Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur äußern Geschichte unsrer Sprache

nach 1400 greift das Deutschtum in Pommern und auf Rügen um sich. In
Böhmen tritt freilich im fünfzehnten Jahrhundert schon der Rückschlag ein,
Hand in Hand mit der politischen Selbständigwerdung des Landes und dem
Erschlaffen der Reichsgewalt wie des deutschen Einflusses überhaupt im Osten.
Überall hört das Wachstum nun bald auf, und im äußersten Nordosten und
Südosten wird sogar das Gewonnene wieder eingedämmt, eine ähnliche Er¬
scheinung wie in der zweite" Hälfte des Jahrtausends an der romanischen
Grenze. Nur im Norden ist das Deutsche seit den Tagen Karls des Großen
in beständigem Fortschreiten gegenüber dem Dänischen und dem Friesischen.

Die Mundartengrenzen innerhalb der deutschen Sprache haben sich seit
Jahrhunderten ungestört erhalten. Die einzige Verschiebung, die sich beobachten
läßt, ist ein kleines Vorrücken des Hochdeutsche" gegen das niederdeutsche im
fünfzehnten Jahrhundert. Während früher Eisleben, Merseburg, Halle und
Wittenberg noch niederdeutsch gesprochen hatten, läuft die Dialektgrenze nun
von der Gegend unmittelbar nördlich von Kassel zur Elbe dicht oberhalb
Magdeburgs und dann ans Lübben zu. Das hängt mit der Entwicklung der
deutschen Schriftsprache zusammen.

Die erste Hälfte unsers Jahrtausends ist für die neuern europäischen
Kulturvölker die Zeit, wo sich nationale Schriftsprachen gegenüber dem Latein
als der universalen Schriftsprache des Mittelalters durchgesetzt haben. Es ist
gewiß kein bloßer Zufall, daß die Anfänge der deutschen Schriftsprache mit den
Anfängen unsers Nationalbewußtseins zeitlich zusammenfallen, beide beruhen auf
dem Erwachen des Gefühls von einem allen deutschen Stämmen gemeinsamen
eignen Werte. Das Wort deutsch selbst (es bedeutet eigentlich: zum Volke
gehörig, volksmäßig), zuerst in der lateinischen Schriftsprache, d. h. Gebildeten-
und Gelehrtensprache, am Ende des achten Jahrhunderts als tdsoäisous nach¬
gewiesen, bezeugt die Erkenntnis der Eigentümlichkeit des heimischen Volkstums,
genauer ursprünglich bloß der heimischen Volkssprache, zunächst in gelehrten,
lateinisch gebildeten Kreisen. Der elsässische Mönch Otfried, der Verfasser
einer altdeutschen Evangeliendichtung aus der Mitte des neunten Jahrhunderts,
wendet tusoclisvus in seiner lateinischen Widmung wiederholt auf seine Sprache
an, in dein deutscheu Text dagegen braucht er statt dessen trsvkisli. Noch
schläft das Bewußtsein der gemeindeutschen Sprache. Ein Nachspiel zu seinem
späten Erwachen ist es, wenn sich bis tief ins sechzehnte Jahrhundert herein
(in poetischer Verwendung ja bis heute) der Plural deutsche Lande neben dem
Singular Deutschland behauptet, der doch auch schon im elften Jahrhundert
da ist. Etwa dieselben Jahrhunderte hat nun die deutsche Schriftsprache ge¬
braucht, sich ihren Platz zu erobern.

