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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

allerdings viel früher klug geworden. Außer Ibsen und Hauptmann werden
kürzer die übrigen Modernen unter den Deutschen behandelt, ferner die "großen
drei, die dem Darwinismus das Reich der Kunst erschließen," nämlich Balzac.
Flaubert und Zola, viel ausführlicher wieder der alberne Symbolist Maeter¬
linck. Obwohl der Verfasser dessen Dichtungen für Ahnungen und Träume
eines Sterbenden, seine Figuren für Marionetten ansieht, das Was sei kindisch --
meint er dennoch: ..Aber wie sie dichten, das ist. ich finde keinen beschcidnern
Namen dafür, eine neue Kunstoffenbarung." "Lallende Seelen" heißt die Über-
schrift eines Maeterlinck gewidmeten Kapitels. Bei dieser Entschleierung der
Menschenseele steht dann auch Nietzsche mit einigen hochtönenden Sprüchen
Gevatter.

Der Verfasser bemerkt aber wiederholt, daß er weniger Wert auf seine
Charakterisirung der einzelnen Schriftsteller lege, als darauf, daß sie alle der
neuen Zeit angehören und das "kommende" Drama einleiten, zu dem er selbst
i" seinem Buche die Theorie liefern möchte. Diese etwas eigentümliche Kunst¬
lehre wird uns später beschäftigen. Seine Ausführungen gehen aber auch viel¬
fach zurück auf die Dichtung der Vergangenheit, seine Auffassung ist tempera¬
mentvoll, am schlechtesten kommt Schiller weg mit seinem Pathos und seiner
Zambcntragödie, demnächst die Philologen als Vermittler des antiken Kunst¬
ideals. Auf allen diesen Gebieten zeigt er sich gut unterrichtet, nur einmal
ist ihm ein Schnitzer mit untergelaufen, indem er einige Seiten lang von
Dürers "Ritter, Tod und Teufel" als vou einem Holzschnitt spricht.

Zwischen dem Historiker Vruchmann und dem Naturalisten Steiger in der
Mitte steht der Realist Hans Sittenberger mit seinen Studien zur Drama¬
turgie der Gegenwart, Erste Reihe, das dramatische Schaffen in Öster¬
reich (München, Beck). Mancher wird das Buch vielleicht mit dem Gedanken
in die Hand nehmen: Was ist uns Österreich? er wird aber bald gefesselt
werden von der einfachen Art, mit der ein reifer und weitblickender Mann die
Vorgänge des Wiener Theaterlebens in den größern Zusammenhang der Ge¬
schichte des deutschen Dramas und der dramatischen Kunstlehre einzuordnen
verstanden hat. Zuerst macht er aufmerksam auf die von keiner neuern
Richtung ganz zerstörten volkstümlichen Grundlagen der Wiener Bühne. Nirgends
wurzelte das Schauspiel so fest im heimischen Boden wie in Österreich, und noch
bei Grillparzer war dieses Österreichertum so hervorstechend, daß seine Stücke
in Deutschland lange nicht aufkommen konnten. Man merkte ihnen an, daß
sich der Dichter als Kind an den Geister- und Feenmärchen des Leopoldftädter
Theaters genährt hatte. Der Verfasser stellt ihn mit Recht hoch, aber, meint
er. was er war, gab ihm die Heimat, originell war er durch sein Wiener-
tnm, weniger durch seine Persönlichkeit; gelernt hat er von den "Fremden"
draußen. Seine Dramen sind nur zu verstehen als Mischprodukte aus dem
Studium deutscher Klassiker und unmittelbaren Eindrücken seiner Vaterstadt;Gren


zbotenIV 1898 4
Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

allerdings viel früher klug geworden. Außer Ibsen und Hauptmann werden
kürzer die übrigen Modernen unter den Deutschen behandelt, ferner die „großen
drei, die dem Darwinismus das Reich der Kunst erschließen," nämlich Balzac.
Flaubert und Zola, viel ausführlicher wieder der alberne Symbolist Maeter¬
linck. Obwohl der Verfasser dessen Dichtungen für Ahnungen und Träume
eines Sterbenden, seine Figuren für Marionetten ansieht, das Was sei kindisch —
meint er dennoch: ..Aber wie sie dichten, das ist. ich finde keinen beschcidnern
Namen dafür, eine neue Kunstoffenbarung." „Lallende Seelen" heißt die Über-
schrift eines Maeterlinck gewidmeten Kapitels. Bei dieser Entschleierung der
Menschenseele steht dann auch Nietzsche mit einigen hochtönenden Sprüchen
Gevatter.

Der Verfasser bemerkt aber wiederholt, daß er weniger Wert auf seine
Charakterisirung der einzelnen Schriftsteller lege, als darauf, daß sie alle der
neuen Zeit angehören und das „kommende" Drama einleiten, zu dem er selbst
i» seinem Buche die Theorie liefern möchte. Diese etwas eigentümliche Kunst¬
lehre wird uns später beschäftigen. Seine Ausführungen gehen aber auch viel¬
fach zurück auf die Dichtung der Vergangenheit, seine Auffassung ist tempera¬
mentvoll, am schlechtesten kommt Schiller weg mit seinem Pathos und seiner
Zambcntragödie, demnächst die Philologen als Vermittler des antiken Kunst¬
ideals. Auf allen diesen Gebieten zeigt er sich gut unterrichtet, nur einmal
ist ihm ein Schnitzer mit untergelaufen, indem er einige Seiten lang von
Dürers „Ritter, Tod und Teufel" als vou einem Holzschnitt spricht.

