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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Zur äußern Geschichte unsrer Sprache

neunte Jahrhundert bringt außer einer Fülle mundartlich gefärbter Namens¬
und Glossenaufzeichnungen größere Werke und Bruchstücke, die zwar lautlich
auch noch durchaus mundartlich geschieden sind, aber auf Grund ihrer reichen,
fast ganz übereinstimmenden Syntax von einer deutscheu Schriftsprache mit Fug
und Recht zu reden erlauben. In das zehnte Jahrhundert fallen dann wieder
kleinere poetische Denkmäler, um 1000 hat Roller gearbeitet, das elfte Jahr¬
hundert bringt eine Menge Übersetzungen kirchlicher, namentlich liturgischer
und katechetischer Litteratur, und das zwölfte dann einen reichen Strom deutschen
Schrifttums neben der immer noch in viel größerer Breite dahin fließenden
lateinischen Litteratur. Während anfangs Süddeutschland voran ist, kommt es
im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zu einer stärkern Beteiligung
Mitteldeutschlands, und neben die Dichtung, die bis jetzt den Löwenanteil hatte,
tritt nun auch deutsche Prosa auf theologischen, juristischem und auch historischem
Gebiete: die Predigtlitteratur schwillt rasch sehr an, namentlich durch die Mystiker,
neben die Reimchroniken tritt die erste Weltchronik in niederdeutscher Prosa, und
der Sachsenspiegel und seine jüngern süddeutschen Geschwister bezeugen eine
schriftmäßige deutsche Nechtsprosa. Am eingehendste" läßt sich das Aufkommen
deutscher Prosa neben der lateinischen an den Urkunden verfolgen. Der Süd¬
westen geht voran. 1260 sind deutsche Urkunden schon häufig in Straßburg,
1280 in Augsburg; erst 1320 wurden sie es in Speyer, 1330 in Worms,
1340 in Halberstadt, 1350 in Leipzig, und in einem oberschlesischen Kloster
taucht die erste deutsche Urkunde erst 1390 ans, und bis 1430 bleiben hier
deutsche Urkunden vereinzelt. Die Reichskanzlei nimmt eine mittlere Stellung
ein: unter den Königsurkunden sind deutsche häufig seit Ludwig dem Bayern.
Das vierzehnte Jahrhundert räumt der Muttersprache neue Gebiete ein in der
historischen Erzählung und einer immer breiter um sich greifenden Bibelübersetzung,
das fünfzehnte mit der Ausbildung belletristischer Prosa und einer reichen
Andachts- und biblischen Litteratur, und den gewaltigsten Aufschwung bringt
dann die Reformation. Freilich hat der Humanismus noch einmal deutlich
Abbruch gethan: 1570 find siebzig Prozent der in Deutschland gedruckten
Bücher lateinisch abgefaßt; erst über hundert Jahre später gewinnt das
Deutsche in raschem Anlauf den Sieg. Im Jahre 1681 sind die deutschen
Bücher zum erstenmal in der Mehrzahl, 1691 die lateinischen zum letztenmal.
Im Jahre 1730 beträgt die lateinisch geschriebn? Litteratur auf deutschem
Boden noch dreißig Prozent des Büchermarktes, nimmt aber rasch weiter ab.
Von 1750 bis 1780 hat es dann noch einmal eine französische Invasion von
immerhin zehn Prozent gegeben; erst zu Ende des Jahrhunderts ist die Litteratur
der Deutschen zum erstenmal auch ihrer Sprache uach ganz deutsch.

Dieselbe Zeit hat auch erst die völlige Einigung unsrer Schriftsprache
gebracht. Die ersten deutlichen Anfänge, mundartliche Eigentümlichkeiten in
Litteraturwerkeu zu vermeiden, fallen freilich schon ins zwölfte Jahrhundert.


Zur äußern Geschichte unsrer Sprache

neunte Jahrhundert bringt außer einer Fülle mundartlich gefärbter Namens¬
und Glossenaufzeichnungen größere Werke und Bruchstücke, die zwar lautlich
auch noch durchaus mundartlich geschieden sind, aber auf Grund ihrer reichen,
fast ganz übereinstimmenden Syntax von einer deutscheu Schriftsprache mit Fug
und Recht zu reden erlauben. In das zehnte Jahrhundert fallen dann wieder
kleinere poetische Denkmäler, um 1000 hat Roller gearbeitet, das elfte Jahr¬
hundert bringt eine Menge Übersetzungen kirchlicher, namentlich liturgischer
und katechetischer Litteratur, und das zwölfte dann einen reichen Strom deutschen
Schrifttums neben der immer noch in viel größerer Breite dahin fließenden
lateinischen Litteratur. Während anfangs Süddeutschland voran ist, kommt es
im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zu einer stärkern Beteiligung
Mitteldeutschlands, und neben die Dichtung, die bis jetzt den Löwenanteil hatte,
tritt nun auch deutsche Prosa auf theologischen, juristischem und auch historischem
Gebiete: die Predigtlitteratur schwillt rasch sehr an, namentlich durch die Mystiker,
neben die Reimchroniken tritt die erste Weltchronik in niederdeutscher Prosa, und
der Sachsenspiegel und seine jüngern süddeutschen Geschwister bezeugen eine
schriftmäßige deutsche Nechtsprosa. Am eingehendste» läßt sich das Aufkommen
deutscher Prosa neben der lateinischen an den Urkunden verfolgen. Der Süd¬
westen geht voran. 1260 sind deutsche Urkunden schon häufig in Straßburg,
1280 in Augsburg; erst 1320 wurden sie es in Speyer, 1330 in Worms,
1340 in Halberstadt, 1350 in Leipzig, und in einem oberschlesischen Kloster
taucht die erste deutsche Urkunde erst 1390 ans, und bis 1430 bleiben hier
deutsche Urkunden vereinzelt. Die Reichskanzlei nimmt eine mittlere Stellung
ein: unter den Königsurkunden sind deutsche häufig seit Ludwig dem Bayern.
Das vierzehnte Jahrhundert räumt der Muttersprache neue Gebiete ein in der
historischen Erzählung und einer immer breiter um sich greifenden Bibelübersetzung,
das fünfzehnte mit der Ausbildung belletristischer Prosa und einer reichen
Andachts- und biblischen Litteratur, und den gewaltigsten Aufschwung bringt
dann die Reformation. Freilich hat der Humanismus noch einmal deutlich
Abbruch gethan: 1570 find siebzig Prozent der in Deutschland gedruckten
Bücher lateinisch abgefaßt; erst über hundert Jahre später gewinnt das
Deutsche in raschem Anlauf den Sieg. Im Jahre 1681 sind die deutschen
Bücher zum erstenmal in der Mehrzahl, 1691 die lateinischen zum letztenmal.
Im Jahre 1730 beträgt die lateinisch geschriebn? Litteratur auf deutschem
Boden noch dreißig Prozent des Büchermarktes, nimmt aber rasch weiter ab.
Von 1750 bis 1780 hat es dann noch einmal eine französische Invasion von
immerhin zehn Prozent gegeben; erst zu Ende des Jahrhunderts ist die Litteratur
der Deutschen zum erstenmal auch ihrer Sprache uach ganz deutsch.