Auch sie setzt mit dem neunten Jahrhundert ein. Denn ans die vereinzelten
wcstfrcinkischen Namen des siebenten und die Se. Galler des achten Jahrhunderts
läßt sich der Begriff deutsche Schriftsprache noch nicht anwenden. Erst das


Zur äußern Geschichte unsrer Sprache

nach 1400 greift das Deutschtum in Pommern und auf Rügen um sich. In
Böhmen tritt freilich im fünfzehnten Jahrhundert schon der Rückschlag ein,
Hand in Hand mit der politischen Selbständigwerdung des Landes und dem
Erschlaffen der Reichsgewalt wie des deutschen Einflusses überhaupt im Osten.
Überall hört das Wachstum nun bald auf, und im äußersten Nordosten und
Südosten wird sogar das Gewonnene wieder eingedämmt, eine ähnliche Er¬
scheinung wie in der zweite» Hälfte des Jahrtausends an der romanischen
Grenze. Nur im Norden ist das Deutsche seit den Tagen Karls des Großen
in beständigem Fortschreiten gegenüber dem Dänischen und dem Friesischen.

Die Mundartengrenzen innerhalb der deutschen Sprache haben sich seit
Jahrhunderten ungestört erhalten. Die einzige Verschiebung, die sich beobachten
läßt, ist ein kleines Vorrücken des Hochdeutsche» gegen das niederdeutsche im
fünfzehnten Jahrhundert. Während früher Eisleben, Merseburg, Halle und
Wittenberg noch niederdeutsch gesprochen hatten, läuft die Dialektgrenze nun
von der Gegend unmittelbar nördlich von Kassel zur Elbe dicht oberhalb
Magdeburgs und dann ans Lübben zu. Das hängt mit der Entwicklung der
deutschen Schriftsprache zusammen.

Die erste Hälfte unsers Jahrtausends ist für die neuern europäischen
Kulturvölker die Zeit, wo sich nationale Schriftsprachen gegenüber dem Latein
als der universalen Schriftsprache des Mittelalters durchgesetzt haben. Es ist
gewiß kein bloßer Zufall, daß die Anfänge der deutschen Schriftsprache mit den
Anfängen unsers Nationalbewußtseins zeitlich zusammenfallen, beide beruhen auf
dem Erwachen des Gefühls von einem allen deutschen Stämmen gemeinsamen
eignen Werte. Das Wort deutsch selbst (es bedeutet eigentlich: zum Volke
gehörig, volksmäßig), zuerst in der lateinischen Schriftsprache, d. h. Gebildeten-
und Gelehrtensprache, am Ende des achten Jahrhunderts als tdsoäisous nach¬
gewiesen, bezeugt die Erkenntnis der Eigentümlichkeit des heimischen Volkstums,
genauer ursprünglich bloß der heimischen Volkssprache, zunächst in gelehrten,
lateinisch gebildeten Kreisen. Der elsässische Mönch Otfried, der Verfasser
einer altdeutschen Evangeliendichtung aus der Mitte des neunten Jahrhunderts,
wendet tusoclisvus in seiner lateinischen Widmung wiederholt auf seine Sprache
an, in dein deutscheu Text dagegen braucht er statt dessen trsvkisli. Noch
schläft das Bewußtsein der gemeindeutschen Sprache. Ein Nachspiel zu seinem
späten Erwachen ist es, wenn sich bis tief ins sechzehnte Jahrhundert herein
(in poetischer Verwendung ja bis heute) der Plural deutsche Lande neben dem
Singular Deutschland behauptet, der doch auch schon im elften Jahrhundert
da ist. Etwa dieselben Jahrhunderte hat nun die deutsche Schriftsprache ge¬
braucht, sich ihren Platz zu erobern.