Zwischen dem Historiker Vruchmann und dem Naturalisten Steiger in der
Mitte steht der Realist Hans Sittenberger mit seinen Studien zur Drama¬
turgie der Gegenwart, Erste Reihe, das dramatische Schaffen in Öster¬
reich (München, Beck). Mancher wird das Buch vielleicht mit dem Gedanken
in die Hand nehmen: Was ist uns Österreich? er wird aber bald gefesselt
werden von der einfachen Art, mit der ein reifer und weitblickender Mann die
Vorgänge des Wiener Theaterlebens in den größern Zusammenhang der Ge¬
schichte des deutschen Dramas und der dramatischen Kunstlehre einzuordnen
verstanden hat. Zuerst macht er aufmerksam auf die von keiner neuern
Richtung ganz zerstörten volkstümlichen Grundlagen der Wiener Bühne. Nirgends
wurzelte das Schauspiel so fest im heimischen Boden wie in Österreich, und noch
bei Grillparzer war dieses Österreichertum so hervorstechend, daß seine Stücke
in Deutschland lange nicht aufkommen konnten. Man merkte ihnen an, daß
sich der Dichter als Kind an den Geister- und Feenmärchen des Leopoldftädter
Theaters genährt hatte. Der Verfasser stellt ihn mit Recht hoch, aber, meint
er. was er war, gab ihm die Heimat, originell war er durch sein Wiener-
tnm, weniger durch seine Persönlichkeit; gelernt hat er von den „Fremden"
draußen. Seine Dramen sind nur zu verstehen als Mischprodukte aus dem
Studium deutscher Klassiker und unmittelbaren Eindrücken seiner Vaterstadt;Gren


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[0037] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche allerdings viel früher klug geworden. Außer Ibsen und Hauptmann werden kürzer die übrigen Modernen unter den Deutschen behandelt, ferner die „großen drei, die dem Darwinismus das Reich der Kunst erschließen," nämlich Balzac. Flaubert und Zola, viel ausführlicher wieder der alberne Symbolist Maeter¬ linck. Obwohl der Verfasser dessen Dichtungen für Ahnungen und Träume eines Sterbenden, seine Figuren für Marionetten ansieht, das Was sei kindisch — meint er dennoch: ..Aber wie sie dichten, das ist. ich finde keinen beschcidnern Namen dafür, eine neue Kunstoffenbarung." „Lallende Seelen" heißt die Über- schrift eines Maeterlinck gewidmeten Kapitels. Bei dieser Entschleierung der Menschenseele steht dann auch Nietzsche mit einigen hochtönenden Sprüchen Gevatter. Der Verfasser bemerkt aber wiederholt, daß er weniger Wert auf seine Charakterisirung der einzelnen Schriftsteller lege, als darauf, daß sie alle der neuen Zeit angehören und das „kommende" Drama einleiten, zu dem er selbst i» seinem Buche die Theorie liefern möchte. Diese etwas eigentümliche Kunst¬ lehre wird uns später beschäftigen. Seine Ausführungen gehen aber auch viel¬ fach zurück auf die Dichtung der Vergangenheit, seine Auffassung ist tempera¬ mentvoll, am schlechtesten kommt Schiller weg mit seinem Pathos und seiner Zambcntragödie, demnächst die Philologen als Vermittler des antiken Kunst¬ ideals. Auf allen diesen Gebieten zeigt er sich gut unterrichtet, nur einmal ist ihm ein Schnitzer mit untergelaufen, indem er einige Seiten lang von Dürers „Ritter, Tod und Teufel" als vou einem Holzschnitt spricht. Zwischen dem Historiker Vruchmann und dem Naturalisten Steiger in der Mitte steht der Realist Hans Sittenberger mit seinen Studien zur Drama¬ turgie der Gegenwart, Erste Reihe, das dramatische Schaffen in Öster¬ reich (München, Beck). Mancher wird das Buch vielleicht mit dem Gedanken in die Hand nehmen: Was ist uns Österreich? er wird aber bald gefesselt werden von der einfachen Art, mit der ein reifer und weitblickender Mann die Vorgänge des Wiener Theaterlebens in den größern Zusammenhang der Ge¬ schichte des deutschen Dramas und der dramatischen Kunstlehre einzuordnen verstanden hat. Zuerst macht er aufmerksam auf die von keiner neuern Richtung ganz zerstörten volkstümlichen Grundlagen der Wiener Bühne. Nirgends wurzelte das Schauspiel so fest im heimischen Boden wie in Österreich, und noch bei Grillparzer war dieses Österreichertum so hervorstechend, daß seine Stücke in Deutschland lange nicht aufkommen konnten. Man merkte ihnen an, daß sich der Dichter als Kind an den Geister- und Feenmärchen des Leopoldftädter Theaters genährt hatte. Der Verfasser stellt ihn mit Recht hoch, aber, meint er. was er war, gab ihm die Heimat, originell war er durch sein Wiener- tnm, weniger durch seine Persönlichkeit; gelernt hat er von den „Fremden" draußen. Seine Dramen sind nur zu verstehen als Mischprodukte aus dem Studium deutscher Klassiker und unmittelbaren Eindrücken seiner Vaterstadt;Gren zbotenIV 1898 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/37>, abgerufen am 12.12.2024.