Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

die ziemlich weitläufige Geschichte der immer wiederkehrenden Angst des Dichters
vor dem Russen im Sande verlaufen lassen und aus seinem übermäßig breit
wiedergegeben Tagebuch voll kleiner Leiden und noch kleinerer Zufälligkeiten
nur ein Erlebnis als charakteristisch für Strindbergs kleinlichen und seltsamen
Aberglauben herausheben: Am 2. Juni findet der Dichter drei genau herz-
förmige Kiesel von derselben Größe an zwei verschiednen Stellen und am
14. ein viertes Kiesclherz von der gleichen Art; als er dann abends die Glocken
läuten hört und vernimmt, daß das Fest von Sacre-Coeur sei, da "betrachtet
er jene vier zarten Steinhcrzen, durch das auffallende Zusammentreffen eigen¬
tümlich erregt" (S. 107). Uns aber fällt dabei Goethes Spruch ein:

Strindbergs Pariser Zeit nähert sich inzwischen ihrem Ende, ihrem gewalt¬
samen Ende. Zunächst verläßt er das Hotel Orfelia, weil er der festen Über¬
zeugung ist, daß ein Fremder ihn durch einen elektrischen Strom in seinem
Zimmer töten wolle. Aber an seinem neuen Wohnort beginnt erst die rechte
und wahre Hölle: nicht allein, daß neben, oben und unter ihm lärmende
Änderungen und Wohnungswechsel stattfinden, auch der tückische elektrische
Strom stellt sich wieder ein und vertreibt ihn jetzt endgiltig aus Paris nach
Dieppe zu einer befreundeten Familie. Dort geht es ihm aber nicht besser,
als er sich "in einem Anfall von Anmaßung und um die Unsichtbaren heraus¬
zufordern, vielleicht auch nur in der Absicht, ein physikalisches Experiment
zu machen, sich erhebt, die beiden Fenster öffnet und zwei Kerzen anzündet."
Nun "fühlt er zunächst etwas wie ein elektrisches Fluidum -- aber bald ist
sein Körper von einem Blitzschlag wie von einem elektrischen Fluidum über¬
laden, das ihn erstickt und ihm das Blut aussaugt" (S. 138). Am folgenden
Tage flieht er vor diesem Dämon weiter in ein Städtchen ganz im Süden
Schwedens zu einem Arzt, der den Kranken liebevoll aufnimmt, ihn aber von
seinen Zufällen ebensowenig zu heilen vermag, wie von seinem unbesiegbaren
Mißtrauen. Dreißig Tage hält Strindberg dort ans und nimmt dann eine
Einladung seiner mitleidigen Fran nach Österreich zu ihrer Mutter und seinem
Töchterchen an; seine Gattin wohnt weiter entfernt bei ihrer Großmutter
und bleibt dort auch, sodciß zwischen beiden auch jetzt und später kein Wieder¬
sehen stattfindet.

Die nächsten Kapitel, namentlich Beatrice (wieder eine deutliche Anspielung
auf Dante), machen im allgemeinen einen erfreulichem Eindruck, weil Strind¬
bergs Leiden unter dem Einfluß seiner guten Schwiegermutter und besonders
seines lieblichen Töchterchens Christine znnüchst mehr zurücktreten. Er wird
mit Svedenborg näher bekannt gemacht und erliegt infolge davon schließlich
doch wieder seiner alten Dämonie und seinen mystischen Phantastereien, ster


die ziemlich weitläufige Geschichte der immer wiederkehrenden Angst des Dichters
vor dem Russen im Sande verlaufen lassen und aus seinem übermäßig breit
wiedergegeben Tagebuch voll kleiner Leiden und noch kleinerer Zufälligkeiten
nur ein Erlebnis als charakteristisch für Strindbergs kleinlichen und seltsamen
Aberglauben herausheben: Am 2. Juni findet der Dichter drei genau herz-
förmige Kiesel von derselben Größe an zwei verschiednen Stellen und am
14. ein viertes Kiesclherz von der gleichen Art; als er dann abends die Glocken
läuten hört und vernimmt, daß das Fest von Sacre-Coeur sei, da „betrachtet
er jene vier zarten Steinhcrzen, durch das auffallende Zusammentreffen eigen¬
tümlich erregt" (S. 107). Uns aber fällt dabei Goethes Spruch ein:

