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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche historische Landschaft

Die weitaus größte Zahl der deutschen Städte und Dörfer reicht um ein
Jahrtausend zurück, aber jede einzelne Siedlung, mit wenigen Ausnahmen, ist
gewachsen. Man ist erstaunt, wie früh selbst die Namen von Höfen und
Hütten der hintersten Alpenthäler vorkommen. Eine Karte, auf der jede
Siedlung durch einen Punkt bezeichnet wäre, würde für das Jahr 900 viele
Teile von West- und Süddeutschland nicht viel anders zeigen, als sie heute
sind. Ganz anders, wenn wir die Größe berücksichtigen. An die Stelle einer
ältern Ungleichheit der Bevölkerungsverteilung, die zwischen die am frühesten
urbaren sonnigen Hänge und natürlichen Lichtungen der Flußthäler weite
menschenleere Strecken liegen ließ, ist seit Jahrhunderten eine andre immer
wachsende Art von Ungleichheit durch den Wechsel von dicht und dünn be¬
wohnten Gebieten getreten. Stärker als je hat der Zug nach den Städten
unsre Bevölkerung erfaßt. Das war nicht immer so. Das Deutschland der
sächsischen und schwäbischen Kaiser war viel städteärmer, und seine Städte
waren eng und von halb dörflichen Wesen und durch weite unbewohnte
Räume getrennt. Aber da sich die Städte niemals wie die Dörfer an den
Wald und das Feld anschmiegen und gleichsam organisch mit ihrem Boden
verwachsen, sondern vielmehr mit der Natur um den Vorrang kämpfen und
etwas Selbständiges und Dauerndes in der Landschaft darstellen, so sind aus
der frühesten Städtezeit Mauern. Thore, Türme, Brücken, Paläste, Kirchen
erhalten, und so aus allen folgenden. Deshalb gehören städtische Bauten aus
allen Zeiten zu den hervortretendsten Zügen der deutschen Landschaft und
tragen am allermeisten zu ihrem geschichtlichen Charakter bei. Jedes Jahr¬
hundert, jede geschichtliche Gruppirung, jeder Stil hat seine Spuren in ihnen
zurückgelassen. Abstrakt angesehen ist ja jeder Städtebau eine Erhöhung über
die Umgebung, aber die alten Burgen, Kirchen, Schlösser suchten von vorn¬
herein höhere Punkte auf, von denen sie zu Schutz und Augenlust einen weiten
Bereich überblicken konnten. Wenn dann im Laufe der Jahrhunderte das
Schutzbedürfnis ab- und die Volkszahl zunahm, stiegen alle die jüngern Teile
in die Ebne hinab, und so sehen wir, wie in Jahresringen das Wachstum
nach unten und außen sich ausbreitet. Wir steigen in Baden und Heidelberg
von den Nömertürmen zu den alten Burgen und von diesen zu den neuen
Schlössern hinunter und sehen hente die einst am Vergabhang aufgebaute Stadt
breit in die Ebnen der Oos und des Neckars hinausziehen.

Je neuer die Städte sind, desto tiefer liegen sie in der Regel. Die jüngsten
Städte, deren Keime der wirtschaftliche Aufschwung des letzten Halbjahrhunderts
ausgestreut hat: Bremerhaven, Ludwigshafen, sind von Anfang an breit ans
Wasser hingebaut. Sie sind nicht bloß hinabgestiegen, sie haben sich auch aus
dem Schutze zurückgezogner Lagen herausgewagt, wie ein Vergleich zwischen
Stettin, das eine der natürlich geschütztesten Lagen unter den Ostseestädten
hat, und Swinemünde zeigt. Dagegen liegen selbst im Tiefland die alten


Die deutsche historische Landschaft

Die weitaus größte Zahl der deutschen Städte und Dörfer reicht um ein
Jahrtausend zurück, aber jede einzelne Siedlung, mit wenigen Ausnahmen, ist
gewachsen. Man ist erstaunt, wie früh selbst die Namen von Höfen und
Hütten der hintersten Alpenthäler vorkommen. Eine Karte, auf der jede
Siedlung durch einen Punkt bezeichnet wäre, würde für das Jahr 900 viele
Teile von West- und Süddeutschland nicht viel anders zeigen, als sie heute
sind. Ganz anders, wenn wir die Größe berücksichtigen. An die Stelle einer
ältern Ungleichheit der Bevölkerungsverteilung, die zwischen die am frühesten
urbaren sonnigen Hänge und natürlichen Lichtungen der Flußthäler weite
menschenleere Strecken liegen ließ, ist seit Jahrhunderten eine andre immer
wachsende Art von Ungleichheit durch den Wechsel von dicht und dünn be¬
wohnten Gebieten getreten. Stärker als je hat der Zug nach den Städten
unsre Bevölkerung erfaßt. Das war nicht immer so. Das Deutschland der
sächsischen und schwäbischen Kaiser war viel städteärmer, und seine Städte
waren eng und von halb dörflichen Wesen und durch weite unbewohnte
Räume getrennt. Aber da sich die Städte niemals wie die Dörfer an den
Wald und das Feld anschmiegen und gleichsam organisch mit ihrem Boden
verwachsen, sondern vielmehr mit der Natur um den Vorrang kämpfen und
etwas Selbständiges und Dauerndes in der Landschaft darstellen, so sind aus
der frühesten Städtezeit Mauern. Thore, Türme, Brücken, Paläste, Kirchen
erhalten, und so aus allen folgenden. Deshalb gehören städtische Bauten aus
allen Zeiten zu den hervortretendsten Zügen der deutschen Landschaft und
tragen am allermeisten zu ihrem geschichtlichen Charakter bei. Jedes Jahr¬
hundert, jede geschichtliche Gruppirung, jeder Stil hat seine Spuren in ihnen
zurückgelassen. Abstrakt angesehen ist ja jeder Städtebau eine Erhöhung über
die Umgebung, aber die alten Burgen, Kirchen, Schlösser suchten von vorn¬
herein höhere Punkte auf, von denen sie zu Schutz und Augenlust einen weiten
Bereich überblicken konnten. Wenn dann im Laufe der Jahrhunderte das
Schutzbedürfnis ab- und die Volkszahl zunahm, stiegen alle die jüngern Teile
in die Ebne hinab, und so sehen wir, wie in Jahresringen das Wachstum
nach unten und außen sich ausbreitet. Wir steigen in Baden und Heidelberg
von den Nömertürmen zu den alten Burgen und von diesen zu den neuen
Schlössern hinunter und sehen hente die einst am Vergabhang aufgebaute Stadt
breit in die Ebnen der Oos und des Neckars hinausziehen.

