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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unnmßgebliches

Gewehre entschied sich das Geschick des Tages." Als sich der anwesende Schul¬
inspektor erkundigte, was das bedeute, mußte er ungesähr zwanzig Kinder fragen,
bevor eine Antwort erfolgte." -- Von Naumanns Zeitnngspredigten, die unter
dem Titel Gvtteshilfe bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen gesondert er¬
scheinen, hat ein andrer Rezensent im Jahrgang 1896, Seite 523 des 2. Bandes
gesagt, auch wer mit des Verfassers sozialpolitischer Thätigkeit uicht einverstanden
sei, werde aus der ersten Spalte seines Wochenblatts Erbauung und Frende schöpfen.
Dasselbe wird man dem vorliegende" dritten Bcindchcn der originellen Predigt-
sammlung zugestehen müssen. -- Mit Christentums Ende (Hann.-Münden,
Reinhold Werther, 1398) meint der Verfasser, Friedrich Nonnemann, daß das
kirchliche Christentum in ein wahrhaftiges, subjektives, dem der enden Mystiker ähn¬
liches auslausen soll. Er hat die dialogische Form gewählt; der tiefgläubige Titus
bekehrt deu Weltmann Lau und deu Zweifler Thomas. -- Woher nun auch deu
vielen ratlosem Christen unsrer Zeit zuletzt Rat und Hilfe kommen mag, sicherlich
wird sie uicht aus der Theologie kommen, die, wie es scheint, nur aufzulösen ver¬
steht. Das sehen mir wieder aus des Kirchenrechtslehrers Thudichum Schrift:
Kirchliche Fälschungen (Stuttgart, E. Hauff, 1898). Das vorliegende erste
Heft behandelt das apostolische und das athanasicinische Glaubensbekenntnis als
Fälschungen. Gewiß ist es bei der Entstehung aller kirchliche" Glaubensbekenntnisse
recht menschlich zugegangen, trotzdem aber sind diese ein Schatz ewiger Wahrheiten.
In der "Zeugung" des Sohnes sieht der Verfasser eine "unheilige" aus der grie¬
chischen Mythologie geschöpfte, höchst anstößige Vorstellung. Warum nicht in ihr
den Ausdruck der metaphysischen Wahrheit sehen, daß Gott vor der Schöpfung
differenzirt gedacht werden muß, wenn er überhaupt gedacht, und persönlich gedacht
werden soll? Und warum uicht die menschliche Zeugung, die gar nichts Unheiliges,
sondern etwas sehr Heiliges ist, als das irdische Abbild des für uns unerforsch-
lichen vorweltlichen Prozesses im Schoße der Gottheit auffasse"? Warum an die
Mythen von Kronos und Zeus (die übrigens ebenfalls Abbilder des Urbildes sind)
denken, wenn man christliche Gedichte hat wie den "Urquell" von Johannes vom
Kreuz? Darin heißt es u. a.:

Ich weiß, daß seine Flut so mächtig fließet,
Daß Hollen, Himmel, Völker sie beqießet;
Obgleichs bei Nacht ist.
Weiß, daß er einen Strom aus sich gebaret,
Der sich ihm gleich um Füll und Macht bewähret,
Obgleichs bei Nacht ist usw.

Sozialreformerischc Schriften haben wir in Deutschland so viele, daß sich der
Dr. M', E. Münstermann die Mühe, eine "nntorisirte deutsche Ausgabe" des
Freiheit und soziale Pflichten betitelten Buches von Adolf Prius, Univer-
sitätsprofessor und Generalinspektor des königlich belgischen Justizministeriums
(Berlin, Otto Liebmann, 1897) zu veranstalte", hätte ersparen können. -- Von
deutschen Büchern dieser Art, die ja ebenfalls zur Popularphilosophic gehören,
nennen wir heute: Deutsche Ziele und Aufgaben von Dr. G. Stille (Berlin
und Leipzig, Friedrich Luckhardt, 1898). Der Verfasser spricht die Hauptprobleme
unsers Volks- und Staatslebens aus ehrlicher Gesinnung und verständig durch,
ohne etwas neues beizubringen; er ist überzeugter Antisemit und glaubt dem Bunde
der Landwirte ein' wenig zu viel.




