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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

möglicherweise den völligen Untergang aller europäischen Gesittung und eine
neue Periode der Barbarei.

Wir dürfen heute hoffen, daß die Einsicht der Regierungen uns vor dem
Eintreffen auch dieser Prophezeiung bewahrt, indem sie das, was in der
Arbeiterbewegung sittlich berechtigt ist, rechtzeitig in ihre Politik aufnehmen.
Die bestehenden sozialdemokratischen Verbände, wie sie sich auf der Grundlage
der von Bernhardi bekämpften Anschauungen entwickelt haben und entwickeln
mußten, sind in der That weder zivilisatorisch, noch wahrhaft sozial, sie sind
vielmehr durchaus individualistisch, materialistisch und doktrinär wie ihre geld¬
bürgerlichen Lehrer und Väter; das ergiebt sich am deutlichsten aus ihrer oft so
unbegreiflichen Stellung zu allen staatlichen Forderungen wie aus ihrer Ver¬
leugnung des innern religiösen Bedürfnisses. Es sind Gestaltungen des bis
in die untersten Schichten durchgedrungnen Rationalismus des achtzehnten
Jahrhunderts mit seiner blinden Überschätzung des Individuums und der
Gegenwart. Wie zu erwarten war und nicht verkannt werden darf, hat sich
in der neuesten Zeit der rechte Flügel der Sozialdemokratie von diesem Stand¬
punkt und der doktrinären Phrase abgewandt und vernünftiger Einsicht zu¬
gänglicher gezeigt. Denn der wahre Sozialismus als Weltanschauung ist
nichts als die vernünftige Einschränkung des strebenden Individualismus, der
unausrottbar in der menschlichen Natur liegt und der Sauerteig aller Zivili¬
sation ist. Diese wirklich soziale Anschauung birgt, wie der bedeutendste der
neuern politischen Schriftsteller (Ratzenhofer) ausführt, keine sozialen Gefahren
und keine Übertreibung in sich, wie die individualistische, weil sie immer nur
die führenden Geister der Menschen beherrschen und in den Massen nur als
Veredlung der Sitten, als Pflichtbewußtsein und Ehrgefühl auftreten kann.

Bei allen gesellschaftlichen und staatlichen Fragen handelt es sich nach
Bernhardts Überzeugung aber nicht darum, der "natürlichen" Entwicklung der
Dinge ihren Lauf zu lassen, sondern darum, eine bestimmte Aufgabe mit
Bewußtsein zu lösen. Sein geläuterter Sozialismus ist nicht der landläufige
Kathedersozialismus der letzten Jahrzehnte, es ist wahre soziale Gesinnung,
die sich in vollendetster Form fast vierzig Jahre später in der Mahnung des
Bierundachtzigjährigen auf seinem Sterbelager an den Sohn ausspricht: niemals
ZU vergessen, daß alles Streben und Erringen im Leben des Einzelnen eine
wirkliche und wahre Bedeutung nur dann gewinnt, wenn es in bewußter Be¬
ziehung steht zum Allgemeinen.




Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

möglicherweise den völligen Untergang aller europäischen Gesittung und eine
neue Periode der Barbarei.

Wir dürfen heute hoffen, daß die Einsicht der Regierungen uns vor dem
Eintreffen auch dieser Prophezeiung bewahrt, indem sie das, was in der
Arbeiterbewegung sittlich berechtigt ist, rechtzeitig in ihre Politik aufnehmen.
Die bestehenden sozialdemokratischen Verbände, wie sie sich auf der Grundlage
der von Bernhardi bekämpften Anschauungen entwickelt haben und entwickeln
mußten, sind in der That weder zivilisatorisch, noch wahrhaft sozial, sie sind
vielmehr durchaus individualistisch, materialistisch und doktrinär wie ihre geld¬
bürgerlichen Lehrer und Väter; das ergiebt sich am deutlichsten aus ihrer oft so
unbegreiflichen Stellung zu allen staatlichen Forderungen wie aus ihrer Ver¬
leugnung des innern religiösen Bedürfnisses. Es sind Gestaltungen des bis
in die untersten Schichten durchgedrungnen Rationalismus des achtzehnten
Jahrhunderts mit seiner blinden Überschätzung des Individuums und der
Gegenwart. Wie zu erwarten war und nicht verkannt werden darf, hat sich
in der neuesten Zeit der rechte Flügel der Sozialdemokratie von diesem Stand¬
punkt und der doktrinären Phrase abgewandt und vernünftiger Einsicht zu¬
gänglicher gezeigt. Denn der wahre Sozialismus als Weltanschauung ist
nichts als die vernünftige Einschränkung des strebenden Individualismus, der
unausrottbar in der menschlichen Natur liegt und der Sauerteig aller Zivili¬
sation ist. Diese wirklich soziale Anschauung birgt, wie der bedeutendste der
neuern politischen Schriftsteller (Ratzenhofer) ausführt, keine sozialen Gefahren
und keine Übertreibung in sich, wie die individualistische, weil sie immer nur
die führenden Geister der Menschen beherrschen und in den Massen nur als
Veredlung der Sitten, als Pflichtbewußtsein und Ehrgefühl auftreten kann.

