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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Deportationsfrage vor dein deutschen Juristentage in Posen

unheilbaren Gebrechen, daß sie den aus der Strafhaft Entlassener regelmäßig
an seinem Fortkommen hindern. Der entlassene Zuchthäusler vermag sich bei
dem Arbeitgeber nicht gehörig zu legitimiren, und glückt es ihm, Unterkommen
und Arbeit zu finden, so wird er, wenn seine Vergangenheit ruchbar wird, un¬
barmherzig entlassen; denn das Vorurteil gegen einen aus dem Zuchthause
Entlassener ist, so bedauerlich es auch sein mag, allgemein. Es besteht beim
Arbeitgeber, sowie bei den unbescholtnen Arbeitsgenossen.

Ein andrer nicht genug gewürdigter Mangel langdauernder Freiheitsstrafen
ist die durch die Haft hervorgerufene Stumpfheit. Das ist der Fluch aller
langzeitigen Freiheitsstrafen, daß sie den Sträfling, für den eine Reihe von
Jahren von Staats wegen gesorgt worden ist, unfähig machen, sich aus eigner
Kraft eine Existenz zu gründen. Durch die unnatürliche Beschränkung seiner
persönlichen Freiheit hat er aber nicht nur verlernt, auf eignen Füßen zu
stehen, er ist auch in der Regel durch die lange Hast zu andauernder Arbeit
körperlich und geistig unbrauchbar geworden. Zu diesen schwerwiegenden Ge¬
brechen unsrer Freiheitsstrafen tritt noch der nicht zu unterschützende Nachteil,
daß die Sträflinge in unsern Strafanstalten der ehrlichen Arbeit Konkurrenz
machen müssen, wenn sie nicht aus Mangel an Arbeitsgelegenheit mit nutzlosen
Arbeiten beschäftigt werden sollen.

Dagegen entspricht die Deportationsstrafe bei sachgemäßer Handhabung
allen Anforderungen, die man billigerweise an ein rationelles Strafmittel
stellen kann. Sicher ist sie allen andern Strafmitteln der Gegenwart, besonders
den Freiheitsstrafen, überlegen; denn erstens bewirkt die Deportation durch die
dauernde Entfernung des Verbrechers aus dem Vaterlande absolute Sicherheit
gegen die VerÜbung neuer, die Gesellschaft oder den Staat schädigender Delikte.
Bei der Freiheitsstrafe schwindet diese unbedingte Sicherheit, weil der entlassene
Sträfling sofort wieder in die Gesellschaft eintritt, die er verletzt hat. Zweitens
wirkt die Deportationsstrafe aber auch in hohem Grade abschreckend; denn der
Strafzwang, der in dem ersten Stadium dieser Strafe, während der sogenannten
Strafknechtschaft, auch äußerlich vollkommen zum Ausdruck gelangt, kann bei
sachgemäßer Einrichtung für den Sträfling ein Strafleiden mindestens von
derselben Schwere darstellen wie die Zwangsarbeit im Zuchthause. Drittens
bewirkt die Deportationsstrafe bei sachgemäßer Einrichtung die Besserung,
richtiger die Erziehung des Sträflings, weil sie ihm die Aussicht gewährt, daß
er durch gute Führung während der Straf- und Übergangszeit zu wirtschaft¬
licher Selbständigkeit und bürgerlicher Gleichstellung zu gelangen imstande
ist. Diese tröstliche Aussicht weckt die darniederliegenden sittlichen Triebe selbst
in einem gesunknen Menschen. Sie ist überhaupt die einzige und ausschlie߬
liche Triebfeder zur Besserung, die auf den Sträfling zu wirken vermag.
Leveille, der erste der jetzt lebenden Sachverständigen in der Deportationsfrage,
hat erklärt: "Von allen Strafsystemen: Bagno, Gefängnis, Deportation, habe
sich die Deportation am besten bewährt; von den aus dem Bagno Entlassener