Dieselbe Zeit hat auch erst die völlige Einigung unsrer Schriftsprache
gebracht. Die ersten deutlichen Anfänge, mundartliche Eigentümlichkeiten in
Litteraturwerkeu zu vermeiden, fallen freilich schon ins zwölfte Jahrhundert.


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[0714] Zur äußern Geschichte unsrer Sprache neunte Jahrhundert bringt außer einer Fülle mundartlich gefärbter Namens¬ und Glossenaufzeichnungen größere Werke und Bruchstücke, die zwar lautlich auch noch durchaus mundartlich geschieden sind, aber auf Grund ihrer reichen, fast ganz übereinstimmenden Syntax von einer deutscheu Schriftsprache mit Fug und Recht zu reden erlauben. In das zehnte Jahrhundert fallen dann wieder kleinere poetische Denkmäler, um 1000 hat Roller gearbeitet, das elfte Jahr¬ hundert bringt eine Menge Übersetzungen kirchlicher, namentlich liturgischer und katechetischer Litteratur, und das zwölfte dann einen reichen Strom deutschen Schrifttums neben der immer noch in viel größerer Breite dahin fließenden lateinischen Litteratur. Während anfangs Süddeutschland voran ist, kommt es im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zu einer stärkern Beteiligung Mitteldeutschlands, und neben die Dichtung, die bis jetzt den Löwenanteil hatte, tritt nun auch deutsche Prosa auf theologischen, juristischem und auch historischem Gebiete: die Predigtlitteratur schwillt rasch sehr an, namentlich durch die Mystiker, neben die Reimchroniken tritt die erste Weltchronik in niederdeutscher Prosa, und der Sachsenspiegel und seine jüngern süddeutschen Geschwister bezeugen eine schriftmäßige deutsche Nechtsprosa. Am eingehendste» läßt sich das Aufkommen deutscher Prosa neben der lateinischen an den Urkunden verfolgen. Der Süd¬ westen geht voran. 1260 sind deutsche Urkunden schon häufig in Straßburg, 1280 in Augsburg; erst 1320 wurden sie es in Speyer, 1330 in Worms, 1340 in Halberstadt, 1350 in Leipzig, und in einem oberschlesischen Kloster taucht die erste deutsche Urkunde erst 1390 ans, und bis 1430 bleiben hier deutsche Urkunden vereinzelt. Die Reichskanzlei nimmt eine mittlere Stellung ein: unter den Königsurkunden sind deutsche häufig seit Ludwig dem Bayern. Das vierzehnte Jahrhundert räumt der Muttersprache neue Gebiete ein in der historischen Erzählung und einer immer breiter um sich greifenden Bibelübersetzung, das fünfzehnte mit der Ausbildung belletristischer Prosa und einer reichen Andachts- und biblischen Litteratur, und den gewaltigsten Aufschwung bringt dann die Reformation. Freilich hat der Humanismus noch einmal deutlich Abbruch gethan: 1570 find siebzig Prozent der in Deutschland gedruckten Bücher lateinisch abgefaßt; erst über hundert Jahre später gewinnt das Deutsche in raschem Anlauf den Sieg. Im Jahre 1681 sind die deutschen Bücher zum erstenmal in der Mehrzahl, 1691 die lateinischen zum letztenmal. Im Jahre 1730 beträgt die lateinisch geschriebn? Litteratur auf deutschem Boden noch dreißig Prozent des Büchermarktes, nimmt aber rasch weiter ab. Von 1750 bis 1780 hat es dann noch einmal eine französische Invasion von immerhin zehn Prozent gegeben; erst zu Ende des Jahrhunderts ist die Litteratur der Deutschen zum erstenmal auch ihrer Sprache uach ganz deutsch. Dieselbe Zeit hat auch erst die völlige Einigung unsrer Schriftsprache gebracht. Die ersten deutlichen Anfänge, mundartliche Eigentümlichkeiten in Litteraturwerkeu zu vermeiden, fallen freilich schon ins zwölfte Jahrhundert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/714>, abgerufen am 24.07.2024.