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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Judentum und Revolution

wirtschaftliche Bethätigung der Juden auf die Lage der großen Masse der
Bevölkerung, unter der sie wohnten, eine unheimliche Wirkung übte. Was
Wunder, wenn dann der Masse das Volkgespenst als ein Volkvampyr erschien!


Der wirtschaftliche Antisemitismus

Dieser aus einer besondern Spannung der wirtschaftlichen Verhältnisse
Nahrung und Triebkraft gewinnenden Richtung des Antisemitismus müssen
wir zuerst unsre Aufmerksamkeit zuwenden. Zu alle" Zeiten hat das oclium
L^ulinum, der Konknrrenzneid des Töpfers gegen den Töpfer, des Krämers
gegen den Nachbar, der dieselben Waren feilbietet, im sozialen Leben eine
Rolle gespielt. Je schwieriger sich die Konkurrenzverhältnisse gestalten, desto
lebhafter wird der Neid aufgestachelt, und desto stärker erwacht das Bedürfnis,
den Konkurrenten, insbesondre den glücklichen Konkurrenten, in der öffentlichen
Meinung, d. h. bei der Kundschaft hinabzusehen. Die ersten Anfänge, die
elementaren Regungen des wirtschaftlichen Antisemitismus stammen aus dem
Geschäftsneid. Es wurde die bei allen unter jüdischer Konkurrenz leidenden
Kleinverkäufern zündende Losung ausgegeben: "Kauft bei keinem Juden!" Der
wirtschaftliche Antisemitismus in seiner primären Form erschöpfte sich in diesem
Versuch, die Juden, die man am liebsten ganz aus dem Lande hätte vertreiben
mögen, durch einen von dem christlichen Deutschtum zu inszeuirendeu mög¬
lichst umfassenden Boykott wenigstens von der Konkurrenz mit den deutschen
Kleingewerbetreibenden auszuschließen. Diese Bewegung war von vornherein
mit einer offenbaren Unwahrheit behaftet, die feiner empfindende Naturen ab¬
stieß. Es war nur eine Summe unter sich nicht verbundner Privatinteressen,
die hier Chorus machten, um durch lautes Geschrei ihre Reklame wirksamer
zu machen, man erzeugte aber den Schein einer auf Prinzip beruhenden Ge¬
meinsamkeit, also eines öffentlichen Interesses, dadurch daß man den rein
egoistischen Bestrebungen ein gemeinsames Ziel gab -- die Vertreibung der
Juden vom deutschen Markte.

Mit dieser primitiven antisemitischen Bewegung wäre es rasch zu Ende
gegangen, wenn sie sich nicht dnrch innere Triebkraft, die aus der Umgestal¬
tung der wirtschaftlichen Verhältnisse Nahrung sog, zu einer höhern, zugleich
edlern Stufe erhoben hätte. Es muß als ein besondres Verdienst der Staats-
bürgerzeitnng anerkannt werden, daß dieses Blatt von Anfang an bestrebt war,
das eigentliche Wesen dieser ökonomisch-sozialen Form des Antisemitismus
ins Licht zu setzen.

"Berlin wird Weltstadt" -- dieser Coupletrefrain summte tags über dem
Bürger der Reichsmetropole um die Ohren, und des Abends am Stammtisch
wiederholte ihn der Philister mit selbstgefälligen Behagen. Wir waren ins
Zeichen des Großverkehrs eingetreten, nicht mit ruhigen, bedächtigen Schritten,
soudern mit großen, weitausgreifenden Sprüngen. Es dauerte nicht allzulange,


Judentum und Revolution

wirtschaftliche Bethätigung der Juden auf die Lage der großen Masse der
Bevölkerung, unter der sie wohnten, eine unheimliche Wirkung übte. Was
Wunder, wenn dann der Masse das Volkgespenst als ein Volkvampyr erschien!


Der wirtschaftliche Antisemitismus

Dieser aus einer besondern Spannung der wirtschaftlichen Verhältnisse
Nahrung und Triebkraft gewinnenden Richtung des Antisemitismus müssen
wir zuerst unsre Aufmerksamkeit zuwenden. Zu alle» Zeiten hat das oclium
L^ulinum, der Konknrrenzneid des Töpfers gegen den Töpfer, des Krämers
gegen den Nachbar, der dieselben Waren feilbietet, im sozialen Leben eine
Rolle gespielt. Je schwieriger sich die Konkurrenzverhältnisse gestalten, desto
lebhafter wird der Neid aufgestachelt, und desto stärker erwacht das Bedürfnis,
den Konkurrenten, insbesondre den glücklichen Konkurrenten, in der öffentlichen
Meinung, d. h. bei der Kundschaft hinabzusehen. Die ersten Anfänge, die
elementaren Regungen des wirtschaftlichen Antisemitismus stammen aus dem
Geschäftsneid. Es wurde die bei allen unter jüdischer Konkurrenz leidenden
Kleinverkäufern zündende Losung ausgegeben: „Kauft bei keinem Juden!" Der
wirtschaftliche Antisemitismus in seiner primären Form erschöpfte sich in diesem
Versuch, die Juden, die man am liebsten ganz aus dem Lande hätte vertreiben
mögen, durch einen von dem christlichen Deutschtum zu inszeuirendeu mög¬
lichst umfassenden Boykott wenigstens von der Konkurrenz mit den deutschen
Kleingewerbetreibenden auszuschließen. Diese Bewegung war von vornherein
mit einer offenbaren Unwahrheit behaftet, die feiner empfindende Naturen ab¬
stieß. Es war nur eine Summe unter sich nicht verbundner Privatinteressen,
die hier Chorus machten, um durch lautes Geschrei ihre Reklame wirksamer
zu machen, man erzeugte aber den Schein einer auf Prinzip beruhenden Ge¬
meinsamkeit, also eines öffentlichen Interesses, dadurch daß man den rein
egoistischen Bestrebungen ein gemeinsames Ziel gab — die Vertreibung der
Juden vom deutschen Markte.

