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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

dentender Lyriker wiederkäme, wie Rückert und Uhland, wie Heine oder allen¬
falls Geibel -- bis dahin mag sich diese allgemein verbreitete Fähigkeit, gute
Verse zu machen, in diesem Umfange erhalten: wir brauchen keine Nation der
Welt um ihre Lyriker zu beneiden, werden aber freilich auch keinen der unsrigen
für etwas hervorragendes ansehen. Es giebt noch Grade und Stufen, gewiß,
aber kein einziger unter den jetzt lebenden Lyrikern ragt allein für sich, un¬
bestritten und unnahbar, über die andern empor. Etwas anders steht es mit
dem Epos. Sein eigentliches Zeitalter, so pflegen wir zu sagen, ist vorüber,
und seinen Platz im Kulturleben hat hauptsächlich der Roman eingenommen,
die Prosaerzählung überhaupt, vielleicht auch etwas mit die gute Darstellung
wirklicher Geschichte -- aber es giebt ja die vielerlei Spielarten, die man als
Kunstepos zusammen zu fassen pflegt. Sie sind nicht abhängig von den beiden
großen Impulsen der Vvlksepik, einem Kriege, der alle Kreise einer Nation
gleicherweise bewegt, oder dein gemeinsamen Gute eines starken, neuen und
kräftigen religiösen Glaubens. Sie sind auch an kein bestimmtes Zeitalter
gebunden, mit der Lyrik und nach ihr erscheinen sie in ganz verschiednen
Zeiten als glückliche Griffe einzelner besonders begabter Persönlichkeiten.
Sollen sie Wirkung und Dauer haben, so erfordern sie als Boden einen
größern einheitlich gearteten Kreis der nationalen Gesellschaft, eine gewisse
Einheit der Phantasie; das zeigen uns Ariost und Tasso, Miltons Paradies,
Voltaires Henriade oder Goethes Hermann und Dorothea. Ob der Dichter
einen Stoff aus der Vergangenheit oder ein großes zeitgeschichtliches Ereignis
wählt, oder ob er ein eignes wirkliches oder als solches vorgestelltes Erlebnis
nimmt, wie Byron in seinem Don Juan, das ist weniger wichtig, als daß
er den Resonanzboden seiner Zeit erkennt und ihre Bedürfnisse auszudrücken
weiß. Nehmen wir zwei bescheidne Beispiele aus den letzten fünfzig Jahren,
fo wird man nicht leugnen können, daß bald nach 1848 Redwitzens Amaranth
und noch mehr zehn Jahre später Scheffels Trompeter die Stimmung ihrer
Zeit zu treffen wußten. Wenigstens giebt es kein drittes Gedicht dieser
Gattung, das zeither einen ähnlichen äußern Erfolg bei uns gehabt hätte.
Und wie viele sind noch später erschienen, gelesen und wieder vergessen und
von andern abgelöst worden! Es läßt sich gar kein in der Zeit liegendes
Erlebnis oder Ereignis denken, das zu einem Kunstepos führen oder nötigen
müßte, das "Drum und dran" ist viel wichtiger als der Stoff selbst, denn
nicht um irgend eines thatsächlichen Inhalts willen würde man einem lyrischen
Gedicht ein Kunstepos vorziehen, unser Interesse an der Wirklichkeit sucht seine
Befriedigung in Mitteilungen ganz andrer Art -- so bleibt denn ein gutes
Kuustepos eine Gabe des Glücks, ein vereinzeltes Geschenk, das man nicht aus
Bedingungen vorhersagen kann, auf das man auch nicht sehnsüchtig wartet.
Es kommt vielleicht einmal, und dann freut man sich darüber, aber man sieht
ihm nicht mit der Spannung entgegen, mit der man nun schon seit lauger
Zeit von dem Drama als von etwas notwendigen spricht und schreibt.


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

dentender Lyriker wiederkäme, wie Rückert und Uhland, wie Heine oder allen¬
falls Geibel — bis dahin mag sich diese allgemein verbreitete Fähigkeit, gute
Verse zu machen, in diesem Umfange erhalten: wir brauchen keine Nation der
Welt um ihre Lyriker zu beneiden, werden aber freilich auch keinen der unsrigen
für etwas hervorragendes ansehen. Es giebt noch Grade und Stufen, gewiß,
aber kein einziger unter den jetzt lebenden Lyrikern ragt allein für sich, un¬
bestritten und unnahbar, über die andern empor. Etwas anders steht es mit
dem Epos. Sein eigentliches Zeitalter, so pflegen wir zu sagen, ist vorüber,
und seinen Platz im Kulturleben hat hauptsächlich der Roman eingenommen,
die Prosaerzählung überhaupt, vielleicht auch etwas mit die gute Darstellung
wirklicher Geschichte — aber es giebt ja die vielerlei Spielarten, die man als
Kunstepos zusammen zu fassen pflegt. Sie sind nicht abhängig von den beiden
großen Impulsen der Vvlksepik, einem Kriege, der alle Kreise einer Nation
gleicherweise bewegt, oder dein gemeinsamen Gute eines starken, neuen und
kräftigen religiösen Glaubens. Sie sind auch an kein bestimmtes Zeitalter
gebunden, mit der Lyrik und nach ihr erscheinen sie in ganz verschiednen
Zeiten als glückliche Griffe einzelner besonders begabter Persönlichkeiten.
Sollen sie Wirkung und Dauer haben, so erfordern sie als Boden einen
größern einheitlich gearteten Kreis der nationalen Gesellschaft, eine gewisse
Einheit der Phantasie; das zeigen uns Ariost und Tasso, Miltons Paradies,
Voltaires Henriade oder Goethes Hermann und Dorothea. Ob der Dichter
einen Stoff aus der Vergangenheit oder ein großes zeitgeschichtliches Ereignis
wählt, oder ob er ein eignes wirkliches oder als solches vorgestelltes Erlebnis
nimmt, wie Byron in seinem Don Juan, das ist weniger wichtig, als daß
er den Resonanzboden seiner Zeit erkennt und ihre Bedürfnisse auszudrücken
weiß. Nehmen wir zwei bescheidne Beispiele aus den letzten fünfzig Jahren,
fo wird man nicht leugnen können, daß bald nach 1848 Redwitzens Amaranth
und noch mehr zehn Jahre später Scheffels Trompeter die Stimmung ihrer
Zeit zu treffen wußten. Wenigstens giebt es kein drittes Gedicht dieser
Gattung, das zeither einen ähnlichen äußern Erfolg bei uns gehabt hätte.
Und wie viele sind noch später erschienen, gelesen und wieder vergessen und
von andern abgelöst worden! Es läßt sich gar kein in der Zeit liegendes
Erlebnis oder Ereignis denken, das zu einem Kunstepos führen oder nötigen
müßte, das „Drum und dran" ist viel wichtiger als der Stoff selbst, denn
nicht um irgend eines thatsächlichen Inhalts willen würde man einem lyrischen
Gedicht ein Kunstepos vorziehen, unser Interesse an der Wirklichkeit sucht seine
Befriedigung in Mitteilungen ganz andrer Art — so bleibt denn ein gutes
Kuustepos eine Gabe des Glücks, ein vereinzeltes Geschenk, das man nicht aus
Bedingungen vorhersagen kann, auf das man auch nicht sehnsüchtig wartet.
Es kommt vielleicht einmal, und dann freut man sich darüber, aber man sieht
ihm nicht mit der Spannung entgegen, mit der man nun schon seit lauger
Zeit von dem Drama als von etwas notwendigen spricht und schreibt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/34>, abgerufen am 12.12.2024.