Orenzboten IV 1898W
Maßgebliches und Unnmßgebliches

Gewehre entschied sich das Geschick des Tages.« Als sich der anwesende Schul¬
inspektor erkundigte, was das bedeute, mußte er ungesähr zwanzig Kinder fragen,
bevor eine Antwort erfolgte." — Von Naumanns Zeitnngspredigten, die unter
dem Titel Gvtteshilfe bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen gesondert er¬
scheinen, hat ein andrer Rezensent im Jahrgang 1896, Seite 523 des 2. Bandes
gesagt, auch wer mit des Verfassers sozialpolitischer Thätigkeit uicht einverstanden
sei, werde aus der ersten Spalte seines Wochenblatts Erbauung und Frende schöpfen.
Dasselbe wird man dem vorliegende» dritten Bcindchcn der originellen Predigt-
sammlung zugestehen müssen. — Mit Christentums Ende (Hann.-Münden,
Reinhold Werther, 1398) meint der Verfasser, Friedrich Nonnemann, daß das
kirchliche Christentum in ein wahrhaftiges, subjektives, dem der enden Mystiker ähn¬
liches auslausen soll. Er hat die dialogische Form gewählt; der tiefgläubige Titus
bekehrt deu Weltmann Lau und deu Zweifler Thomas. — Woher nun auch deu
vielen ratlosem Christen unsrer Zeit zuletzt Rat und Hilfe kommen mag, sicherlich
wird sie uicht aus der Theologie kommen, die, wie es scheint, nur aufzulösen ver¬
steht. Das sehen mir wieder aus des Kirchenrechtslehrers Thudichum Schrift:
Kirchliche Fälschungen (Stuttgart, E. Hauff, 1898). Das vorliegende erste
Heft behandelt das apostolische und das athanasicinische Glaubensbekenntnis als
Fälschungen. Gewiß ist es bei der Entstehung aller kirchliche» Glaubensbekenntnisse
recht menschlich zugegangen, trotzdem aber sind diese ein Schatz ewiger Wahrheiten.
In der „Zeugung" des Sohnes sieht der Verfasser eine „unheilige" aus der grie¬
chischen Mythologie geschöpfte, höchst anstößige Vorstellung. Warum nicht in ihr
den Ausdruck der metaphysischen Wahrheit sehen, daß Gott vor der Schöpfung
differenzirt gedacht werden muß, wenn er überhaupt gedacht, und persönlich gedacht
werden soll? Und warum uicht die menschliche Zeugung, die gar nichts Unheiliges,
sondern etwas sehr Heiliges ist, als das irdische Abbild des für uns unerforsch-
lichen vorweltlichen Prozesses im Schoße der Gottheit auffasse»? Warum an die
Mythen von Kronos und Zeus (die übrigens ebenfalls Abbilder des Urbildes sind)
denken, wenn man christliche Gedichte hat wie den „Urquell" von Johannes vom
Kreuz? Darin heißt es u. a.:

Ich weiß, daß seine Flut so mächtig fließet,
Daß Hollen, Himmel, Völker sie beqießet;
Obgleichs bei Nacht ist.
Weiß, daß er einen Strom aus sich gebaret,
Der sich ihm gleich um Füll und Macht bewähret,
Obgleichs bei Nacht ist usw.

Sozialreformerischc Schriften haben wir in Deutschland so viele, daß sich der
Dr. M', E. Münstermann die Mühe, eine „nntorisirte deutsche Ausgabe" des
Freiheit und soziale Pflichten betitelten Buches von Adolf Prius, Univer-
sitätsprofessor und Generalinspektor des königlich belgischen Justizministeriums
(Berlin, Otto Liebmann, 1897) zu veranstalte«, hätte ersparen können. — Von
deutschen Büchern dieser Art, die ja ebenfalls zur Popularphilosophic gehören,
nennen wir heute: Deutsche Ziele und Aufgaben von Dr. G. Stille (Berlin
und Leipzig, Friedrich Luckhardt, 1898). Der Verfasser spricht die Hauptprobleme
unsers Volks- und Staatslebens aus ehrlicher Gesinnung und verständig durch,
ohne etwas neues beizubringen; er ist überzeugter Antisemit und glaubt dem Bunde
der Landwirte ein' wenig zu viel.