Mit dieser primitiven antisemitischen Bewegung wäre es rasch zu Ende
gegangen, wenn sie sich nicht dnrch innere Triebkraft, die aus der Umgestal¬
tung der wirtschaftlichen Verhältnisse Nahrung sog, zu einer höhern, zugleich
edlern Stufe erhoben hätte. Es muß als ein besondres Verdienst der Staats-
bürgerzeitnng anerkannt werden, daß dieses Blatt von Anfang an bestrebt war,
das eigentliche Wesen dieser ökonomisch-sozialen Form des Antisemitismus
ins Licht zu setzen.

„Berlin wird Weltstadt" — dieser Coupletrefrain summte tags über dem
Bürger der Reichsmetropole um die Ohren, und des Abends am Stammtisch
wiederholte ihn der Philister mit selbstgefälligen Behagen. Wir waren ins
Zeichen des Großverkehrs eingetreten, nicht mit ruhigen, bedächtigen Schritten,
soudern mit großen, weitausgreifenden Sprüngen. Es dauerte nicht allzulange,


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[0467] Judentum und Revolution wirtschaftliche Bethätigung der Juden auf die Lage der großen Masse der Bevölkerung, unter der sie wohnten, eine unheimliche Wirkung übte. Was Wunder, wenn dann der Masse das Volkgespenst als ein Volkvampyr erschien! Der wirtschaftliche Antisemitismus Dieser aus einer besondern Spannung der wirtschaftlichen Verhältnisse Nahrung und Triebkraft gewinnenden Richtung des Antisemitismus müssen wir zuerst unsre Aufmerksamkeit zuwenden. Zu alle» Zeiten hat das oclium L^ulinum, der Konknrrenzneid des Töpfers gegen den Töpfer, des Krämers gegen den Nachbar, der dieselben Waren feilbietet, im sozialen Leben eine Rolle gespielt. Je schwieriger sich die Konkurrenzverhältnisse gestalten, desto lebhafter wird der Neid aufgestachelt, und desto stärker erwacht das Bedürfnis, den Konkurrenten, insbesondre den glücklichen Konkurrenten, in der öffentlichen Meinung, d. h. bei der Kundschaft hinabzusehen. Die ersten Anfänge, die elementaren Regungen des wirtschaftlichen Antisemitismus stammen aus dem Geschäftsneid. Es wurde die bei allen unter jüdischer Konkurrenz leidenden Kleinverkäufern zündende Losung ausgegeben: „Kauft bei keinem Juden!" Der wirtschaftliche Antisemitismus in seiner primären Form erschöpfte sich in diesem Versuch, die Juden, die man am liebsten ganz aus dem Lande hätte vertreiben mögen, durch einen von dem christlichen Deutschtum zu inszeuirendeu mög¬ lichst umfassenden Boykott wenigstens von der Konkurrenz mit den deutschen Kleingewerbetreibenden auszuschließen. Diese Bewegung war von vornherein mit einer offenbaren Unwahrheit behaftet, die feiner empfindende Naturen ab¬ stieß. Es war nur eine Summe unter sich nicht verbundner Privatinteressen, die hier Chorus machten, um durch lautes Geschrei ihre Reklame wirksamer zu machen, man erzeugte aber den Schein einer auf Prinzip beruhenden Ge¬ meinsamkeit, also eines öffentlichen Interesses, dadurch daß man den rein egoistischen Bestrebungen ein gemeinsames Ziel gab — die Vertreibung der Juden vom deutschen Markte. Mit dieser primitiven antisemitischen Bewegung wäre es rasch zu Ende gegangen, wenn sie sich nicht dnrch innere Triebkraft, die aus der Umgestal¬ tung der wirtschaftlichen Verhältnisse Nahrung sog, zu einer höhern, zugleich edlern Stufe erhoben hätte. Es muß als ein besondres Verdienst der Staats- bürgerzeitnng anerkannt werden, daß dieses Blatt von Anfang an bestrebt war, das eigentliche Wesen dieser ökonomisch-sozialen Form des Antisemitismus ins Licht zu setzen. „Berlin wird Weltstadt" — dieser Coupletrefrain summte tags über dem Bürger der Reichsmetropole um die Ohren, und des Abends am Stammtisch wiederholte ihn der Philister mit selbstgefälligen Behagen. Wir waren ins Zeichen des Großverkehrs eingetreten, nicht mit ruhigen, bedächtigen Schritten, soudern mit großen, weitausgreifenden Sprüngen. Es dauerte nicht allzulange,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/467>, abgerufen am 12.12.2024.