Strindbergs Pariser Zeit nähert sich inzwischen ihrem Ende, ihrem gewalt¬
samen Ende. Zunächst verläßt er das Hotel Orfelia, weil er der festen Über¬
zeugung ist, daß ein Fremder ihn durch einen elektrischen Strom in seinem
Zimmer töten wolle. Aber an seinem neuen Wohnort beginnt erst die rechte
und wahre Hölle: nicht allein, daß neben, oben und unter ihm lärmende
Änderungen und Wohnungswechsel stattfinden, auch der tückische elektrische
Strom stellt sich wieder ein und vertreibt ihn jetzt endgiltig aus Paris nach
Dieppe zu einer befreundeten Familie. Dort geht es ihm aber nicht besser,
als er sich „in einem Anfall von Anmaßung und um die Unsichtbaren heraus¬
zufordern, vielleicht auch nur in der Absicht, ein physikalisches Experiment
zu machen, sich erhebt, die beiden Fenster öffnet und zwei Kerzen anzündet."
Nun „fühlt er zunächst etwas wie ein elektrisches Fluidum — aber bald ist
sein Körper von einem Blitzschlag wie von einem elektrischen Fluidum über¬
laden, das ihn erstickt und ihm das Blut aussaugt" (S. 138). Am folgenden
Tage flieht er vor diesem Dämon weiter in ein Städtchen ganz im Süden
Schwedens zu einem Arzt, der den Kranken liebevoll aufnimmt, ihn aber von
seinen Zufällen ebensowenig zu heilen vermag, wie von seinem unbesiegbaren
Mißtrauen. Dreißig Tage hält Strindberg dort ans und nimmt dann eine
Einladung seiner mitleidigen Fran nach Österreich zu ihrer Mutter und seinem
Töchterchen an; seine Gattin wohnt weiter entfernt bei ihrer Großmutter
und bleibt dort auch, sodciß zwischen beiden auch jetzt und später kein Wieder¬
sehen stattfindet.

Die nächsten Kapitel, namentlich Beatrice (wieder eine deutliche Anspielung
auf Dante), machen im allgemeinen einen erfreulichem Eindruck, weil Strind¬
bergs Leiden unter dem Einfluß seiner guten Schwiegermutter und besonders
seines lieblichen Töchterchens Christine znnüchst mehr zurücktreten. Er wird
mit Svedenborg näher bekannt gemacht und erliegt infolge davon schließlich
doch wieder seiner alten Dämonie und seinen mystischen Phantastereien, ster