Die Deportationsfrage vor dein deutschen Juristentage in Posen

unheilbaren Gebrechen, daß sie den aus der Strafhaft Entlassener regelmäßig
an seinem Fortkommen hindern. Der entlassene Zuchthäusler vermag sich bei
dem Arbeitgeber nicht gehörig zu legitimiren, und glückt es ihm, Unterkommen
und Arbeit zu finden, so wird er, wenn seine Vergangenheit ruchbar wird, un¬
barmherzig entlassen; denn das Vorurteil gegen einen aus dem Zuchthause
Entlassener ist, so bedauerlich es auch sein mag, allgemein. Es besteht beim
Arbeitgeber, sowie bei den unbescholtnen Arbeitsgenossen.

Ein andrer nicht genug gewürdigter Mangel langdauernder Freiheitsstrafen
ist die durch die Haft hervorgerufene Stumpfheit. Das ist der Fluch aller
langzeitigen Freiheitsstrafen, daß sie den Sträfling, für den eine Reihe von
Jahren von Staats wegen gesorgt worden ist, unfähig machen, sich aus eigner
Kraft eine Existenz zu gründen. Durch die unnatürliche Beschränkung seiner
persönlichen Freiheit hat er aber nicht nur verlernt, auf eignen Füßen zu
stehen, er ist auch in der Regel durch die lange Hast zu andauernder Arbeit
körperlich und geistig unbrauchbar geworden. Zu diesen schwerwiegenden Ge¬
brechen unsrer Freiheitsstrafen tritt noch der nicht zu unterschützende Nachteil,
daß die Sträflinge in unsern Strafanstalten der ehrlichen Arbeit Konkurrenz
machen müssen, wenn sie nicht aus Mangel an Arbeitsgelegenheit mit nutzlosen
Arbeiten beschäftigt werden sollen.

Dagegen entspricht die Deportationsstrafe bei sachgemäßer Handhabung
allen Anforderungen, die man billigerweise an ein rationelles Strafmittel
stellen kann. Sicher ist sie allen andern Strafmitteln der Gegenwart, besonders
den Freiheitsstrafen, überlegen; denn erstens bewirkt die Deportation durch die
dauernde Entfernung des Verbrechers aus dem Vaterlande absolute Sicherheit
gegen die VerÜbung neuer, die Gesellschaft oder den Staat schädigender Delikte.
Bei der Freiheitsstrafe schwindet diese unbedingte Sicherheit, weil der entlassene
Sträfling sofort wieder in die Gesellschaft eintritt, die er verletzt hat. Zweitens
wirkt die Deportationsstrafe aber auch in hohem Grade abschreckend; denn der
Strafzwang, der in dem ersten Stadium dieser Strafe, während der sogenannten
Strafknechtschaft, auch äußerlich vollkommen zum Ausdruck gelangt, kann bei
sachgemäßer Einrichtung für den Sträfling ein Strafleiden mindestens von
derselben Schwere darstellen wie die Zwangsarbeit im Zuchthause. Drittens
bewirkt die Deportationsstrafe bei sachgemäßer Einrichtung die Besserung,
richtiger die Erziehung des Sträflings, weil sie ihm die Aussicht gewährt, daß
er durch gute Führung während der Straf- und Übergangszeit zu wirtschaft¬
licher Selbständigkeit und bürgerlicher Gleichstellung zu gelangen imstande
ist. Diese tröstliche Aussicht weckt die darniederliegenden sittlichen Triebe selbst
in einem gesunknen Menschen. Sie ist überhaupt die einzige und ausschlie߬
liche Triebfeder zur Besserung, die auf den Sträfling zu wirken vermag.
Leveille, der erste der jetzt lebenden Sachverständigen in der Deportationsfrage,
hat erklärt: „Von allen Strafsystemen: Bagno, Gefängnis, Deportation, habe
sich die Deportation am besten bewährt; von den aus dem Bagno Entlassener


