen werden bald hinter ihnen herkommen. Dort kann es sich nur um Fabrikate, nicht um Roh¬ stoffe für die russische Ausfuhr handeln, sofern man von einem Nutzen für das europäische Rußland redet; für Fabrikwesen aber liegen die Verhältnisse den Japanern und Chinesen weit günstiger als den Russen an der Wolga oder in Moskau. Japaner und Chinesen sind den Russen in allem überlegen, was die Industrie erheischt, in alter Kultur, Kunstsinn, Arbeitsamkeit, Anstelligkeit, in billiger, genauer, ausdauernder Arbeit, in billigen Rohstoffen. Und was den Handel angeht, so versteht der Chinese sich darauf besser als irgend wer sonst in der Welt. Es ist demnach weit wahrscheinlicher, daß die sibirische Bahn zum Vorteil der gelben Rasse dienen, als daß sie dem russischen Handel und russischer Ausfuhr nützen werde, auch wenn man die Konkurrenz europäischer Ausfuhrländer auf dem Seewege gar nicht in Anschlag bringt. Wenn man annehmen wollte, daß ein tiefer Plan diesem Unternehmen zum Dasein verholfen habe, so scheint es nur ein solcher gewesen zu sein, wie ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/158>, abgerufen am 23.07.2024.