Auch sie setzt mit dem neunten Jahrhundert ein. Denn ans die vereinzelten
wcstfrcinkischen Namen des siebenten und die Se. Galler des achten Jahrhunderts
läßt sich der Begriff deutsche Schriftsprache noch nicht anwenden. Erst das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0713" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229662"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur äußern Geschichte unsrer Sprache</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2470" prev="#ID_2469"> nach 1400 greift das Deutschtum in Pommern und auf Rügen um sich. In<lb/>
Böhmen tritt freilich im fünfzehnten Jahrhundert schon der Rückschlag ein,<lb/>
Hand in Hand mit der politischen Selbständigwerdung des Landes und dem<lb/>
Erschlaffen der Reichsgewalt wie des deutschen Einflusses überhaupt im Osten.<lb/>
Überall hört das Wachstum nun bald auf, und im äußersten Nordosten und<lb/>
Südosten wird sogar das Gewonnene wieder eingedämmt, eine ähnliche Er¬<lb/>
scheinung wie in der zweite» Hälfte des Jahrtausends an der romanischen<lb/>
Grenze. Nur im Norden ist das Deutsche seit den Tagen Karls des Großen<lb/>
in beständigem Fortschreiten gegenüber dem Dänischen und dem Friesischen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2471"> Die Mundartengrenzen innerhalb der deutschen Sprache haben sich seit<lb/>
Jahrhunderten ungestört erhalten. Die einzige Verschiebung, die sich beobachten<lb/>
läßt, ist ein kleines Vorrücken des Hochdeutsche» gegen das niederdeutsche im<lb/>
fünfzehnten Jahrhundert. Während früher Eisleben, Merseburg, Halle und<lb/>
Wittenberg noch niederdeutsch gesprochen hatten, läuft die Dialektgrenze nun<lb/>
von der Gegend unmittelbar nördlich von Kassel zur Elbe dicht oberhalb<lb/>
Magdeburgs und dann ans Lübben zu. Das hängt mit der Entwicklung der<lb/>
deutschen Schriftsprache zusammen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2472"> Die erste Hälfte unsers Jahrtausends ist für die neuern europäischen<lb/>
Kulturvölker die Zeit, wo sich nationale Schriftsprachen gegenüber dem Latein<lb/>
als der universalen Schriftsprache des Mittelalters durchgesetzt haben. Es ist<lb/>
gewiß kein bloßer Zufall, daß die Anfänge der deutschen Schriftsprache mit den<lb/>
Anfängen unsers Nationalbewußtseins zeitlich zusammenfallen, beide beruhen auf<lb/>
dem Erwachen des Gefühls von einem allen deutschen Stämmen gemeinsamen<lb/>
eignen Werte. Das Wort deutsch selbst (es bedeutet eigentlich: zum Volke<lb/>
gehörig, volksmäßig), zuerst in der lateinischen Schriftsprache, d. h. Gebildeten-<lb/>
und Gelehrtensprache, am Ende des achten Jahrhunderts als tdsoäisous nach¬<lb/>
gewiesen, bezeugt die Erkenntnis der Eigentümlichkeit des heimischen Volkstums,<lb/>
genauer ursprünglich bloß der heimischen Volkssprache, zunächst in gelehrten,<lb/>
lateinisch gebildeten Kreisen. Der elsässische Mönch Otfried, der Verfasser<lb/>
einer altdeutschen Evangeliendichtung aus der Mitte des neunten Jahrhunderts,<lb/>
wendet tusoclisvus in seiner lateinischen Widmung wiederholt auf seine Sprache<lb/>
an, in dein deutscheu Text dagegen braucht er statt dessen trsvkisli. Noch<lb/>
schläft das Bewußtsein der gemeindeutschen Sprache. Ein Nachspiel zu seinem<lb/>
späten Erwachen ist es, wenn sich bis tief ins sechzehnte Jahrhundert herein<lb/>
(in poetischer Verwendung ja bis heute) der Plural deutsche Lande neben dem<lb/>
Singular Deutschland behauptet, der doch auch schon im elften Jahrhundert<lb/>
da ist. Etwa dieselben Jahrhunderte hat nun die deutsche Schriftsprache ge¬<lb/>
