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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Ein beglaubigter Totenschein fehlte den Eltern noch immer. Als im
Jahre 1830 über den Nachlaß der Frau Pastorin Staps ein Erbrezeß ab¬
geschlossen wurde, galt ihr Sohn Friedrich noch immer als abwesend und ver¬
schollen, und es wurde ihm demgemäß der Anteil an seinem mütterlichen Erbe
ausgesetzt. Das Pupillenkollegium des Oberlandesgerichts in Naumburg be¬
stellte daher den Oberlandesgerichtsjustizkommissarius Schulze zu seinem Kurator.
Er versuchte vor der Einleitung einer Todeserklärung Nachrichten über das
Leben und den Aufenthalt seines Kuranden in Wien einzuziehen, wo dieser dem
Gerüchte zufolge 1809 wegen eines Attentats auf den Kaiser Napoleon er¬
schossen sein sollte. Auf sein Ansuchen erwiderte die k. k. Polizeioberdirektion
in Wien am 24. Oktober 1830: Die Erschießung des Friedrich Staps nächst
dem Dorfe Fünfhaus bei Wien (zwischen der Vorstadt Mariahilf und dem
Schlosse Schönbrunn) sei eine bekannte Thatsache; urkundliche Belege aber
ließen sich nicht erbringen. Die Untersuchungsakten seien nicht vorhanden, da
das Kriegsgericht aus einer französischen Kommission bestanden habe. Auch
das Totenbuch des Pfarrers enthielte keine Bemerkung. Die Behörde habe
sich daher nach Privatzeugnisfen umgesehen und in der That noch einen un¬
verdächtigen Zeugen entdeckt und vernommen.

Das war der Hausbesitzer Joseph Zwirner zu Fünfhaus. Ein Wachtmeister
der französischen Gendarmen, ein Deutscher vou Geburt, lag 1809 bei ihm
im Quartier. Dieser wurde oft zur Dienstleistung nach dem Schlosse Schön¬
brunn kommandirt. Eines Tages erzählte er, daß ein junger Mensch mit
einem Dolche den Kaiser habe töten wollen. An demselben Tage wurde der
Delinquent in ein Arrestlokal gebracht, zu dem man die Obstkcimmcr neben der
Gärtnerwohnung des Arensteinschen Hauses am Braunenhirschgrunde bestimmt
hatte. Es sollte ein Pastorssohn aus Erfurt sein. Nach drei bis vier Tagen
wurde er an einem Montage morgens nach neun Uhr von einer Schar Gendarmen
auf das Feld hinter dem Karmeliterhof in Fünfhaus geführt. Hier stand
württembergische Infanterie aufmarschiert. Der Jüngling war achtzehn bis
neunzehn Jahre alt, blaß im Gesicht, von mittlerer Statur; er trug einen
braunen Rock, aber keinen Hut. Man hatte ihm die Daumen zusammen¬
gebunden, und er mußte so vor einem aufgeworfnen Grabe knieen. Ein Geist¬
licher war nicht zugegen. Nach dem ersten Feuern verharrte er in dieser
Stellung. Da er nicht zum Tode getroffen schien, so feuerten drei Württem¬
bergs noch einmal. Er brach zusammen, und man verscharrte ihn sofort,
ohne die Daumen zu lösen. Dies alles hatte der Zeuge Zwirner durch die
Vermittlung des Gendarmenwachtmeisters mit angesehen. Die Wiener Polizei
forschte nun weiter nach dem Gärtner des Barons Arenstein, in dessen Obst¬
kammer das Arrestlokal gewesen war. Er hieß Franz Jelinek, und er war
inzwischen nach der Herrschaft Trebitsch in Mähren verzogen. Hier vernahm
man ihn am 11. Dezember 1830. Er konnte sich aber nur erinnern, daß im
Arensteinschen Hause 1809 der Gendarmeriegeneral Lauer gewohnt hatte, und


