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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

auf diese gab der Dichter selbst sehr viel, während er den Klassizismus der
Weimarer wohl verdrießlich Vildungspocsie nennen konnte. So wenig wie
Grillparzer verleugnete Bauernfeld das Heimatliche, es gab ihm, obwohl er
die Franzosen nachahmte, doch das innere Leben zu seinen Stücken. Er schrieb
sie für einen Stand, den es in dem alten Wien noch nicht gegeben hatte, als
Adliche und Bürger noch gut miteinander auskamen, für das Protzentum der
reichgewordnen, liberalen Bourgeois, das sich über die Kleinbürger erhoben
hatte und selbstgefällig auf den materiellen Verfall so vieler Adelsgeschlechter
hinabblickte. Diesen bildungsstolzen Emporkömmlingen, die nun bald, nicht mehr
mit dem Glanz des Privatlebens und dem festern persönlichen Auftreten zu¬
frieden, nach Einfluß in Gemeinde und Staat strebten, lieh Bauerufcld die
Waffen seines Witzes. Im Rahmen der alten Lokalkomödie, die nur verfeinert
worden ist, bekämpft der neue Wiener Liberalismus mit Schlagworten und
Pointen die Vorurteile der absterbenden Zeit. Die Szenen sind lebendig und
vielgestaltig, die Reden unterhaltend, ergreifend, witzig, die Tendenz ist immer
dieselbe. Bauernfeld war gewandt, aber nicht tief, seine Gattung ist einförmig,
aber sie giebt ein treffendes Bild von einer Gesellschaft und einem Stimmuugs-
"iveau, die wirklich einmal noch bis vor nur einem Menschenalter in Öster¬
reich vorhanden waren. Neben Grillparzer, den aufrichtigen Realisten, den sein
Suchen nach dem hohen Drama in die Schule der Klassiker führte, stellt der
Verfasser als einen Vertreter der tiefern Sphäre den gemütswarmen Raimund,
der die Zauberposse veredeln wollte und in diesem Bestreben, beinahe möchte
man sagen wider Willen, zu etwas viel besserm gelangte, nämlich zu wirklichen
Menschen innerhalb einer ganz phantastischen Einkleidung und zu Volksszenen,
mit denen er sich neben den Besten zeigen kann. Mit Baucrnfeld aber ist
Nestroy vergleichbar, Raimunds jüngerer Rival, bei dem aus der harmlosen
Posse die bewußte Satire, aus dem Märchen die Parodie geworden ist. Er
ist revolutionär wie Bauernfeld, er richtet sich nicht gegen allgemeine mensch¬
liche, sondern gegen soziale Schwächen und will Politiker sein, was Raimund
uicht in den Sinn kommt, gleich diesem aber dichtet er für das kleine Bürger¬
tum, sowie Grillparzer und Vauernfeld, jeder in andrer Weise, für den ge¬
bildeten Mittelstand sorgten.

Das eigentliche Thema seines Buchs zerlegt Sittenberger in drei Abschnitte.
Als Epigonen bezeichnet er die Klassizisten und einige andre Anhänger der
ältern Richtung, von denen außerhalb Österreichs hauptsächlich Nissel und
Moseuthal bekannt sind, demnächst könnte etwa Hamerling interessiren. Ein
ganz spezifisch österreichisches Gewächs ist Franz Keim; der Verfasser zeichnet
ihn so scharf, daß auch auf ihn unser Blick fallen muß. Der zweite Abschnitt
enthält die moderne Richtung: Hermann Bahr, Rudolf Lothar und dergleichen.
Dann kommt drittens Anzengruber und das neuere Volksstück, das bedeutet
aber für uns überhaupt nur Anzengruber, denn höchstens kann uns noch ein
kleiner Seitenhieb auf Nosegger ein Wort der Teilnahme abnötigen. An der


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

auf diese gab der Dichter selbst sehr viel, während er den Klassizismus der
Weimarer wohl verdrießlich Vildungspocsie nennen konnte. So wenig wie
Grillparzer verleugnete Bauernfeld das Heimatliche, es gab ihm, obwohl er
die Franzosen nachahmte, doch das innere Leben zu seinen Stücken. Er schrieb
sie für einen Stand, den es in dem alten Wien noch nicht gegeben hatte, als
Adliche und Bürger noch gut miteinander auskamen, für das Protzentum der
reichgewordnen, liberalen Bourgeois, das sich über die Kleinbürger erhoben
hatte und selbstgefällig auf den materiellen Verfall so vieler Adelsgeschlechter
hinabblickte. Diesen bildungsstolzen Emporkömmlingen, die nun bald, nicht mehr
mit dem Glanz des Privatlebens und dem festern persönlichen Auftreten zu¬
frieden, nach Einfluß in Gemeinde und Staat strebten, lieh Bauerufcld die
Waffen seines Witzes. Im Rahmen der alten Lokalkomödie, die nur verfeinert
worden ist, bekämpft der neue Wiener Liberalismus mit Schlagworten und
Pointen die Vorurteile der absterbenden Zeit. Die Szenen sind lebendig und
vielgestaltig, die Reden unterhaltend, ergreifend, witzig, die Tendenz ist immer
dieselbe. Bauernfeld war gewandt, aber nicht tief, seine Gattung ist einförmig,
aber sie giebt ein treffendes Bild von einer Gesellschaft und einem Stimmuugs-
»iveau, die wirklich einmal noch bis vor nur einem Menschenalter in Öster¬
reich vorhanden waren. Neben Grillparzer, den aufrichtigen Realisten, den sein
Suchen nach dem hohen Drama in die Schule der Klassiker führte, stellt der
Verfasser als einen Vertreter der tiefern Sphäre den gemütswarmen Raimund,
der die Zauberposse veredeln wollte und in diesem Bestreben, beinahe möchte
man sagen wider Willen, zu etwas viel besserm gelangte, nämlich zu wirklichen
Menschen innerhalb einer ganz phantastischen Einkleidung und zu Volksszenen,
mit denen er sich neben den Besten zeigen kann. Mit Baucrnfeld aber ist
Nestroy vergleichbar, Raimunds jüngerer Rival, bei dem aus der harmlosen
Posse die bewußte Satire, aus dem Märchen die Parodie geworden ist. Er
ist revolutionär wie Bauernfeld, er richtet sich nicht gegen allgemeine mensch¬
liche, sondern gegen soziale Schwächen und will Politiker sein, was Raimund
uicht in den Sinn kommt, gleich diesem aber dichtet er für das kleine Bürger¬
tum, sowie Grillparzer und Vauernfeld, jeder in andrer Weise, für den ge¬
bildeten Mittelstand sorgten.

