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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Ein mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

noch immer nicht in den Sinn. Es bedürfte deshalb, um sie durchzusetzen,
der ganzen Energie Jollys, der "die Staatskunst nicht im Vollzug des Willens
der Mehrheit, sondern in der Verwirklichung des selbst als richtig Erkannten"
sah. Sein Verdienst erscheint umso größer, als damals in den übrigen süd¬
deutschen Staaten der ultramontane, demokratische oder dynastische Parti¬
kularismus regierte. In Hessen zögerte Dalwigk sogar, die Militärkonvention
auszuführen, bis er von Berlin energisch und ohne jede Rücksicht auf die jetzt
(28 Jahre nach der Reichsgründung!) sogar von "nationalen" Blättern so
zärtlich beschützte kleinfürstliche Empfindlichkeit eines bessern belehrt wurde.
In Württemberg opponirten die Demokraten den Verpflichtungen der Schutz-
und Trutzverträge, agitirteu für die weitere Verkürzung der zweijährigen
Dienstzeit und begeisterten sich für das Milizsystem; der Minister Varnbüler
aber, der 1866 etwas vorschnell gegen Preußen das stolze Wort Vas piceis!
ausgesprochen hatte, galt damals mit Recht als eine Säule des Partikula¬
rismus. Nur der Kriegsminister von Wagner (später von Suckow) und der
Justizminister von Mittnacht gaben der Regierung eine etwas nationalere
Färbung. In Bayern hatte die Opposition der Ultramontanen soeben (Februar
1870) den nationalgesinnten Fürsten Hohenlohe gestürzt, und sein Nachfolger
Graf Bray wollte die Vertrüge nur halten, soweit das unvermeidlich war.
Das machte der Landtagsmehrheit Mut, im März eine Kürzung des Militär¬
budgets zu beantragen, in der stillen Hoffnung, daß dann Preußen die
Bündnisvertrüge kündigen möchte! Wahrlich, solch erleuchtete Staatskunst recht¬
fertigt das herbe Wort, das Treitschke zunächst über die süddeutschen Zoll¬
vereinswahlen von 1868 aussprach, daß Süddeutschland auch die bescheidensten
Hoffnungen zu schänden gemacht habe. Und das alles, während die französische
Begehrlichkeit an der offnen Rheingrenze lauerte! Umso höher steht die
nationale Politik, die in Baden "dicht vor dem Feinde" Großherzog Friedrich
und sein Ministerium Jolly vier Jahre laug aufrecht erhielten.

So kam der Krieg von 1870 gerade recht, um ganz Süddeutschland aus
einer je länger je mehr unhaltbaren Lage zu befreien. Freilich, ehe er ent¬
schieden war, zogen über das langgestreckte Grenzland bange Tage herauf. Als
am 12. Juli eine Depesche aus Berlin auf die Kriegsgefahr aufmerksam machte,
waren die Sommerurlauber soeben entlassen, der Chef des Generalstabs, Oberst¬
leutnant Leszynski. in der Schweiz, die Artillerie auf dem Schießplatze bei
Forchheim, drei Stunden von Rastatt. Wenn die Franzosen, wie man nach
ihrem überhasteten Vorgehen erwarten mußte, ein kurzes Ultimatum stellten
und nach der Ablehnung mit fünftausend Mann über den Rhein gingen, dann
wurde die Mobilisirung gestört, und es war unmöglich, die badischen Truppen
vollzählig in der vorbereiteten Stellung um Rastatt zu versammeln. Dazu
kam die Haltung von Württemberg und Bayern, wo die herrschenden Parteien
zunächst höchstens die bewaffnete Neutralität wollten. Insbesondre aus


Grenzboten IV 1898 9
Ein mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

noch immer nicht in den Sinn. Es bedürfte deshalb, um sie durchzusetzen,
der ganzen Energie Jollys, der „die Staatskunst nicht im Vollzug des Willens
der Mehrheit, sondern in der Verwirklichung des selbst als richtig Erkannten"
sah. Sein Verdienst erscheint umso größer, als damals in den übrigen süd¬
deutschen Staaten der ultramontane, demokratische oder dynastische Parti¬
kularismus regierte. In Hessen zögerte Dalwigk sogar, die Militärkonvention
auszuführen, bis er von Berlin energisch und ohne jede Rücksicht auf die jetzt
(28 Jahre nach der Reichsgründung!) sogar von „nationalen" Blättern so
zärtlich beschützte kleinfürstliche Empfindlichkeit eines bessern belehrt wurde.
In Württemberg opponirten die Demokraten den Verpflichtungen der Schutz-
und Trutzverträge, agitirteu für die weitere Verkürzung der zweijährigen
Dienstzeit und begeisterten sich für das Milizsystem; der Minister Varnbüler
aber, der 1866 etwas vorschnell gegen Preußen das stolze Wort Vas piceis!
ausgesprochen hatte, galt damals mit Recht als eine Säule des Partikula¬
rismus. Nur der Kriegsminister von Wagner (später von Suckow) und der
Justizminister von Mittnacht gaben der Regierung eine etwas nationalere
Färbung. In Bayern hatte die Opposition der Ultramontanen soeben (Februar
1870) den nationalgesinnten Fürsten Hohenlohe gestürzt, und sein Nachfolger
Graf Bray wollte die Vertrüge nur halten, soweit das unvermeidlich war.
Das machte der Landtagsmehrheit Mut, im März eine Kürzung des Militär¬
budgets zu beantragen, in der stillen Hoffnung, daß dann Preußen die
Bündnisvertrüge kündigen möchte! Wahrlich, solch erleuchtete Staatskunst recht¬
fertigt das herbe Wort, das Treitschke zunächst über die süddeutschen Zoll¬
vereinswahlen von 1868 aussprach, daß Süddeutschland auch die bescheidensten
Hoffnungen zu schänden gemacht habe. Und das alles, während die französische
Begehrlichkeit an der offnen Rheingrenze lauerte! Umso höher steht die
nationale Politik, die in Baden „dicht vor dem Feinde" Großherzog Friedrich
und sein Ministerium Jolly vier Jahre laug aufrecht erhielten.