Je neuer die Städte sind, desto tiefer liegen sie in der Regel. Die jüngsten
Städte, deren Keime der wirtschaftliche Aufschwung des letzten Halbjahrhunderts
ausgestreut hat: Bremerhaven, Ludwigshafen, sind von Anfang an breit ans
Wasser hingebaut. Sie sind nicht bloß hinabgestiegen, sie haben sich auch aus
dem Schutze zurückgezogner Lagen herausgewagt, wie ein Vergleich zwischen
Stettin, das eine der natürlich geschütztesten Lagen unter den Ostseestädten
hat, und Swinemünde zeigt. Dagegen liegen selbst im Tiefland die alten


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[0265] Die deutsche historische Landschaft Die weitaus größte Zahl der deutschen Städte und Dörfer reicht um ein Jahrtausend zurück, aber jede einzelne Siedlung, mit wenigen Ausnahmen, ist gewachsen. Man ist erstaunt, wie früh selbst die Namen von Höfen und Hütten der hintersten Alpenthäler vorkommen. Eine Karte, auf der jede Siedlung durch einen Punkt bezeichnet wäre, würde für das Jahr 900 viele Teile von West- und Süddeutschland nicht viel anders zeigen, als sie heute sind. Ganz anders, wenn wir die Größe berücksichtigen. An die Stelle einer ältern Ungleichheit der Bevölkerungsverteilung, die zwischen die am frühesten urbaren sonnigen Hänge und natürlichen Lichtungen der Flußthäler weite menschenleere Strecken liegen ließ, ist seit Jahrhunderten eine andre immer wachsende Art von Ungleichheit durch den Wechsel von dicht und dünn be¬ wohnten Gebieten getreten. Stärker als je hat der Zug nach den Städten unsre Bevölkerung erfaßt. Das war nicht immer so. Das Deutschland der sächsischen und schwäbischen Kaiser war viel städteärmer, und seine Städte waren eng und von halb dörflichen Wesen und durch weite unbewohnte Räume getrennt. Aber da sich die Städte niemals wie die Dörfer an den Wald und das Feld anschmiegen und gleichsam organisch mit ihrem Boden verwachsen, sondern vielmehr mit der Natur um den Vorrang kämpfen und etwas Selbständiges und Dauerndes in der Landschaft darstellen, so sind aus der frühesten Städtezeit Mauern. Thore, Türme, Brücken, Paläste, Kirchen erhalten, und so aus allen folgenden. Deshalb gehören städtische Bauten aus allen Zeiten zu den hervortretendsten Zügen der deutschen Landschaft und tragen am allermeisten zu ihrem geschichtlichen Charakter bei. Jedes Jahr¬ hundert, jede geschichtliche Gruppirung, jeder Stil hat seine Spuren in ihnen zurückgelassen. Abstrakt angesehen ist ja jeder Städtebau eine Erhöhung über die Umgebung, aber die alten Burgen, Kirchen, Schlösser suchten von vorn¬ herein höhere Punkte auf, von denen sie zu Schutz und Augenlust einen weiten Bereich überblicken konnten. Wenn dann im Laufe der Jahrhunderte das Schutzbedürfnis ab- und die Volkszahl zunahm, stiegen alle die jüngern Teile in die Ebne hinab, und so sehen wir, wie in Jahresringen das Wachstum nach unten und außen sich ausbreitet. Wir steigen in Baden und Heidelberg von den Nömertürmen zu den alten Burgen und von diesen zu den neuen Schlössern hinunter und sehen hente die einst am Vergabhang aufgebaute Stadt breit in die Ebnen der Oos und des Neckars hinausziehen. Je neuer die Städte sind, desto tiefer liegen sie in der Regel. Die jüngsten Städte, deren Keime der wirtschaftliche Aufschwung des letzten Halbjahrhunderts ausgestreut hat: Bremerhaven, Ludwigshafen, sind von Anfang an breit ans Wasser hingebaut. Sie sind nicht bloß hinabgestiegen, sie haben sich auch aus dem Schutze zurückgezogner Lagen herausgewagt, wie ein Vergleich zwischen Stettin, das eine der natürlich geschütztesten Lagen unter den Ostseestädten hat, und Swinemünde zeigt. Dagegen liegen selbst im Tiefland die alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/265>, abgerufen am 12.12.2024.