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[0509] Die Deportationsfrage vor dein deutschen Juristentage in Posen unheilbaren Gebrechen, daß sie den aus der Strafhaft Entlassener regelmäßig an seinem Fortkommen hindern. Der entlassene Zuchthäusler vermag sich bei dem Arbeitgeber nicht gehörig zu legitimiren, und glückt es ihm, Unterkommen und Arbeit zu finden, so wird er, wenn seine Vergangenheit ruchbar wird, un¬ barmherzig entlassen; denn das Vorurteil gegen einen aus dem Zuchthause Entlassener ist, so bedauerlich es auch sein mag, allgemein. Es besteht beim Arbeitgeber, sowie bei den unbescholtnen Arbeitsgenossen. Ein andrer nicht genug gewürdigter Mangel langdauernder Freiheitsstrafen ist die durch die Haft hervorgerufene Stumpfheit. Das ist der Fluch aller langzeitigen Freiheitsstrafen, daß sie den Sträfling, für den eine Reihe von Jahren von Staats wegen gesorgt worden ist, unfähig machen, sich aus eigner Kraft eine Existenz zu gründen. Durch die unnatürliche Beschränkung seiner persönlichen Freiheit hat er aber nicht nur verlernt, auf eignen Füßen zu stehen, er ist auch in der Regel durch die lange Hast zu andauernder Arbeit körperlich und geistig unbrauchbar geworden. Zu diesen schwerwiegenden Ge¬ brechen unsrer Freiheitsstrafen tritt noch der nicht zu unterschützende Nachteil, daß die Sträflinge in unsern Strafanstalten der ehrlichen Arbeit Konkurrenz machen müssen, wenn sie nicht aus Mangel an Arbeitsgelegenheit mit nutzlosen Arbeiten beschäftigt werden sollen. Dagegen entspricht die Deportationsstrafe bei sachgemäßer Handhabung allen Anforderungen, die man billigerweise an ein rationelles Strafmittel stellen kann. Sicher ist sie allen andern Strafmitteln der Gegenwart, besonders den Freiheitsstrafen, überlegen; denn erstens bewirkt die Deportation durch die dauernde Entfernung des Verbrechers aus dem Vaterlande absolute Sicherheit gegen die VerÜbung neuer, die Gesellschaft oder den Staat schädigender Delikte. Bei der Freiheitsstrafe schwindet diese unbedingte Sicherheit, weil der entlassene Sträfling sofort wieder in die Gesellschaft eintritt, die er verletzt hat. Zweitens wirkt die Deportationsstrafe aber auch in hohem Grade abschreckend; denn der Strafzwang, der in dem ersten Stadium dieser Strafe, während der sogenannten Strafknechtschaft, auch äußerlich vollkommen zum Ausdruck gelangt, kann bei sachgemäßer Einrichtung für den Sträfling ein Strafleiden mindestens von derselben Schwere darstellen wie die Zwangsarbeit im Zuchthause. Drittens bewirkt die Deportationsstrafe bei sachgemäßer Einrichtung die Besserung, richtiger die Erziehung des Sträflings, weil sie ihm die Aussicht gewährt, daß er durch gute Führung während der Straf- und Übergangszeit zu wirtschaft¬ licher Selbständigkeit und bürgerlicher Gleichstellung zu gelangen imstande ist. Diese tröstliche Aussicht weckt die darniederliegenden sittlichen Triebe selbst in einem gesunknen Menschen. Sie ist überhaupt die einzige und ausschlie߬ liche Triebfeder zur Besserung, die auf den Sträfling zu wirken vermag. Leveille, der erste der jetzt lebenden Sachverständigen in der Deportationsfrage, hat erklärt: „Von allen Strafsystemen: Bagno, Gefängnis, Deportation, habe sich die Deportation am besten bewährt; von den aus dem Bagno Entlassener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/509>, abgerufen am 12.12.2024.