So kam der Krieg von 1870 gerade recht, um ganz Süddeutschland aus
einer je länger je mehr unhaltbaren Lage zu befreien. Freilich, ehe er ent¬
schieden war, zogen über das langgestreckte Grenzland bange Tage herauf. Als
am 12. Juli eine Depesche aus Berlin auf die Kriegsgefahr aufmerksam machte,
waren die Sommerurlauber soeben entlassen, der Chef des Generalstabs, Oberst¬
leutnant Leszynski. in der Schweiz, die Artillerie auf dem Schießplatze bei
Forchheim, drei Stunden von Rastatt. Wenn die Franzosen, wie man nach
ihrem überhasteten Vorgehen erwarten mußte, ein kurzes Ultimatum stellten
und nach der Ablehnung mit fünftausend Mann über den Rhein gingen, dann
wurde die Mobilisirung gestört, und es war unmöglich, die badischen Truppen
vollzählig in der vorbereiteten Stellung um Rastatt zu versammeln. Dazu
kam die Haltung von Württemberg und Bayern, wo die herrschenden Parteien
zunächst höchstens die bewaffnete Neutralität wollten. Insbesondre aus


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[0077] Ein mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung noch immer nicht in den Sinn. Es bedürfte deshalb, um sie durchzusetzen, der ganzen Energie Jollys, der „die Staatskunst nicht im Vollzug des Willens der Mehrheit, sondern in der Verwirklichung des selbst als richtig Erkannten" sah. Sein Verdienst erscheint umso größer, als damals in den übrigen süd¬ deutschen Staaten der ultramontane, demokratische oder dynastische Parti¬ kularismus regierte. In Hessen zögerte Dalwigk sogar, die Militärkonvention auszuführen, bis er von Berlin energisch und ohne jede Rücksicht auf die jetzt (28 Jahre nach der Reichsgründung!) sogar von „nationalen" Blättern so zärtlich beschützte kleinfürstliche Empfindlichkeit eines bessern belehrt wurde. In Württemberg opponirten die Demokraten den Verpflichtungen der Schutz- und Trutzverträge, agitirteu für die weitere Verkürzung der zweijährigen Dienstzeit und begeisterten sich für das Milizsystem; der Minister Varnbüler aber, der 1866 etwas vorschnell gegen Preußen das stolze Wort Vas piceis! ausgesprochen hatte, galt damals mit Recht als eine Säule des Partikula¬ rismus. Nur der Kriegsminister von Wagner (später von Suckow) und der Justizminister von Mittnacht gaben der Regierung eine etwas nationalere Färbung. In Bayern hatte die Opposition der Ultramontanen soeben (Februar 1870) den nationalgesinnten Fürsten Hohenlohe gestürzt, und sein Nachfolger Graf Bray wollte die Vertrüge nur halten, soweit das unvermeidlich war. Das machte der Landtagsmehrheit Mut, im März eine Kürzung des Militär¬ budgets zu beantragen, in der stillen Hoffnung, daß dann Preußen die Bündnisvertrüge kündigen möchte! Wahrlich, solch erleuchtete Staatskunst recht¬ fertigt das herbe Wort, das Treitschke zunächst über die süddeutschen Zoll¬ vereinswahlen von 1868 aussprach, daß Süddeutschland auch die bescheidensten Hoffnungen zu schänden gemacht habe. Und das alles, während die französische Begehrlichkeit an der offnen Rheingrenze lauerte! Umso höher steht die nationale Politik, die in Baden „dicht vor dem Feinde" Großherzog Friedrich und sein Ministerium Jolly vier Jahre laug aufrecht erhielten. So kam der Krieg von 1870 gerade recht, um ganz Süddeutschland aus einer je länger je mehr unhaltbaren Lage zu befreien. Freilich, ehe er ent¬ schieden war, zogen über das langgestreckte Grenzland bange Tage herauf. Als am 12. Juli eine Depesche aus Berlin auf die Kriegsgefahr aufmerksam machte, waren die Sommerurlauber soeben entlassen, der Chef des Generalstabs, Oberst¬ leutnant Leszynski. in der Schweiz, die Artillerie auf dem Schießplatze bei Forchheim, drei Stunden von Rastatt. Wenn die Franzosen, wie man nach ihrem überhasteten Vorgehen erwarten mußte, ein kurzes Ultimatum stellten und nach der Ablehnung mit fünftausend Mann über den Rhein gingen, dann wurde die Mobilisirung gestört, und es war unmöglich, die badischen Truppen vollzählig in der vorbereiteten Stellung um Rastatt zu versammeln. Dazu kam die Haltung von Württemberg und Bayern, wo die herrschenden Parteien zunächst höchstens die bewaffnete Neutralität wollten. Insbesondre aus Grenzboten IV 1898 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/77>, abgerufen am 12.12.2024.