Das eigentliche Thema seines Buchs zerlegt Sittenberger in drei Abschnitte.
Als Epigonen bezeichnet er die Klassizisten und einige andre Anhänger der
ältern Richtung, von denen außerhalb Österreichs hauptsächlich Nissel und
Moseuthal bekannt sind, demnächst könnte etwa Hamerling interessiren. Ein
ganz spezifisch österreichisches Gewächs ist Franz Keim; der Verfasser zeichnet
ihn so scharf, daß auch auf ihn unser Blick fallen muß. Der zweite Abschnitt
enthält die moderne Richtung: Hermann Bahr, Rudolf Lothar und dergleichen.
Dann kommt drittens Anzengruber und das neuere Volksstück, das bedeutet
aber für uns überhaupt nur Anzengruber, denn höchstens kann uns noch ein
kleiner Seitenhieb auf Nosegger ein Wort der Teilnahme abnötigen. An der


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[0038] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche auf diese gab der Dichter selbst sehr viel, während er den Klassizismus der Weimarer wohl verdrießlich Vildungspocsie nennen konnte. So wenig wie Grillparzer verleugnete Bauernfeld das Heimatliche, es gab ihm, obwohl er die Franzosen nachahmte, doch das innere Leben zu seinen Stücken. Er schrieb sie für einen Stand, den es in dem alten Wien noch nicht gegeben hatte, als Adliche und Bürger noch gut miteinander auskamen, für das Protzentum der reichgewordnen, liberalen Bourgeois, das sich über die Kleinbürger erhoben hatte und selbstgefällig auf den materiellen Verfall so vieler Adelsgeschlechter hinabblickte. Diesen bildungsstolzen Emporkömmlingen, die nun bald, nicht mehr mit dem Glanz des Privatlebens und dem festern persönlichen Auftreten zu¬ frieden, nach Einfluß in Gemeinde und Staat strebten, lieh Bauerufcld die Waffen seines Witzes. Im Rahmen der alten Lokalkomödie, die nur verfeinert worden ist, bekämpft der neue Wiener Liberalismus mit Schlagworten und Pointen die Vorurteile der absterbenden Zeit. Die Szenen sind lebendig und vielgestaltig, die Reden unterhaltend, ergreifend, witzig, die Tendenz ist immer dieselbe. Bauernfeld war gewandt, aber nicht tief, seine Gattung ist einförmig, aber sie giebt ein treffendes Bild von einer Gesellschaft und einem Stimmuugs- »iveau, die wirklich einmal noch bis vor nur einem Menschenalter in Öster¬ reich vorhanden waren. Neben Grillparzer, den aufrichtigen Realisten, den sein Suchen nach dem hohen Drama in die Schule der Klassiker führte, stellt der Verfasser als einen Vertreter der tiefern Sphäre den gemütswarmen Raimund, der die Zauberposse veredeln wollte und in diesem Bestreben, beinahe möchte man sagen wider Willen, zu etwas viel besserm gelangte, nämlich zu wirklichen Menschen innerhalb einer ganz phantastischen Einkleidung und zu Volksszenen, mit denen er sich neben den Besten zeigen kann. Mit Baucrnfeld aber ist Nestroy vergleichbar, Raimunds jüngerer Rival, bei dem aus der harmlosen Posse die bewußte Satire, aus dem Märchen die Parodie geworden ist. Er ist revolutionär wie Bauernfeld, er richtet sich nicht gegen allgemeine mensch¬ liche, sondern gegen soziale Schwächen und will Politiker sein, was Raimund uicht in den Sinn kommt, gleich diesem aber dichtet er für das kleine Bürger¬ tum, sowie Grillparzer und Vauernfeld, jeder in andrer Weise, für den ge¬ bildeten Mittelstand sorgten. Das eigentliche Thema seines Buchs zerlegt Sittenberger in drei Abschnitte. Als Epigonen bezeichnet er die Klassizisten und einige andre Anhänger der ältern Richtung, von denen außerhalb Österreichs hauptsächlich Nissel und Moseuthal bekannt sind, demnächst könnte etwa Hamerling interessiren. Ein ganz spezifisch österreichisches Gewächs ist Franz Keim; der Verfasser zeichnet ihn so scharf, daß auch auf ihn unser Blick fallen muß. Der zweite Abschnitt enthält die moderne Richtung: Hermann Bahr, Rudolf Lothar und dergleichen. Dann kommt drittens Anzengruber und das neuere Volksstück, das bedeutet aber für uns überhaupt nur Anzengruber, denn höchstens kann uns noch ein kleiner Seitenhieb auf Nosegger ein Wort der Teilnahme abnötigen. An der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/38>, abgerufen am 12.12.2024.