Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Meisterbücher und andre Erzählungen während sein Oberer in seiner Einfalt den römischen Gaunern, dem Augustiner- Paul Heyses Novellen unterscheiden sich von den landläufigen modernen zu¬ Paul Heyses Reich ist die große Welt. Wilhelm Raabe will ein Kleinstädter Meisterbücher und andre Erzählungen während sein Oberer in seiner Einfalt den römischen Gaunern, dem Augustiner- Paul Heyses Novellen unterscheiden sich von den landläufigen modernen zu¬ Paul Heyses Reich ist die große Welt. Wilhelm Raabe will ein Kleinstädter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0603" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229552"/> <fw type="header" place="top"> Meisterbücher und andre Erzählungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1909" prev="#ID_1908"> während sein Oberer in seiner Einfalt den römischen Gaunern, dem Augustiner-<lb/> dekcm und einem vorzüglich gezeichneten Humanisten, in die Hände arbeitet. Die<lb/> Handlung ist lebendig und spannend. An ihr nehmen viele Nebenpersonen teil,<lb/> darunter Naffciel, Michelangelo, sogar der junge Luther, serner ein Kardinal, und<lb/> im Hintergründe steht Papst Julius II. Dieses ausdrucksvolle Zeitbild zieht uns<lb/> immer aufs neue von der doch bescheidnen Handlung ab und fordert unsre ganz<lb/> besondre Bewundrung; alles ist echt und stilgerecht und beruht auf einem intimen<lb/> Studium, gegen das gehalten das Kostüm eines gewöhnlichen historischen Romans<lb/> äußerer Flitter ist. Nur in einem Punkte hat sich der kundige Verfasser versehen:<lb/> Hans Holbein „pflegte" dazumal noch keine Madonnen zu malen und konnte über¬<lb/> haupt sächsischen Mönchen um 1512 nicht bekannt fein. Was mag er aber unter<lb/> der „Stammmutter des Meister Massacio" (so!) in S. Maria del Popolo (S. 126)<lb/> verstanden haben? — Mögen sich unsre Leser den Genuß des gehaltvollen Buchs<lb/> nicht entgehen lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1910"> Paul Heyses Novellen unterscheiden sich von den landläufigen modernen zu¬<lb/> nächst dadurch vorteilhaft, daß sie uns mit Leuten besserer Gesellschaft in Be¬<lb/> rührung bringen, sie erfüllen aber hinsichtlich der Wirklichkeitsdarstellnng durchaus<lb/> moderne Ansprüche und erfreuen uns außerdem noch durch ihre künstlerische Aus¬<lb/> arbeitung, die ruhige Schönheit ihrer Form. Ästhetisch läßt sich also daraus lernen,<lb/> daß nicht jede Wirklichkeit die Form sprengen muß. Der Gegenstand der Dar¬<lb/> stellung ist, wie gewöhnlich bei Paul Heyse, „das Weib." Als arme Gouvernante<lb/> verschmäht es die Werbung des berufslosen „Sohnes seines Vaters," als „Medea"<lb/> geht es verlassen mit seinem Kinde in den Tod, als „Blaustrümpfchen" kostet es,<lb/> obwohl schon mit einem Landrichter verlobt, noch einmal vor der Hochzeit in<lb/> München die Freiheit eines schreibenden Fräuleins, in der „Freien Vereinigung,"<lb/> in einem Maleratelier, auf Visiten bei sehr verschieden untergebrachten einstigen<lb/> Pensionsgenossinnen, um dann für die schlichte bürgerliche Ehe umso empfänglicher<lb/> zu werden. Neben dem „Sohn seines Vaters" ist dies die hübscheste Geschichte.<lb/> Fein ist „Verratenes Glück," aber vielleicht ist die ihren Gatten verlassende Frau<lb/> zu fein gezeichnet, oder es wäre nicht zu begreifen, wie sie ein solches Mondkalb<lb/> heiraten konnte. In „Männertreu" besiegt eine Bühnenheldin einen trostlosen jungen<lb/> Witwer innerhalb weniger Tage, und man kann nicht sagen, daß das aufgeschnitten<lb/> oder unmöglich wäre! Paul Heyses Frauen vermögen bekanntlich viel. Und auch<lb/> dies ist charakteristisch: in dem ganzen Bande unter soviel temperamentvollen Weibern<lb/> lauter Waschlappen von Männern, nur der Landrichter, der sich das „Vlau-<lb/> strümpfchen" aus München zurückholt, macht eine Ausnahme! Alles in allem, diese<lb/> Novellen sind reizend, so hübsch, wie nur irgend welche des Dichters. Eine höhere<lb/> Lebensauffassung, die über das Diesseits hinaus noch etwas will, haben wir selbst¬<lb/> verständlich anderwärts zu suchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1911" next="#ID_1912"> Paul Heyses Reich ist die große Welt. Wilhelm Raabe will ein Kleinstädter<lb/> sein, darauf beruht ein großer Teil seiner Kunst. Ein Stück allernächster Heimat,<lb/> bis auf den Grund erforscht und aus aufgestöberten Urkunden erläutert, darin die<lb/> Menschen brav und tüchtig, nicht hochfliegend, etwas philiströs; Bösewichter kommen<lb/> nie vor, und was etwa ihre Stelle vertritt, ist so harmlos wie der Teufel auf<lb/> deu Bildern Fiesoles, dazu vielerlei Betrachtung des Schreibenden, geschichtliche<lb/> Ruck- und Vorausblicke, das sind die wesentlichen Bestandteile eines Naabischm<lb/> Romans, und daran würde auch „Hastenbeck" schon nach zwanzig Seiten, auch<lb/> wenn man den Namen des Verfassers nicht wüßte, erkennbar sein. Leopold Witte<lb/> von der Wendenstraße in Braunschweig, ein Blumenmaler der neuerdings in den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0603]