Bei allen gesellschaftlichen und staatlichen Fragen handelt es sich nach
Bernhardts Überzeugung aber nicht darum, der „natürlichen" Entwicklung der
Dinge ihren Lauf zu lassen, sondern darum, eine bestimmte Aufgabe mit
Bewußtsein zu lösen. Sein geläuterter Sozialismus ist nicht der landläufige
Kathedersozialismus der letzten Jahrzehnte, es ist wahre soziale Gesinnung,
die sich in vollendetster Form fast vierzig Jahre später in der Mahnung des
Bierundachtzigjährigen auf seinem Sterbelager an den Sohn ausspricht: niemals
ZU vergessen, daß alles Streben und Erringen im Leben des Einzelnen eine
wirkliche und wahre Bedeutung nur dann gewinnt, wenn es in bewußter Be¬
ziehung steht zum Allgemeinen.




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[0250] Theodor von Bernhard! als Nationalökonom möglicherweise den völligen Untergang aller europäischen Gesittung und eine neue Periode der Barbarei. Wir dürfen heute hoffen, daß die Einsicht der Regierungen uns vor dem Eintreffen auch dieser Prophezeiung bewahrt, indem sie das, was in der Arbeiterbewegung sittlich berechtigt ist, rechtzeitig in ihre Politik aufnehmen. Die bestehenden sozialdemokratischen Verbände, wie sie sich auf der Grundlage der von Bernhardi bekämpften Anschauungen entwickelt haben und entwickeln mußten, sind in der That weder zivilisatorisch, noch wahrhaft sozial, sie sind vielmehr durchaus individualistisch, materialistisch und doktrinär wie ihre geld¬ bürgerlichen Lehrer und Väter; das ergiebt sich am deutlichsten aus ihrer oft so unbegreiflichen Stellung zu allen staatlichen Forderungen wie aus ihrer Ver¬ leugnung des innern religiösen Bedürfnisses. Es sind Gestaltungen des bis in die untersten Schichten durchgedrungnen Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner blinden Überschätzung des Individuums und der Gegenwart. Wie zu erwarten war und nicht verkannt werden darf, hat sich in der neuesten Zeit der rechte Flügel der Sozialdemokratie von diesem Stand¬ punkt und der doktrinären Phrase abgewandt und vernünftiger Einsicht zu¬ gänglicher gezeigt. Denn der wahre Sozialismus als Weltanschauung ist nichts als die vernünftige Einschränkung des strebenden Individualismus, der unausrottbar in der menschlichen Natur liegt und der Sauerteig aller Zivili¬ sation ist. Diese wirklich soziale Anschauung birgt, wie der bedeutendste der neuern politischen Schriftsteller (Ratzenhofer) ausführt, keine sozialen Gefahren und keine Übertreibung in sich, wie die individualistische, weil sie immer nur die führenden Geister der Menschen beherrschen und in den Massen nur als Veredlung der Sitten, als Pflichtbewußtsein und Ehrgefühl auftreten kann. Bei allen gesellschaftlichen und staatlichen Fragen handelt es sich nach Bernhardts Überzeugung aber nicht darum, der „natürlichen" Entwicklung der Dinge ihren Lauf zu lassen, sondern darum, eine bestimmte Aufgabe mit Bewußtsein zu lösen. Sein geläuterter Sozialismus ist nicht der landläufige Kathedersozialismus der letzten Jahrzehnte, es ist wahre soziale Gesinnung, die sich in vollendetster Form fast vierzig Jahre später in der Mahnung des Bierundachtzigjährigen auf seinem Sterbelager an den Sohn ausspricht: niemals ZU vergessen, daß alles Streben und Erringen im Leben des Einzelnen eine wirkliche und wahre Bedeutung nur dann gewinnt, wenn es in bewußter Be¬ ziehung steht zum Allgemeinen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/250>, abgerufen am 12.12.2024.