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[0724] Maßgebliches und Unnmßgebliches Gewehre entschied sich das Geschick des Tages.« Als sich der anwesende Schul¬ inspektor erkundigte, was das bedeute, mußte er ungesähr zwanzig Kinder fragen, bevor eine Antwort erfolgte." — Von Naumanns Zeitnngspredigten, die unter dem Titel Gvtteshilfe bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen gesondert er¬ scheinen, hat ein andrer Rezensent im Jahrgang 1896, Seite 523 des 2. Bandes gesagt, auch wer mit des Verfassers sozialpolitischer Thätigkeit uicht einverstanden sei, werde aus der ersten Spalte seines Wochenblatts Erbauung und Frende schöpfen. Dasselbe wird man dem vorliegende» dritten Bcindchcn der originellen Predigt- sammlung zugestehen müssen. — Mit Christentums Ende (Hann.-Münden, Reinhold Werther, 1398) meint der Verfasser, Friedrich Nonnemann, daß das kirchliche Christentum in ein wahrhaftiges, subjektives, dem der enden Mystiker ähn¬ liches auslausen soll. Er hat die dialogische Form gewählt; der tiefgläubige Titus bekehrt deu Weltmann Lau und deu Zweifler Thomas. — Woher nun auch deu vielen ratlosem Christen unsrer Zeit zuletzt Rat und Hilfe kommen mag, sicherlich wird sie uicht aus der Theologie kommen, die, wie es scheint, nur aufzulösen ver¬ steht. Das sehen mir wieder aus des Kirchenrechtslehrers Thudichum Schrift: Kirchliche Fälschungen (Stuttgart, E. Hauff, 1898). Das vorliegende erste Heft behandelt das apostolische und das athanasicinische Glaubensbekenntnis als Fälschungen. Gewiß ist es bei der Entstehung aller kirchliche» Glaubensbekenntnisse recht menschlich zugegangen, trotzdem aber sind diese ein Schatz ewiger Wahrheiten. In der „Zeugung" des Sohnes sieht der Verfasser eine „unheilige" aus der grie¬ chischen Mythologie geschöpfte, höchst anstößige Vorstellung. Warum nicht in ihr den Ausdruck der metaphysischen Wahrheit sehen, daß Gott vor der Schöpfung differenzirt gedacht werden muß, wenn er überhaupt gedacht, und persönlich gedacht werden soll? Und warum uicht die menschliche Zeugung, die gar nichts Unheiliges, sondern etwas sehr Heiliges ist, als das irdische Abbild des für uns unerforsch- lichen vorweltlichen Prozesses im Schoße der Gottheit auffasse»? Warum an die Mythen von Kronos und Zeus (die übrigens ebenfalls Abbilder des Urbildes sind) denken, wenn man christliche Gedichte hat wie den „Urquell" von Johannes vom Kreuz? Darin heißt es u. a.: Ich weiß, daß seine Flut so mächtig fließet, Daß Hollen, Himmel, Völker sie beqießet; Obgleichs bei Nacht ist. Weiß, daß er einen Strom aus sich gebaret, Der sich ihm gleich um Füll und Macht bewähret, Obgleichs bei Nacht ist usw. Sozialreformerischc Schriften haben wir in Deutschland so viele, daß sich der Dr. M', E. Münstermann die Mühe, eine „nntorisirte deutsche Ausgabe" des Freiheit und soziale Pflichten betitelten Buches von Adolf Prius, Univer- sitätsprofessor und Generalinspektor des königlich belgischen Justizministeriums (Berlin, Otto Liebmann, 1897) zu veranstalte«, hätte ersparen können. — Von deutschen Büchern dieser Art, die ja ebenfalls zur Popularphilosophic gehören, nennen wir heute: Deutsche Ziele und Aufgaben von Dr. G. Stille (Berlin und Leipzig, Friedrich Luckhardt, 1898). Der Verfasser spricht die Hauptprobleme unsers Volks- und Staatslebens aus ehrlicher Gesinnung und verständig durch, ohne etwas neues beizubringen; er ist überzeugter Antisemit und glaubt dem Bunde der Landwirte ein' wenig zu viel. Orenzboten IV 1898W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/724>, abgerufen am 12.12.2024.