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0598" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229547"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1896" prev="#ID_1895"> die ziemlich weitläufige Geschichte der immer wiederkehrenden Angst des Dichters<lb/>
vor dem Russen im Sande verlaufen lassen und aus seinem übermäßig breit<lb/>
wiedergegeben Tagebuch voll kleiner Leiden und noch kleinerer Zufälligkeiten<lb/>
nur ein Erlebnis als charakteristisch für Strindbergs kleinlichen und seltsamen<lb/>
Aberglauben herausheben: Am 2. Juni findet der Dichter drei genau herz-<lb/>
förmige Kiesel von derselben Größe an zwei verschiednen Stellen und am<lb/>
14. ein viertes Kiesclherz von der gleichen Art; als er dann abends die Glocken<lb/>
läuten hört und vernimmt, daß das Fest von Sacre-Coeur sei, da &#x201E;betrachtet<lb/>
er jene vier zarten Steinhcrzen, durch das auffallende Zusammentreffen eigen¬<lb/>
tümlich erregt" (S. 107).  Uns aber fällt dabei Goethes Spruch ein:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_22" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1897"> Strindbergs Pariser Zeit nähert sich inzwischen ihrem Ende, ihrem gewalt¬<lb/>
samen Ende. Zunächst verläßt er das Hotel Orfelia, weil er der festen Über¬<lb/>
zeugung ist, daß ein Fremder ihn durch einen elektrischen Strom in seinem<lb/>
Zimmer töten wolle. Aber an seinem neuen Wohnort beginnt erst die rechte<lb/>
und wahre Hölle: nicht allein, daß neben, oben und unter ihm lärmende<lb/>
Änderungen und Wohnungswechsel stattfinden, auch der tückische elektrische<lb/>
Strom stellt sich wieder ein und vertreibt ihn jetzt endgiltig aus Paris nach<lb/>
Dieppe zu einer befreundeten Familie. Dort geht es ihm aber nicht besser,<lb/>
als er sich &#x201E;in einem Anfall von Anmaßung und um die Unsichtbaren heraus¬<lb/>
zufordern, vielleicht auch nur in der Absicht, ein physikalisches Experiment<lb/>
zu machen, sich erhebt, die beiden Fenster öffnet und zwei Kerzen anzündet."<lb/>
Nun &#x201E;fühlt er zunächst etwas wie ein elektrisches Fluidum &#x2014; aber bald ist<lb/>
sein Körper von einem Blitzschlag wie von einem elektrischen Fluidum über¬<lb/>
laden, das ihn erstickt und ihm das Blut aussaugt" (S. 138). Am folgenden<lb/>
Tage flieht er vor diesem Dämon weiter in ein Städtchen ganz im Süden<lb/>
Schwedens zu einem Arzt, der den Kranken liebevoll aufnimmt, ihn aber von<lb/>
seinen Zufällen ebensowenig zu heilen vermag, wie von seinem unbesiegbaren<lb/>
Mißtrauen. Dreißig Tage hält Strindberg dort ans und nimmt dann eine<lb/>
Einladung seiner mitleidigen Fran nach Österreich zu ihrer Mutter und seinem<lb/>
Töchterchen an; seine Gattin wohnt weiter entfernt bei ihrer Großmutter<lb/>
und bleibt dort auch, sodciß zwischen beiden auch jetzt und später kein Wieder¬<lb/>
sehen stattfindet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1898" next="#ID_1899"> Die nächsten Kapitel, namentlich Beatrice (wieder eine deutliche Anspielung<lb/>
auf Dante), machen im allgemeinen einen erfreulichem Eindruck, weil Strind¬<lb/>
bergs Leiden unter dem Einfluß seiner guten Schwiegermutter und besonders<lb/>
seines lieblichen Töchterchens Christine znnüchst mehr zurücktreten. Er wird<lb/>
mit Svedenborg näher bekannt gemacht und erliegt infolge davon schließlich<lb/>
doch wieder seiner alten Dämonie und seinen mystischen Phantastereien, ster</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0598] die ziemlich weitläufige Geschichte der immer wiederkehrenden Angst des Dichters vor dem Russen im Sande verlaufen lassen und aus seinem übermäßig breit wiedergegeben Tagebuch voll kleiner Leiden und noch kleinerer Zufälligkeiten nur ein Erlebnis als charakteristisch für Strindbergs kleinlichen und seltsamen Aberglauben herausheben: Am 2. Juni findet der Dichter drei genau herz- förmige Kiesel von derselben Größe an zwei verschiednen Stellen und am 14. ein viertes Kiesclherz von der gleichen Art; als er dann abends die Glocken läuten hört und vernimmt, daß das Fest von Sacre-Coeur sei, da „betrachtet er jene vier zarten Steinhcrzen, durch das auffallende Zusammentreffen eigen¬ tümlich erregt" (S. 107). Uns aber fällt dabei Goethes Spruch ein: Strindbergs Pariser Zeit nähert sich inzwischen ihrem Ende, ihrem gewalt¬ samen Ende. Zunächst verläßt er das Hotel Orfelia, weil er der festen Über¬ zeugung ist, daß ein Fremder ihn durch einen elektrischen Strom in seinem Zimmer töten wolle. Aber an seinem neuen Wohnort beginnt erst die rechte und wahre Hölle: nicht allein, daß neben, oben und unter ihm lärmende Änderungen und Wohnungswechsel stattfinden, auch der tückische elektrische Strom stellt sich wieder ein und vertreibt ihn jetzt endgiltig aus Paris nach Dieppe zu einer befreundeten Familie. Dort geht es ihm aber nicht besser, als er sich „in einem Anfall von Anmaßung und um die Unsichtbaren heraus¬ zufordern, vielleicht auch nur in der Absicht, ein physikalisches Experiment zu machen, sich erhebt, die beiden Fenster öffnet und zwei Kerzen anzündet." Nun „fühlt er zunächst etwas wie ein elektrisches Fluidum — aber bald ist sein Körper von einem Blitzschlag wie von einem elektrischen Fluidum über¬ laden, das ihn erstickt und ihm das Blut aussaugt" (S. 138). Am folgenden Tage flieht er vor diesem Dämon weiter in ein Städtchen ganz im Süden Schwedens zu einem Arzt, der den Kranken liebevoll aufnimmt, ihn aber von seinen Zufällen ebensowenig zu heilen vermag, wie von seinem unbesiegbaren Mißtrauen. Dreißig Tage hält Strindberg dort ans und nimmt dann eine Einladung seiner mitleidigen Fran nach Österreich zu ihrer Mutter und seinem Töchterchen an; seine Gattin wohnt weiter entfernt bei ihrer Großmutter und bleibt dort auch, sodciß zwischen beiden auch jetzt und später kein Wieder¬ sehen stattfindet. Die nächsten Kapitel, namentlich Beatrice (wieder eine deutliche Anspielung auf Dante), machen im allgemeinen einen erfreulichem Eindruck, weil Strind¬ bergs Leiden unter dem Einfluß seiner guten Schwiegermutter und besonders seines lieblichen Töchterchens Christine znnüchst mehr zurücktreten. Er wird mit Svedenborg näher bekannt gemacht und erliegt infolge davon schließlich doch wieder seiner alten Dämonie und seinen mystischen Phantastereien, ster

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/598
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/598>, abgerufen am 04.07.2024.