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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

Künstler! Was heißt das anders, als daß Stimmung nicht nur Ursache,
sondern auch der eigentliche Lebensgehalt des künstlerischen Schaffens ist, und
daß alle Thorheiten, die seit Aristoteles über die Kunst als Nachahmung der
Wirklichkeit geredet worden sind, auf dem Mißverständnis beruhen, als sei dem
Künstler darum zu thun, was die Natur mustergiltig vorgebildet hat, noch
einmal kleinlich und unzulänglich nachzustammeln! Da hätten wirs also: der
Hirtenknabe ist der Künstler und das Paradigma, aus dem man die Regeln
der Kunstlehre einfach abstmhirt. Ja, wenn die Sache so einfach wäre! Wir
könnten den Hirtenknaben mit einem einzigen schlichten, beinahe trivialen Satz
Vruchmanns ganz außer Funktion setzen: "Natürlich darf man nicht vergessen,
daß sich die Anfänge der Poesie von ihrer Blüte unterscheiden müssen; was
der Botokude singt, wird uns nicht sehr poetisch vorkommen," der Botokude
wäre dann ungefähr der Hirtenknabe, aber wir wollen Steiger etwas tiefer in
seine eigne Theorie folgen. Ob bei dieser Entäußerung der Stimmung der
Architekt, so etwa sagt er, und der Musiker außer dem Rohstoff, der dort
ficht- und tastbar, hier bloß hörbar ist, so gut wie nichts aus der äußern
Natur entlehnen, ob der Bildhauer die farblose Körperlichkeit der Dinge, der
Maler ihren farbigen Flächenschein benutzt, ob der Dichter mittels der durch
das Wort entfesselten Phantasie die ganze Außer- und Innenwelt an sich
reißt: eins ist klar, alles das ist nur der sinnliche Niederschlag ihrer künst¬
lerischen Stimmung- Möglich, daß sie, um ihre Gefühle auf den Betrachter
oder Hörer genau so zu übertragen, jene Stoffe gebrauchen müssen, für sie
sind die Stoffe nur das Mittel, und ihre Stimmung muß ihnen erst das
künstlerische Leben geben. Steiger merkt also nicht, daß er mit dieser mehr
als "möglichen" Voraussetzung seiner ganzen Theorie bereits das Urteil ge¬
sprochen hat. Oder müssen wirs ihm noch mit seinen eignen schöngewählten
Beispielen beweisen? Der Leser folge einer kurzen Betrachtung eines wirklich
poetisch geschriebnen Kapitels: Die Welt als Ich. Adam erblickt die schlum¬
mernde Eva, sein Herz schwillt in Sehnsucht und Liebe, er kann nicht anders,
er muß es sich laut vorsagen, wie schön sie ist, er ruft es den Tieren des
Waldes, den Wolken und Winden zu, wie lieb er sie hat usw. So wird
Adam der erste Lyriker. Nach Jahren, als Kam und Abel auf die Freite
gehen, erzählt ihnen der Vater die ganze Geschichte seiner Liebe, wie er sie
zuerst geküßt habe usw., nun wird er der erste Epiker. Und als er dann den
Söhnen auf ihr Bitten alles, was er ihnen eben erzählt, in Worten, Geberden
und Mienen leibhaftig vormacht, ist er der erste Dramatiker geworden. Aber
wo steckt denn, fährt Steiger fort, das Geheimnis dieses erstaunlichen Erfolgs?
Der Leser kann sichs ja denken, ohne daß wir Steigers kunstvolle Schilderung
weiter ausziehen. Er meint: Was in der Erzählung nur ein Phantasiebild
war, jetzt ist es sinnliche Wahrnehmung eines Gegenwärtigen geworden, da¬
durch daß Adam als lebendiger Mensch vor seine Söhne tritt, vor ihren


