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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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das ist ihr Gott." Während dieser Unterhaltung beim Mittagessen setzte sich
ein graubärtiger alter Knabe an den Nachbartisch, und als er sah, daß ich in
der illustrirten Jubiläumsausgabe der Fröschweiler Chronik blätterte, die mir
die Wirtin freundlich gebracht hatte, rief er zu mir herüber: "Da bin ich auch
drin, Seite 34 und 215; mich haben sie besonders Photographiren lassen; ja
ich bin in der ganzen Welt berühmt," setzte er in naivem Selbstbewußtsein hinzu.
Auf die Frage, wer er denn sei, erklärte er: "Ich bin ja der Wodlijörri, ich
war schon damals Gemeindediener, und das bin ich noch!" Seine Angaben
stimmten; im übrigen wußte er nicht viel mehr zu berichten, als daß am Abend
des 6. August in Fröschweiler 26 Häuser gebrannt Hütten. Nachher führte er
mich noch in das sogenannte Schlachtenmuseum im Gemeindehause, eine be¬
scheidne Sammlung von Ausrüstungsgegenständen, Waffen, Geschossen und
Bildern; unter diesen befand sich auch eins von Kaiser Friedrich und vom
Weißenburger Kreisdirektor Stichaner.

Der fluchtartige Rückzug der Franzosen ging um die vierte Nachmittags-
stunde auf der Straße uach Neichshofen, die Fröschweiler am westlichen Ende
verläßt und über die Hochebne nach dem Großen Wald (Neuwald) führt, einem
Laubgehölz von Eichen und Buchen. Noch innerhalb des Holzes senkt sie sich
und steigt dann in Windungen durch ein flaches, offnes Wiesenthal nach Neichs¬
hofen hinab, das mitten drin an der Einmündung des Schwarzbachs in den
Falkensteinerbach liegt. Dort, wo die Straße am Sägewerk vorbei den
Schwarzbach überschreitet, steht am Wasser ein Denkstein, um an das Rück¬
zugsgefecht am 6. August zu erinnern, denn die hier sehr energische Verfolgung
ging bis in den sinkenden Abend hinein und kam erst bei Niederbronn zum
Stehen, als ihr dort die Division Lespart von Faillys Korps entgegentrat.
Doch zog sich die Hauptmasse der geschlagner Armee nicht auf Bieses zurück,
sondern bog bei Niederbronn südlich ab, um durch das Gebirge und an seinem
Ostrande hin Zabern zu erreichen und dann durch den Paß von Zabern auf
Rauch zu marschieren. Neben diesem wichtigsten und bequemsten Vogesenpasse
und dem nördlichsten nach Bieses kam noch die zwischen beiden laufende Ge¬
birgsstraße von Hcigenau über Jngweiler und Lützelstein in Betracht. Alle drei
Straßen wurden durch kleine, freilich veraltete Festungen gesperrt oder wenigstens
bedroht: Pfalzburg auf seiner waldumkränzten Hochebne etwa eine Stunde
nördlich von der erst später angelegten Straße durch die Zaberner senke,
Lützelstein mitten in den Nordvogesen und das Felsennest Bieses. Das zwischen
beiden liegende Bergfort Lichtenberg sperrte keinen Paß. Die Deutschen, die
wegen der einbrechenden Nacht die Fühlung mit dem Feinde verloren hatten,
überschritten das Gebirge auf vier Straßen. Die bayrischen Korps marschierten
geradeswegs auf Bieses oder auf einer südlichen Parallelstraße (Värenthal-Lem-
berg), das V. Korps über Lützelstein, das XI. Korps mit der vierten Kavallerie¬
division über Zabern; die württembergische Division schlug von Jngweiler aus


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das ist ihr Gott." Während dieser Unterhaltung beim Mittagessen setzte sich
ein graubärtiger alter Knabe an den Nachbartisch, und als er sah, daß ich in
der illustrirten Jubiläumsausgabe der Fröschweiler Chronik blätterte, die mir
die Wirtin freundlich gebracht hatte, rief er zu mir herüber: „Da bin ich auch
drin, Seite 34 und 215; mich haben sie besonders Photographiren lassen; ja
ich bin in der ganzen Welt berühmt," setzte er in naivem Selbstbewußtsein hinzu.
Auf die Frage, wer er denn sei, erklärte er: „Ich bin ja der Wodlijörri, ich
war schon damals Gemeindediener, und das bin ich noch!" Seine Angaben
stimmten; im übrigen wußte er nicht viel mehr zu berichten, als daß am Abend
des 6. August in Fröschweiler 26 Häuser gebrannt Hütten. Nachher führte er
mich noch in das sogenannte Schlachtenmuseum im Gemeindehause, eine be¬
scheidne Sammlung von Ausrüstungsgegenständen, Waffen, Geschossen und
Bildern; unter diesen befand sich auch eins von Kaiser Friedrich und vom
Weißenburger Kreisdirektor Stichaner.