Meisterbücher und andre Erzählungen
während sein Oberer in seiner Einfalt den römischen Gaunern, dem Augustiner-
dekcm und einem vorzüglich gezeichneten Humanisten, in die Hände arbeitet. Die
Handlung ist lebendig und spannend. An ihr nehmen viele Nebenpersonen teil,
darunter Naffciel, Michelangelo, sogar der junge Luther, serner ein Kardinal, und
im Hintergründe steht Papst Julius II. Dieses ausdrucksvolle Zeitbild zieht uns
immer aufs neue von der doch bescheidnen Handlung ab und fordert unsre ganz
besondre Bewundrung; alles ist echt und stilgerecht und beruht auf einem intimen
Studium, gegen das gehalten das Kostüm eines gewöhnlichen historischen Romans
äußerer Flitter ist. Nur in einem Punkte hat sich der kundige Verfasser versehen:
Hans Holbein „pflegte" dazumal noch keine Madonnen zu malen und konnte über¬
haupt sächsischen Mönchen um 1512 nicht bekannt fein. Was mag er aber unter
der „Stammmutter des Meister Massacio" (so!) in S. Maria del Popolo (S. 126)
verstanden haben? — Mögen sich unsre Leser den Genuß des gehaltvollen Buchs
nicht entgehen lassen.
Paul Heyses Novellen unterscheiden sich von den landläufigen modernen zu¬
nächst dadurch vorteilhaft, daß sie uns mit Leuten besserer Gesellschaft in Be¬
rührung bringen, sie erfüllen aber hinsichtlich der Wirklichkeitsdarstellnng durchaus
moderne Ansprüche und erfreuen uns außerdem noch durch ihre künstlerische Aus¬
arbeitung, die ruhige Schönheit ihrer Form. Ästhetisch läßt sich also daraus lernen,
daß nicht jede Wirklichkeit die Form sprengen muß. Der Gegenstand der Dar¬
stellung ist, wie gewöhnlich bei Paul Heyse, „das Weib." Als arme Gouvernante
verschmäht es die Werbung des berufslosen „Sohnes seines Vaters," als „Medea"
geht es verlassen mit seinem Kinde in den Tod, als „Blaustrümpfchen" kostet es,
obwohl schon mit einem Landrichter verlobt, noch einmal vor der Hochzeit in
München die Freiheit eines schreibenden Fräuleins, in der „Freien Vereinigung,"
in einem Maleratelier, auf Visiten bei sehr verschieden untergebrachten einstigen
Pensionsgenossinnen, um dann für die schlichte bürgerliche Ehe umso empfänglicher
zu werden. Neben dem „Sohn seines Vaters" ist dies die hübscheste Geschichte.
Fein ist „Verratenes Glück," aber vielleicht ist die ihren Gatten verlassende Frau
zu fein gezeichnet, oder es wäre nicht zu begreifen, wie sie ein solches Mondkalb
heiraten konnte. In „Männertreu" besiegt eine Bühnenheldin einen trostlosen jungen
Witwer innerhalb weniger Tage, und man kann nicht sagen, daß das aufgeschnitten
oder unmöglich wäre! Paul Heyses Frauen vermögen bekanntlich viel. Und auch
dies ist charakteristisch: in dem ganzen Bande unter soviel temperamentvollen Weibern
lauter Waschlappen von Männern, nur der Landrichter, der sich das „Vlau-
strümpfchen" aus München zurückholt, macht eine Ausnahme! Alles in allem, diese
Novellen sind reizend, so hübsch, wie nur irgend welche des Dichters. Eine höhere
Lebensauffassung, die über das Diesseits hinaus noch etwas will, haben wir selbst¬
verständlich anderwärts zu suchen.
Paul Heyses Reich ist die große Welt. Wilhelm Raabe will ein Kleinstädter
sein, darauf beruht ein großer Teil seiner Kunst. Ein Stück allernächster Heimat,
bis auf den Grund erforscht und aus aufgestöberten Urkunden erläutert, darin die
Menschen brav und tüchtig, nicht hochfliegend, etwas philiströs; Bösewichter kommen
nie vor, und was etwa ihre Stelle vertritt, ist so harmlos wie der Teufel auf
deu Bildern Fiesoles, dazu vielerlei Betrachtung des Schreibenden, geschichtliche
Ruck- und Vorausblicke, das sind die wesentlichen Bestandteile eines Naabischm
Romans, und daran würde auch „Hastenbeck" schon nach zwanzig Seiten, auch
wenn man den Namen des Verfassers nicht wüßte, erkennbar sein. Leopold Witte
von der Wendenstraße in Braunschweig, ein Blumenmaler der neuerdings in den
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