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

Künstler! Was heißt das anders, als daß Stimmung nicht nur Ursache,
sondern auch der eigentliche Lebensgehalt des künstlerischen Schaffens ist, und
daß alle Thorheiten, die seit Aristoteles über die Kunst als Nachahmung der
Wirklichkeit geredet worden sind, auf dem Mißverständnis beruhen, als sei dem
Künstler darum zu thun, was die Natur mustergiltig vorgebildet hat, noch
einmal kleinlich und unzulänglich nachzustammeln! Da hätten wirs also: der
Hirtenknabe ist der Künstler und das Paradigma, aus dem man die Regeln
der Kunstlehre einfach abstmhirt. Ja, wenn die Sache so einfach wäre! Wir
könnten den Hirtenknaben mit einem einzigen schlichten, beinahe trivialen Satz
Vruchmanns ganz außer Funktion setzen: „Natürlich darf man nicht vergessen,
daß sich die Anfänge der Poesie von ihrer Blüte unterscheiden müssen; was
der Botokude singt, wird uns nicht sehr poetisch vorkommen," der Botokude
wäre dann ungefähr der Hirtenknabe, aber wir wollen Steiger etwas tiefer in
seine eigne Theorie folgen. Ob bei dieser Entäußerung der Stimmung der
Architekt, so etwa sagt er, und der Musiker außer dem Rohstoff, der dort
ficht- und tastbar, hier bloß hörbar ist, so gut wie nichts aus der äußern
Natur entlehnen, ob der Bildhauer die farblose Körperlichkeit der Dinge, der
Maler ihren farbigen Flächenschein benutzt, ob der Dichter mittels der durch
das Wort entfesselten Phantasie die ganze Außer- und Innenwelt an sich
reißt: eins ist klar, alles das ist nur der sinnliche Niederschlag ihrer künst¬
lerischen Stimmung- Möglich, daß sie, um ihre Gefühle auf den Betrachter
oder Hörer genau so zu übertragen, jene Stoffe gebrauchen müssen, für sie
sind die Stoffe nur das Mittel, und ihre Stimmung muß ihnen erst das
künstlerische Leben geben. Steiger merkt also nicht, daß er mit dieser mehr
als „möglichen" Voraussetzung seiner ganzen Theorie bereits das Urteil ge¬
sprochen hat. Oder müssen wirs ihm noch mit seinen eignen schöngewählten
Beispielen beweisen? Der Leser folge einer kurzen Betrachtung eines wirklich
poetisch geschriebnen Kapitels: Die Welt als Ich. Adam erblickt die schlum¬
mernde Eva, sein Herz schwillt in Sehnsucht und Liebe, er kann nicht anders,
er muß es sich laut vorsagen, wie schön sie ist, er ruft es den Tieren des
Waldes, den Wolken und Winden zu, wie lieb er sie hat usw. So wird
Adam der erste Lyriker. Nach Jahren, als Kam und Abel auf die Freite
gehen, erzählt ihnen der Vater die ganze Geschichte seiner Liebe, wie er sie
zuerst geküßt habe usw., nun wird er der erste Epiker. Und als er dann den
Söhnen auf ihr Bitten alles, was er ihnen eben erzählt, in Worten, Geberden
und Mienen leibhaftig vormacht, ist er der erste Dramatiker geworden. Aber
wo steckt denn, fährt Steiger fort, das Geheimnis dieses erstaunlichen Erfolgs?
Der Leser kann sichs ja denken, ohne daß wir Steigers kunstvolle Schilderung
weiter ausziehen. Er meint: Was in der Erzählung nur ein Phantasiebild
war, jetzt ist es sinnliche Wahrnehmung eines Gegenwärtigen geworden, da¬
durch daß Adam als lebendiger Mensch vor seine Söhne tritt, vor ihren


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[0096] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche Künstler! Was heißt das anders, als daß Stimmung nicht nur Ursache, sondern auch der eigentliche Lebensgehalt des künstlerischen Schaffens ist, und daß alle Thorheiten, die seit Aristoteles über die Kunst als Nachahmung der Wirklichkeit geredet worden sind, auf dem Mißverständnis beruhen, als sei dem Künstler darum zu thun, was die Natur mustergiltig vorgebildet hat, noch einmal kleinlich und unzulänglich nachzustammeln! Da hätten wirs also: der Hirtenknabe ist der Künstler und das Paradigma, aus dem man die Regeln der Kunstlehre einfach abstmhirt. Ja, wenn die Sache so einfach wäre! Wir könnten den Hirtenknaben mit einem einzigen schlichten, beinahe trivialen Satz Vruchmanns ganz außer Funktion setzen: „Natürlich darf man nicht vergessen, daß sich die Anfänge der Poesie von ihrer Blüte unterscheiden müssen; was der Botokude singt, wird uns nicht sehr poetisch vorkommen," der Botokude wäre dann ungefähr der Hirtenknabe, aber wir wollen Steiger etwas tiefer in seine eigne Theorie folgen. Ob bei dieser Entäußerung der Stimmung der Architekt, so etwa sagt er, und der Musiker außer dem Rohstoff, der dort ficht- und tastbar, hier bloß hörbar ist, so gut wie nichts aus der äußern Natur entlehnen, ob der Bildhauer die farblose Körperlichkeit der Dinge, der Maler ihren farbigen Flächenschein benutzt, ob der Dichter mittels der durch das Wort entfesselten Phantasie die ganze Außer- und Innenwelt an sich reißt: eins ist klar, alles das ist nur der sinnliche Niederschlag ihrer künst¬ lerischen Stimmung- Möglich, daß sie, um ihre Gefühle auf den Betrachter oder Hörer genau so zu übertragen, jene Stoffe gebrauchen müssen, für sie sind die Stoffe nur das Mittel, und ihre Stimmung muß ihnen erst das künstlerische Leben geben. Steiger merkt also nicht, daß er mit dieser mehr als „möglichen" Voraussetzung seiner ganzen Theorie bereits das Urteil ge¬ sprochen hat. Oder müssen wirs ihm noch mit seinen eignen schöngewählten Beispielen beweisen? Der Leser folge einer kurzen Betrachtung eines wirklich poetisch geschriebnen Kapitels: Die Welt als Ich. Adam erblickt die schlum¬ mernde Eva, sein Herz schwillt in Sehnsucht und Liebe, er kann nicht anders, er muß es sich laut vorsagen, wie schön sie ist, er ruft es den Tieren des Waldes, den Wolken und Winden zu, wie lieb er sie hat usw. So wird Adam der erste Lyriker. Nach Jahren, als Kam und Abel auf die Freite gehen, erzählt ihnen der Vater die ganze Geschichte seiner Liebe, wie er sie zuerst geküßt habe usw., nun wird er der erste Epiker. Und als er dann den Söhnen auf ihr Bitten alles, was er ihnen eben erzählt, in Worten, Geberden und Mienen leibhaftig vormacht, ist er der erste Dramatiker geworden. Aber wo steckt denn, fährt Steiger fort, das Geheimnis dieses erstaunlichen Erfolgs? Der Leser kann sichs ja denken, ohne daß wir Steigers kunstvolle Schilderung weiter ausziehen. Er meint: Was in der Erzählung nur ein Phantasiebild war, jetzt ist es sinnliche Wahrnehmung eines Gegenwärtigen geworden, da¬ durch daß Adam als lebendiger Mensch vor seine Söhne tritt, vor ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/96>, abgerufen am 24.07.2024.