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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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gedient hat und vielleicht Reserveoffizier geworden ist, der ist meist unfähig,
ein Bauer zu sein. Auf unsern Bauerngütern von hundert bis vierhundert
Morgen darf sich der Besitzer nicht schämen, mitzuarbeiten und selbst die
Peitsche oder die Mistgabel in die Hand zu nehmen. Meint man: Wer es
nicht dazu hat, der mag es bleiben lassen und mag zwei Jahre dienen, so
kennt man nicht die Macht der Sitte und des falschen Ehrgeizes; schon die
Bauermädchen sagen: Wir nehmen keinen, der nicht die Schnüren hat. Was
für den Bauernstand gilt, wird auch für manche andre Schicht unsers Mittel¬
standes gelten, die Beamten nicht ausgenommen.

Was waren denn die Gründe für die Einrichtung des einjährigen
Dienstes? Man wollte ein angefangnes Studium nicht durch eine dreijährige
Dienstzeit unterbrechen, und man wollte die Jugend zum Besuch der höhern
Schulen anlocken. Beide Voraussetzungen treffen gegenwärtig nicht mehr
zu. Die dreijährige Dienstzeit besteht nicht mehr für die Fußtruppen; und
schon jetzt hat ein Einjähriger, der befördert worden ist und seiue Übungen
machen muß, fast anderthalb Jahre zu dienen. Aber am meisten haben
sich die Voraussetzungen für den zweiten Grund geändert. Statt zum
Besuch der höhern Schulen anzulocken, wäre es heutzutage gut, eher davon
abzuschrecken. Denn man spricht schon lange von einem Gelehrten- und
Abiturientenproletariat! Und kann man wirklich behaupten, daß durch die Ein¬
richtung des einjährigen Militärdienstes die wahre Bildung unsers Volkes
befördert worden sei? Wer ist gebildet? Eine Autorität in der Geschichte
unsers Bildungswesens, Professor Paulsen, sagt in Reims encyklopädischen
Handbuch der Pädagogik im Artikel Bildung (I, 414): "Für gebildet gilt, wer
nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß
und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden
kann. Ein Anzeichen der Bildung ist auch der Gebrauch von Fremdwörtern,
das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache fehlgreift,
der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die
Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann, das heißt ge¬
bildete Sprachen, französisch oder italienisch oder gar lateinisch und griechisch.
Damit kommen wir auf das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist,
wer eine höhere Schule durchgemacht, mindestens bis Untersekunda, natürlich
"mit Erfolg." Und der Erfolg besteht in dem Zeugnis sür den einjährigen
Militärdienst. So erwirbt man sich einen Rechtsanspruch darauf, von den
Ungebildeten abgesondert zu werden. Damit Hütten wir denn auch einen von
Staats wegen festgesetzten Maßstab der Bildung: es gehört dazu, was in den
sechs ersten Jahreskursen der höhern Schulen gelernt wird; ein wesentliches
Erfordernis sind zwei fremde Sprachen; Schulen, die nur eine fremde Sprache
treiben, werden grundsätzlich nicht als höhere anerkannt."

Trotz dieser etwas ironisch gehaltnen Definition könnte jemand doch noch


gedient hat und vielleicht Reserveoffizier geworden ist, der ist meist unfähig,
ein Bauer zu sein. Auf unsern Bauerngütern von hundert bis vierhundert
Morgen darf sich der Besitzer nicht schämen, mitzuarbeiten und selbst die
Peitsche oder die Mistgabel in die Hand zu nehmen. Meint man: Wer es
nicht dazu hat, der mag es bleiben lassen und mag zwei Jahre dienen, so
kennt man nicht die Macht der Sitte und des falschen Ehrgeizes; schon die
Bauermädchen sagen: Wir nehmen keinen, der nicht die Schnüren hat. Was
für den Bauernstand gilt, wird auch für manche andre Schicht unsers Mittel¬
standes gelten, die Beamten nicht ausgenommen.

Was waren denn die Gründe für die Einrichtung des einjährigen
Dienstes? Man wollte ein angefangnes Studium nicht durch eine dreijährige
Dienstzeit unterbrechen, und man wollte die Jugend zum Besuch der höhern
Schulen anlocken. Beide Voraussetzungen treffen gegenwärtig nicht mehr
zu. Die dreijährige Dienstzeit besteht nicht mehr für die Fußtruppen; und
schon jetzt hat ein Einjähriger, der befördert worden ist und seiue Übungen
machen muß, fast anderthalb Jahre zu dienen. Aber am meisten haben
sich die Voraussetzungen für den zweiten Grund geändert. Statt zum
Besuch der höhern Schulen anzulocken, wäre es heutzutage gut, eher davon
abzuschrecken. Denn man spricht schon lange von einem Gelehrten- und
Abiturientenproletariat! Und kann man wirklich behaupten, daß durch die Ein¬
richtung des einjährigen Militärdienstes die wahre Bildung unsers Volkes
befördert worden sei? Wer ist gebildet? Eine Autorität in der Geschichte
unsers Bildungswesens, Professor Paulsen, sagt in Reims encyklopädischen
Handbuch der Pädagogik im Artikel Bildung (I, 414): „Für gebildet gilt, wer
nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß
und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden
kann. Ein Anzeichen der Bildung ist auch der Gebrauch von Fremdwörtern,
das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache fehlgreift,
der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die
Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann, das heißt ge¬
bildete Sprachen, französisch oder italienisch oder gar lateinisch und griechisch.
Damit kommen wir auf das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist,
wer eine höhere Schule durchgemacht, mindestens bis Untersekunda, natürlich
»mit Erfolg.« Und der Erfolg besteht in dem Zeugnis sür den einjährigen
Militärdienst. So erwirbt man sich einen Rechtsanspruch darauf, von den
Ungebildeten abgesondert zu werden. Damit Hütten wir denn auch einen von
Staats wegen festgesetzten Maßstab der Bildung: es gehört dazu, was in den
sechs ersten Jahreskursen der höhern Schulen gelernt wird; ein wesentliches
Erfordernis sind zwei fremde Sprachen; Schulen, die nur eine fremde Sprache
treiben, werden grundsätzlich nicht als höhere anerkannt."

Trotz dieser etwas ironisch gehaltnen Definition könnte jemand doch noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/705>, abgerufen am 12.12.2024.