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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

kommt in Zeiten des Übergangs auch leicht ein bewußteres Streben nach einer
aufdringlichern Naturwahrheit. Im vorigen Jahrhundert erlebten wir in der
Litteratur einen Naturalismus des Gefühls, die jetzige moderne Richtung
begann mit einem Naturalisiren in Bezug auf die Thatsachen. Wer nun
dabei mit untersuchender Gründlichkeit am einzelnen hängen bleibt, der kann
gar nicht zum Charakteristischen kommen, weil dieses die zufälligen Einzelheiten
ausscheiden soll. Darum ist der moderne Naturalismus ebenso wenig natur¬
wahr wie der falsche Idealismus, und es ist kein Zufall, daß ans den natu¬
ralistischen Ansängen der moderne" Litteratur nicht die vollere Naturwahrheit
ihrer Erzeugnisse hervorging, sondern die Nachahmung früherer Stilarten, mit
denen sich Symbolisten und Mystizisten bekleiden und meinen, sie hätten etwas
neues. Die Anwendung dieser Sätze auf "Jungwien" ist einfach und leicht.
Auf die Anregungen Maupcissants und Bourgets folgt der halbblödsinnigc
Maeterlinck und der kranke Verlaine. Dazu kommt sür die Form Ibsen. Von
ihm lernten die Wiener "das seltsam flatternde, scheinbar natürliche Gespräch,
das Vollpfropfen des Dialogs mit Gedanken und Anspielungen zur Erläuterung
der Fabel ohne Rücksicht auf die jeweilige Situation," die Sclbstcharakteristik
der Personen, die an die primitiven Narrenspiele von Hans Sachs erinnert:
Ich bin der und der, und so und so ist meine Art. Weitere Zusätze ergeben
Strindberg mit seiner "lächerlich aufgedunsenen Wissenschaftlichkeit" und der
Allerweltsverführer Nietzsche, während die übrigen Deutschen nicht in Betracht
kommen, sie sind ja selbst nnr Nachahmer, wie die Wiener auch. Der Ver¬
fasser hat vollkommen Recht mit seinem Nachweise, dessen Einzelheiten wir uns
erlassen dürfen, daß diesem ganzen Treiben keinerlei Originalität innewohnt.
Der müde, urkräftige, aber für Genuß noch sehr empfängliche Pessimismus,
das Kokettiren mit dem Aufputz der Renaissance, die Bewunderung des Über¬
menschen, alles wie bei uns, zur Schau getragnes Dekadententum, Kliqnen-
wesen und Selbstberäucherung. "Sie möchten gern und können nicht. Die
Dekadence ist der Renaissancetraum der psychisch und physisch Geknickten."
Alle sind blutjung, was an sich kein Fehler wäre, aber sie sind auch blutarm,
und wenn sie alt sind, werden sie nichts mehr sein. Diese aus dem falschen
Naturalismus hervorgegcmgne Richtung ist unfruchtbar. Wodurch sie sich von
dem echten Realismus, wie ihn der Verfasser zu formuliren sucht, unterscheidet,
setzt er an einer andern Stelle seines Buches gut aus einander.

(Fortsetzung folgt)




Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

kommt in Zeiten des Übergangs auch leicht ein bewußteres Streben nach einer
aufdringlichern Naturwahrheit. Im vorigen Jahrhundert erlebten wir in der
Litteratur einen Naturalismus des Gefühls, die jetzige moderne Richtung
begann mit einem Naturalisiren in Bezug auf die Thatsachen. Wer nun
dabei mit untersuchender Gründlichkeit am einzelnen hängen bleibt, der kann
gar nicht zum Charakteristischen kommen, weil dieses die zufälligen Einzelheiten
ausscheiden soll. Darum ist der moderne Naturalismus ebenso wenig natur¬
wahr wie der falsche Idealismus, und es ist kein Zufall, daß ans den natu¬
ralistischen Ansängen der moderne» Litteratur nicht die vollere Naturwahrheit
ihrer Erzeugnisse hervorging, sondern die Nachahmung früherer Stilarten, mit
denen sich Symbolisten und Mystizisten bekleiden und meinen, sie hätten etwas
neues. Die Anwendung dieser Sätze auf „Jungwien" ist einfach und leicht.
Auf die Anregungen Maupcissants und Bourgets folgt der halbblödsinnigc
Maeterlinck und der kranke Verlaine. Dazu kommt sür die Form Ibsen. Von
ihm lernten die Wiener „das seltsam flatternde, scheinbar natürliche Gespräch,
das Vollpfropfen des Dialogs mit Gedanken und Anspielungen zur Erläuterung
der Fabel ohne Rücksicht auf die jeweilige Situation," die Sclbstcharakteristik
der Personen, die an die primitiven Narrenspiele von Hans Sachs erinnert:
Ich bin der und der, und so und so ist meine Art. Weitere Zusätze ergeben
Strindberg mit seiner „lächerlich aufgedunsenen Wissenschaftlichkeit" und der
Allerweltsverführer Nietzsche, während die übrigen Deutschen nicht in Betracht
kommen, sie sind ja selbst nnr Nachahmer, wie die Wiener auch. Der Ver¬
fasser hat vollkommen Recht mit seinem Nachweise, dessen Einzelheiten wir uns
erlassen dürfen, daß diesem ganzen Treiben keinerlei Originalität innewohnt.
Der müde, urkräftige, aber für Genuß noch sehr empfängliche Pessimismus,
das Kokettiren mit dem Aufputz der Renaissance, die Bewunderung des Über¬
menschen, alles wie bei uns, zur Schau getragnes Dekadententum, Kliqnen-
wesen und Selbstberäucherung. „Sie möchten gern und können nicht. Die
Dekadence ist der Renaissancetraum der psychisch und physisch Geknickten."
Alle sind blutjung, was an sich kein Fehler wäre, aber sie sind auch blutarm,
und wenn sie alt sind, werden sie nichts mehr sein. Diese aus dem falschen
Naturalismus hervorgegcmgne Richtung ist unfruchtbar. Wodurch sie sich von
dem echten Realismus, wie ihn der Verfasser zu formuliren sucht, unterscheidet,
setzt er an einer andern Stelle seines Buches gut aus einander.

(Fortsetzung folgt)




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[0042] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche kommt in Zeiten des Übergangs auch leicht ein bewußteres Streben nach einer aufdringlichern Naturwahrheit. Im vorigen Jahrhundert erlebten wir in der Litteratur einen Naturalismus des Gefühls, die jetzige moderne Richtung begann mit einem Naturalisiren in Bezug auf die Thatsachen. Wer nun dabei mit untersuchender Gründlichkeit am einzelnen hängen bleibt, der kann gar nicht zum Charakteristischen kommen, weil dieses die zufälligen Einzelheiten ausscheiden soll. Darum ist der moderne Naturalismus ebenso wenig natur¬ wahr wie der falsche Idealismus, und es ist kein Zufall, daß ans den natu¬ ralistischen Ansängen der moderne» Litteratur nicht die vollere Naturwahrheit ihrer Erzeugnisse hervorging, sondern die Nachahmung früherer Stilarten, mit denen sich Symbolisten und Mystizisten bekleiden und meinen, sie hätten etwas neues. Die Anwendung dieser Sätze auf „Jungwien" ist einfach und leicht. Auf die Anregungen Maupcissants und Bourgets folgt der halbblödsinnigc Maeterlinck und der kranke Verlaine. Dazu kommt sür die Form Ibsen. Von ihm lernten die Wiener „das seltsam flatternde, scheinbar natürliche Gespräch, das Vollpfropfen des Dialogs mit Gedanken und Anspielungen zur Erläuterung der Fabel ohne Rücksicht auf die jeweilige Situation," die Sclbstcharakteristik der Personen, die an die primitiven Narrenspiele von Hans Sachs erinnert: Ich bin der und der, und so und so ist meine Art. Weitere Zusätze ergeben Strindberg mit seiner „lächerlich aufgedunsenen Wissenschaftlichkeit" und der Allerweltsverführer Nietzsche, während die übrigen Deutschen nicht in Betracht kommen, sie sind ja selbst nnr Nachahmer, wie die Wiener auch. Der Ver¬ fasser hat vollkommen Recht mit seinem Nachweise, dessen Einzelheiten wir uns erlassen dürfen, daß diesem ganzen Treiben keinerlei Originalität innewohnt. Der müde, urkräftige, aber für Genuß noch sehr empfängliche Pessimismus, das Kokettiren mit dem Aufputz der Renaissance, die Bewunderung des Über¬ menschen, alles wie bei uns, zur Schau getragnes Dekadententum, Kliqnen- wesen und Selbstberäucherung. „Sie möchten gern und können nicht. Die Dekadence ist der Renaissancetraum der psychisch und physisch Geknickten." Alle sind blutjung, was an sich kein Fehler wäre, aber sie sind auch blutarm, und wenn sie alt sind, werden sie nichts mehr sein. Diese aus dem falschen Naturalismus hervorgegcmgne Richtung ist unfruchtbar. Wodurch sie sich von dem echten Realismus, wie ihn der Verfasser zu formuliren sucht, unterscheidet, setzt er an einer andern Stelle seines Buches gut aus einander. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/42>, abgerufen am 04.07.2024.