braucht, sich ihren Platz zu erobern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2473" next="#ID_2474"> Auch sie setzt mit dem neunten Jahrhundert ein. Denn ans die vereinzelten<lb/>
wcstfrcinkischen Namen des siebenten und die Se. Galler des achten Jahrhunderts<lb/>
läßt sich der Begriff deutsche Schriftsprache noch nicht anwenden.  Erst das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0713] Zur äußern Geschichte unsrer Sprache nach 1400 greift das Deutschtum in Pommern und auf Rügen um sich. In Böhmen tritt freilich im fünfzehnten Jahrhundert schon der Rückschlag ein, Hand in Hand mit der politischen Selbständigwerdung des Landes und dem Erschlaffen der Reichsgewalt wie des deutschen Einflusses überhaupt im Osten. Überall hört das Wachstum nun bald auf, und im äußersten Nordosten und Südosten wird sogar das Gewonnene wieder eingedämmt, eine ähnliche Er¬ scheinung wie in der zweite» Hälfte des Jahrtausends an der romanischen Grenze. Nur im Norden ist das Deutsche seit den Tagen Karls des Großen in beständigem Fortschreiten gegenüber dem Dänischen und dem Friesischen. Die Mundartengrenzen innerhalb der deutschen Sprache haben sich seit Jahrhunderten ungestört erhalten. Die einzige Verschiebung, die sich beobachten läßt, ist ein kleines Vorrücken des Hochdeutsche» gegen das niederdeutsche im fünfzehnten Jahrhundert. Während früher Eisleben, Merseburg, Halle und Wittenberg noch niederdeutsch gesprochen hatten, läuft die Dialektgrenze nun von der Gegend unmittelbar nördlich von Kassel zur Elbe dicht oberhalb Magdeburgs und dann ans Lübben zu. Das hängt mit der Entwicklung der deutschen Schriftsprache zusammen. Die erste Hälfte unsers Jahrtausends ist für die neuern europäischen Kulturvölker die Zeit, wo sich nationale Schriftsprachen gegenüber dem Latein als der universalen Schriftsprache des Mittelalters durchgesetzt haben. Es ist gewiß kein bloßer Zufall, daß die Anfänge der deutschen Schriftsprache mit den Anfängen unsers Nationalbewußtseins zeitlich zusammenfallen, beide beruhen auf dem Erwachen des Gefühls von einem allen deutschen Stämmen gemeinsamen eignen Werte. Das Wort deutsch selbst (es bedeutet eigentlich: zum Volke gehörig, volksmäßig), zuerst in der lateinischen Schriftsprache, d. h. Gebildeten- und Gelehrtensprache, am Ende des achten Jahrhunderts als tdsoäisous nach¬ gewiesen, bezeugt die Erkenntnis der Eigentümlichkeit des heimischen Volkstums, genauer ursprünglich bloß der heimischen Volkssprache, zunächst in gelehrten, lateinisch gebildeten Kreisen. Der elsässische Mönch Otfried, der Verfasser einer altdeutschen Evangeliendichtung aus der Mitte des neunten Jahrhunderts, wendet tusoclisvus in seiner lateinischen Widmung wiederholt auf seine Sprache an, in dein deutscheu Text dagegen braucht er statt dessen trsvkisli. Noch schläft das Bewußtsein der gemeindeutschen Sprache. Ein Nachspiel zu seinem späten Erwachen ist es, wenn sich bis tief ins sechzehnte Jahrhundert herein (in poetischer Verwendung ja bis heute) der Plural deutsche Lande neben dem Singular Deutschland behauptet, der doch auch schon im elften Jahrhundert da ist. Etwa dieselben Jahrhunderte hat nun die deutsche Schriftsprache ge¬ braucht, sich ihren Platz zu erobern. Auch sie setzt mit dem neunten Jahrhundert ein. Denn ans die vereinzelten wcstfrcinkischen Namen des siebenten und die Se. Galler des achten Jahrhunderts läßt sich der Begriff deutsche Schriftsprache noch nicht anwenden. Erst das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/713
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/713>, abgerufen am 12.12.2024.