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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

Drei kürzlich erschienene größere Werke, die in ganz verschiedner Weise
über das Drama handeln, sollen uns heute Anlaß sein, unsern Lesern etwas
von dem Vergnügen, das uns ihre Lektüre bereitet hat, so gut es gehen will,
mitzuteilen. Zunächst einige Bemerkungen zur Charakterisirung der Bücher.
Die Poetik, Naturlehre der Dichtung von Kurt Bruchmann (Berlin.
Hertz) ist ein wissenschaftliches Buch im besten Sinne des Worts, klar und
ungemein kurz geschrieben, in angenehmer Weise zum Nachdenken reizend, voll
von fleißig gesammelten, nicht auf ausgetretnen Wegen aufgelesenen Stoff,
reich um eigner Beobachtung, vorsichtig in der Verarbeitung, überzeugend im
Schließen und Verwerten. Es behandelt die ganze Poetik, beinahe die Hälfte
des Inhalts kommt auf das Drama, mit dem wir uns vorwiegend beschäftigen
werden. Um uns das Gesetzmäßige. Natürliche, Bodenwüchsige der Poesie
und ihrer Gattungen darzulegen, hat der Verfasser seine Beobachtung über die
Litteratur der indogermanischen Völkerfamilien hinaus ausgedehnt auf die Poesie
der Semiten, Ägypter, Chinesen und Japaner und auf die Anfänge poetischer
Äußerungen bei den UrVölkern und den sogenannten Wilden. Die Daten sind
mit unglaublichem Fleiß zusammengestellt und ergeben manches interessante
Bild. Es läßt sich auch für die Ursprünge der Poesie einiges daraus lernen.
So erörtert Brnchmann z. V- die neuerdings viel behandelte Frage (Bücher,
Arbeit und Rhythmus, 1896). ob der poetische Rhythmus aus regelmäßigen
Arbeitsbeweguugen oder aus tanzartigen, also einem Lustgefühl entsprnngnen
Tretbewegnngen entstanden sei; ihm scheint "ungeregeltes Springen älter als
rhythmische Arbeit." Nur ein kleiner Teil der Tänze sei mimisch und Nach¬
ahmung bekannter Arbeitsvorgänge. Der Tanz enthalte oft mehr als die
Arbeitsbewegung. Also der Rhythmus entstand wahrscheinlich aus Arbeit
und Tanz.' Auch wird es manchen interessiren, Vergleichspunkte aus wenig
bekannten Litteraturen zusammengestellt zu finden. Aber für die Hauptfragen,
um deren willen wir uns mit der Poesie beschäftigen, fängt doch "user
Material immer noch mit den Griechen an. alles frühere ist rudimentär, und
kein Kolumbus wird jemals neues Land entdecken. Der Verfasser zeigt hier
dasselbe sichere Wissen wie in der ethnographischen Litteratur, er kennt die
Philologie mit ihren Modethorheiten (z. B. Sikyon, "das gelehrte Leute Sekyou
schreiben") und steht der griechischen Poesie ohne Voreingenommenheit gegen¬
über, sie ist ihm ein Glied in der langen Reihe, die ihn dann noch über unsre
großen deutschen Klassiker hinausführt bis zu den Modernen. Sein kunst¬
theoretischer Standpunkt entspricht dem weiten historischen Blick: er kennt die
Altern zu gut. um die Allerneusten als Krone der Schöpfung anzusehen. Er
giebt in ruhiger Betrachtung weniger Regeln als Eindrücke und läßt uns
wählen; historisch gerichtete Leser werden immer ein Verhältnis zu seinen
Formulirungen finden. Die Art des Vortrags erweckt den Eindruck einer
großen Objektivität, wofür die Schlußsätze eiues kleinen Abschnitts über die
Frauen in der Dichtung als Beispiel dienen mögen. "Den Frauen fehlt es


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

Drei kürzlich erschienene größere Werke, die in ganz verschiedner Weise
über das Drama handeln, sollen uns heute Anlaß sein, unsern Lesern etwas
von dem Vergnügen, das uns ihre Lektüre bereitet hat, so gut es gehen will,
mitzuteilen. Zunächst einige Bemerkungen zur Charakterisirung der Bücher.
Die Poetik, Naturlehre der Dichtung von Kurt Bruchmann (Berlin.
Hertz) ist ein wissenschaftliches Buch im besten Sinne des Worts, klar und
ungemein kurz geschrieben, in angenehmer Weise zum Nachdenken reizend, voll
von fleißig gesammelten, nicht auf ausgetretnen Wegen aufgelesenen Stoff,
reich um eigner Beobachtung, vorsichtig in der Verarbeitung, überzeugend im
Schließen und Verwerten. Es behandelt die ganze Poetik, beinahe die Hälfte
des Inhalts kommt auf das Drama, mit dem wir uns vorwiegend beschäftigen
werden. Um uns das Gesetzmäßige. Natürliche, Bodenwüchsige der Poesie
und ihrer Gattungen darzulegen, hat der Verfasser seine Beobachtung über die
Litteratur der indogermanischen Völkerfamilien hinaus ausgedehnt auf die Poesie
der Semiten, Ägypter, Chinesen und Japaner und auf die Anfänge poetischer
Äußerungen bei den UrVölkern und den sogenannten Wilden. Die Daten sind
mit unglaublichem Fleiß zusammengestellt und ergeben manches interessante
Bild. Es läßt sich auch für die Ursprünge der Poesie einiges daraus lernen.
So erörtert Brnchmann z. V- die neuerdings viel behandelte Frage (Bücher,
Arbeit und Rhythmus, 1896). ob der poetische Rhythmus aus regelmäßigen
Arbeitsbeweguugen oder aus tanzartigen, also einem Lustgefühl entsprnngnen
Tretbewegnngen entstanden sei; ihm scheint „ungeregeltes Springen älter als
rhythmische Arbeit." Nur ein kleiner Teil der Tänze sei mimisch und Nach¬
ahmung bekannter Arbeitsvorgänge. Der Tanz enthalte oft mehr als die
Arbeitsbewegung. Also der Rhythmus entstand wahrscheinlich aus Arbeit
und Tanz.' Auch wird es manchen interessiren, Vergleichspunkte aus wenig
bekannten Litteraturen zusammengestellt zu finden. Aber für die Hauptfragen,
um deren willen wir uns mit der Poesie beschäftigen, fängt doch »user
Material immer noch mit den Griechen an. alles frühere ist rudimentär, und
kein Kolumbus wird jemals neues Land entdecken. Der Verfasser zeigt hier
dasselbe sichere Wissen wie in der ethnographischen Litteratur, er kennt die
Philologie mit ihren Modethorheiten (z. B. Sikyon, „das gelehrte Leute Sekyou
schreiben") und steht der griechischen Poesie ohne Voreingenommenheit gegen¬
über, sie ist ihm ein Glied in der langen Reihe, die ihn dann noch über unsre
großen deutschen Klassiker hinausführt bis zu den Modernen. Sein kunst¬
theoretischer Standpunkt entspricht dem weiten historischen Blick: er kennt die
Altern zu gut. um die Allerneusten als Krone der Schöpfung anzusehen. Er
giebt in ruhiger Betrachtung weniger Regeln als Eindrücke und läßt uns
wählen; historisch gerichtete Leser werden immer ein Verhältnis zu seinen
Formulirungen finden. Die Art des Vortrags erweckt den Eindruck einer
großen Objektivität, wofür die Schlußsätze eiues kleinen Abschnitts über die
Frauen in der Dichtung als Beispiel dienen mögen. „Den Frauen fehlt es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/35>, abgerufen am 12.12.2024.