Der fluchtartige Rückzug der Franzosen ging um die vierte Nachmittags-
stunde auf der Straße uach Neichshofen, die Fröschweiler am westlichen Ende
verläßt und über die Hochebne nach dem Großen Wald (Neuwald) führt, einem
Laubgehölz von Eichen und Buchen. Noch innerhalb des Holzes senkt sie sich
und steigt dann in Windungen durch ein flaches, offnes Wiesenthal nach Neichs¬
hofen hinab, das mitten drin an der Einmündung des Schwarzbachs in den
Falkensteinerbach liegt. Dort, wo die Straße am Sägewerk vorbei den
Schwarzbach überschreitet, steht am Wasser ein Denkstein, um an das Rück¬
zugsgefecht am 6. August zu erinnern, denn die hier sehr energische Verfolgung
ging bis in den sinkenden Abend hinein und kam erst bei Niederbronn zum
Stehen, als ihr dort die Division Lespart von Faillys Korps entgegentrat.
Doch zog sich die Hauptmasse der geschlagner Armee nicht auf Bieses zurück,
sondern bog bei Niederbronn südlich ab, um durch das Gebirge und an seinem
Ostrande hin Zabern zu erreichen und dann durch den Paß von Zabern auf
Rauch zu marschieren. Neben diesem wichtigsten und bequemsten Vogesenpasse
und dem nördlichsten nach Bieses kam noch die zwischen beiden laufende Ge¬
birgsstraße von Hcigenau über Jngweiler und Lützelstein in Betracht. Alle drei
Straßen wurden durch kleine, freilich veraltete Festungen gesperrt oder wenigstens
bedroht: Pfalzburg auf seiner waldumkränzten Hochebne etwa eine Stunde
nördlich von der erst später angelegten Straße durch die Zaberner senke,
Lützelstein mitten in den Nordvogesen und das Felsennest Bieses. Das zwischen
beiden liegende Bergfort Lichtenberg sperrte keinen Paß. Die Deutschen, die
wegen der einbrechenden Nacht die Fühlung mit dem Feinde verloren hatten,
überschritten das Gebirge auf vier Straßen. Die bayrischen Korps marschierten
geradeswegs auf Bieses oder auf einer südlichen Parallelstraße (Värenthal-Lem-
berg), das V. Korps über Lützelstein, das XI. Korps mit der vierten Kavallerie¬
division über Zabern; die württembergische Division schlug von Jngweiler aus


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[0293] von Weißenburg bis Netz das ist ihr Gott." Während dieser Unterhaltung beim Mittagessen setzte sich ein graubärtiger alter Knabe an den Nachbartisch, und als er sah, daß ich in der illustrirten Jubiläumsausgabe der Fröschweiler Chronik blätterte, die mir die Wirtin freundlich gebracht hatte, rief er zu mir herüber: „Da bin ich auch drin, Seite 34 und 215; mich haben sie besonders Photographiren lassen; ja ich bin in der ganzen Welt berühmt," setzte er in naivem Selbstbewußtsein hinzu. Auf die Frage, wer er denn sei, erklärte er: „Ich bin ja der Wodlijörri, ich war schon damals Gemeindediener, und das bin ich noch!" Seine Angaben stimmten; im übrigen wußte er nicht viel mehr zu berichten, als daß am Abend des 6. August in Fröschweiler 26 Häuser gebrannt Hütten. Nachher führte er mich noch in das sogenannte Schlachtenmuseum im Gemeindehause, eine be¬ scheidne Sammlung von Ausrüstungsgegenständen, Waffen, Geschossen und Bildern; unter diesen befand sich auch eins von Kaiser Friedrich und vom Weißenburger Kreisdirektor Stichaner. Der fluchtartige Rückzug der Franzosen ging um die vierte Nachmittags- stunde auf der Straße uach Neichshofen, die Fröschweiler am westlichen Ende verläßt und über die Hochebne nach dem Großen Wald (Neuwald) führt, einem Laubgehölz von Eichen und Buchen. Noch innerhalb des Holzes senkt sie sich und steigt dann in Windungen durch ein flaches, offnes Wiesenthal nach Neichs¬ hofen hinab, das mitten drin an der Einmündung des Schwarzbachs in den Falkensteinerbach liegt. Dort, wo die Straße am Sägewerk vorbei den Schwarzbach überschreitet, steht am Wasser ein Denkstein, um an das Rück¬ zugsgefecht am 6. August zu erinnern, denn die hier sehr energische Verfolgung ging bis in den sinkenden Abend hinein und kam erst bei Niederbronn zum Stehen, als ihr dort die Division Lespart von Faillys Korps entgegentrat. Doch zog sich die Hauptmasse der geschlagner Armee nicht auf Bieses zurück, sondern bog bei Niederbronn südlich ab, um durch das Gebirge und an seinem Ostrande hin Zabern zu erreichen und dann durch den Paß von Zabern auf Rauch zu marschieren. Neben diesem wichtigsten und bequemsten Vogesenpasse und dem nördlichsten nach Bieses kam noch die zwischen beiden laufende Ge¬ birgsstraße von Hcigenau über Jngweiler und Lützelstein in Betracht. Alle drei Straßen wurden durch kleine, freilich veraltete Festungen gesperrt oder wenigstens bedroht: Pfalzburg auf seiner waldumkränzten Hochebne etwa eine Stunde nördlich von der erst später angelegten Straße durch die Zaberner senke, Lützelstein mitten in den Nordvogesen und das Felsennest Bieses. Das zwischen beiden liegende Bergfort Lichtenberg sperrte keinen Paß. Die Deutschen, die wegen der einbrechenden Nacht die Fühlung mit dem Feinde verloren hatten, überschritten das Gebirge auf vier Straßen. Die bayrischen Korps marschierten geradeswegs auf Bieses oder auf einer südlichen Parallelstraße (Värenthal-Lem- berg), das V. Korps über Lützelstein, das XI. Korps mit der vierten Kavallerie¬ division über Zabern; die württembergische Division schlug von Jngweiler aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/293>, abgerufen am 24.07.2024.