Ein beglaubigter Totenschein fehlte den Eltern noch immer. Als im
Jahre 1830 über den Nachlaß der Frau Pastorin Staps ein Erbrezeß ab¬
geschlossen wurde, galt ihr Sohn Friedrich noch immer als abwesend und ver¬
schollen, und es wurde ihm demgemäß der Anteil an seinem mütterlichen Erbe
ausgesetzt. Das Pupillenkollegium des Oberlandesgerichts in Naumburg be¬
stellte daher den Oberlandesgerichtsjustizkommissarius Schulze zu seinem Kurator.
Er versuchte vor der Einleitung einer Todeserklärung Nachrichten über das
Leben und den Aufenthalt seines Kuranden in Wien einzuziehen, wo dieser dem
Gerüchte zufolge 1809 wegen eines Attentats auf den Kaiser Napoleon er¬
schossen sein sollte. Auf sein Ansuchen erwiderte die k. k. Polizeioberdirektion
in Wien am 24. Oktober 1830: Die Erschießung des Friedrich Staps nächst
dem Dorfe Fünfhaus bei Wien (zwischen der Vorstadt Mariahilf und dem
Schlosse Schönbrunn) sei eine bekannte Thatsache; urkundliche Belege aber
ließen sich nicht erbringen. Die Untersuchungsakten seien nicht vorhanden, da
das Kriegsgericht aus einer französischen Kommission bestanden habe. Auch
das Totenbuch des Pfarrers enthielte keine Bemerkung. Die Behörde habe
sich daher nach Privatzeugnisfen umgesehen und in der That noch einen un¬
verdächtigen Zeugen entdeckt und vernommen.

Das war der Hausbesitzer Joseph Zwirner zu Fünfhaus. Ein Wachtmeister
der französischen Gendarmen, ein Deutscher vou Geburt, lag 1809 bei ihm
im Quartier. Dieser wurde oft zur Dienstleistung nach dem Schlosse Schön¬
brunn kommandirt. Eines Tages erzählte er, daß ein junger Mensch mit
einem Dolche den Kaiser habe töten wollen. An demselben Tage wurde der
Delinquent in ein Arrestlokal gebracht, zu dem man die Obstkcimmcr neben der
Gärtnerwohnung des Arensteinschen Hauses am Braunenhirschgrunde bestimmt
hatte. Es sollte ein Pastorssohn aus Erfurt sein. Nach drei bis vier Tagen
wurde er an einem Montage morgens nach neun Uhr von einer Schar Gendarmen
auf das Feld hinter dem Karmeliterhof in Fünfhaus geführt. Hier stand
württembergische Infanterie aufmarschiert. Der Jüngling war achtzehn bis
neunzehn Jahre alt, blaß im Gesicht, von mittlerer Statur; er trug einen
braunen Rock, aber keinen Hut. Man hatte ihm die Daumen zusammen¬
gebunden, und er mußte so vor einem aufgeworfnen Grabe knieen. Ein Geist¬
licher war nicht zugegen. Nach dem ersten Feuern verharrte er in dieser
Stellung. Da er nicht zum Tode getroffen schien, so feuerten drei Württem¬
bergs noch einmal. Er brach zusammen, und man verscharrte ihn sofort,
ohne die Daumen zu lösen. Dies alles hatte der Zeuge Zwirner durch die
Vermittlung des Gendarmenwachtmeisters mit angesehen. Die Wiener Polizei
forschte nun weiter nach dem Gärtner des Barons Arenstein, in dessen Obst¬
kammer das Arrestlokal gewesen war. Er hieß Franz Jelinek, und er war
inzwischen nach der Herrschaft Trebitsch in Mähren verzogen. Hier vernahm
man ihn am 11. Dezember 1830. Er konnte sich aber nur erinnern, daß im
Arensteinschen Hause 1809 der Gendarmeriegeneral Lauer gewohnt hatte, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/309>, abgerufen am 12.12.2024.