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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Fürst Lichnowsky

nicht glauben will, der -- nun, der hat noch nicht die Deutsche Geschichte des
deutschfreisinnigen Konstantin Bulle (z. B. I, 331. 332!) gelesen.

Daß sich ein so freier und vaterlandstreuer Mann der preußischen Ne¬
gierung gerade auch in einer Sache annahm, wo selbst ein Dcchlmann gegen
sie stand, wo die Versammlung hin und her schwankte wie nie, wo Lichnowsky
mit seinem eignen Schicksalsgenossen Auerswald nicht bei jeder Abstimmung
zusammen ging, das war traurig; aber gerade er hat auch den Sieg der
Preußischen Politik in der entscheidenden Sitzung am 16. bewirkt und die ver¬
worrene Lage geklärt. Als Junge saß ich damals oft des Abends auf Dahl-
manns Knieen, im Garten, bei der heimatlichen roten Grütze, die er nicht missen
wollte; denn die Familie bewohnte mit uns ein Haus an der Mainzer Land¬
straße; aber an jenen Abenden, als der Belagerungszustand wie ein eiserner
Vorhang auf Frankfurt herabsank, da war alle Gemütlichkeit gestorben, und
es blieb den Frankfurtern, zumal da draußen "vor dem Thor," nichts, als
mit vorgeschriebner Laterne vor zehn Uhr den Nachbar zu geheimer Unter¬
haltung aufzusuchen. Und damals gerade kam Dahlmann in die Verlegenheit,
ein Ministerium zu bilden, das er aus seinen Gegnern hätte zusammensuchen
müssen.

Nicht etwa, um den aävovÄtus äiavoli zu machen, sondern aus histo¬
rischem Pflichtgefühl darf man die Entschuldigungsgründe für jene Rotte von
Unmenschen doch nicht unterdrücken. Ging die That doch aus einer breiten
Bewegung hervor, und was jene paar Dutzend Verwilderte thaten, hätten
tciusend andre ebenso gethan. Seit Wochen waren in und um Frankfurt
Tausende von beschäftigungslosen Arbeitern, denn das Parlament hatte von
vornherein die Arbeiterfrage ins Auge gefaßt und das "Recht auf Arbeit" in
der Paulskirche proklamirt. Bis in die östlichen Nachbarstüdte, Offenbach und
Hanau, wo eine besonders exaltirte Bevölkerung die Republik verlangte, er¬
wartete alles, die Turner voran, das Zeichen zum Losschlagen gegen die "ent¬
menschte Soldateska." Diese Massen sahen in der Linken des Parlaments
ihre natürlichen Führer, und als die Malmöer Waffenstillstandsfrage uner¬
warteterweise den schließlichen Sieg der Rechten ergab, da schlug umso mehr
die Empörung in Wut um. und das Volk wollte, um den klassischen Ausdruck
von Zitz zu wiederholen, "Fraktur schreiben." Man sah in Preußens Haltung
nicht eine vorsichtig rechnende Politik, sondern den blanken Verrat an der na¬
tionalen Lieblingsidee, an der Befreiung des meerumschlungnen Landes. Wenn
je, war hier eine patriotische Aufwallung begreiflich, und bei der süddeutschen
Volksmasse verfing die Mahnung nicht: "Muter Sie Preußen keinen Selbst-
Mord zu." Am Samstag, ohnehin dem süddeutschen Biersauftag, war die
entscheidende letzte Abstimmung und Lichnowskys großer parlamentarischer Vor¬
stoß gewesen, der jene dreißig faulen Mitglieder vollends fortriß und eine
Majorität schuf; dann wurde auf der Pfingstweide bei Bornheim eine Volks-


Fürst Lichnowsky

nicht glauben will, der — nun, der hat noch nicht die Deutsche Geschichte des
deutschfreisinnigen Konstantin Bulle (z. B. I, 331. 332!) gelesen.

Daß sich ein so freier und vaterlandstreuer Mann der preußischen Ne¬
gierung gerade auch in einer Sache annahm, wo selbst ein Dcchlmann gegen
sie stand, wo die Versammlung hin und her schwankte wie nie, wo Lichnowsky
mit seinem eignen Schicksalsgenossen Auerswald nicht bei jeder Abstimmung
zusammen ging, das war traurig; aber gerade er hat auch den Sieg der
Preußischen Politik in der entscheidenden Sitzung am 16. bewirkt und die ver¬
worrene Lage geklärt. Als Junge saß ich damals oft des Abends auf Dahl-
manns Knieen, im Garten, bei der heimatlichen roten Grütze, die er nicht missen
wollte; denn die Familie bewohnte mit uns ein Haus an der Mainzer Land¬
straße; aber an jenen Abenden, als der Belagerungszustand wie ein eiserner
Vorhang auf Frankfurt herabsank, da war alle Gemütlichkeit gestorben, und
es blieb den Frankfurtern, zumal da draußen „vor dem Thor," nichts, als
mit vorgeschriebner Laterne vor zehn Uhr den Nachbar zu geheimer Unter¬
haltung aufzusuchen. Und damals gerade kam Dahlmann in die Verlegenheit,
ein Ministerium zu bilden, das er aus seinen Gegnern hätte zusammensuchen
müssen.

Nicht etwa, um den aävovÄtus äiavoli zu machen, sondern aus histo¬
rischem Pflichtgefühl darf man die Entschuldigungsgründe für jene Rotte von
Unmenschen doch nicht unterdrücken. Ging die That doch aus einer breiten
Bewegung hervor, und was jene paar Dutzend Verwilderte thaten, hätten
tciusend andre ebenso gethan. Seit Wochen waren in und um Frankfurt
Tausende von beschäftigungslosen Arbeitern, denn das Parlament hatte von
vornherein die Arbeiterfrage ins Auge gefaßt und das „Recht auf Arbeit" in
der Paulskirche proklamirt. Bis in die östlichen Nachbarstüdte, Offenbach und
Hanau, wo eine besonders exaltirte Bevölkerung die Republik verlangte, er¬
wartete alles, die Turner voran, das Zeichen zum Losschlagen gegen die „ent¬
menschte Soldateska." Diese Massen sahen in der Linken des Parlaments
ihre natürlichen Führer, und als die Malmöer Waffenstillstandsfrage uner¬
warteterweise den schließlichen Sieg der Rechten ergab, da schlug umso mehr
die Empörung in Wut um. und das Volk wollte, um den klassischen Ausdruck
von Zitz zu wiederholen, „Fraktur schreiben." Man sah in Preußens Haltung
nicht eine vorsichtig rechnende Politik, sondern den blanken Verrat an der na¬
tionalen Lieblingsidee, an der Befreiung des meerumschlungnen Landes. Wenn
je, war hier eine patriotische Aufwallung begreiflich, und bei der süddeutschen
Volksmasse verfing die Mahnung nicht: „Muter Sie Preußen keinen Selbst-
Mord zu." Am Samstag, ohnehin dem süddeutschen Biersauftag, war die
entscheidende letzte Abstimmung und Lichnowskys großer parlamentarischer Vor¬
stoß gewesen, der jene dreißig faulen Mitglieder vollends fortriß und eine
Majorität schuf; dann wurde auf der Pfingstweide bei Bornheim eine Volks-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/87>, abgerufen am 12.12.2024.