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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

worden. Die Herren waren entrüstet, wenn ihnen der geringste Irrtum vor¬
gehalten, der kleinste Fehler zugetraut wurde. Leichtfertig bezichtigten sie den,
der andrer Meinung war als sie, kurzweg der Arbeiterfeindlichkeit, des Unter-
nehmerinteresses, antisozialer Gesinnung, am liebsten der Fahnenflucht. Selbst
das hochherzige Bestreben des Kaisers für das Wohl der arbeitenden Klassen
wurde in blinder Selbstgerechtigkeit als abgethan und aufgegeben hingestellt,
sobald es nicht mehr Schritt hielt mit der verantwortungslosen, überhasteten,
unklaren Reformlust der Herren.

Die ungünstige Wirkung dieser sozialistischen Fehler ist noch verschärft
worden durch den traurigen Verfall des deutschen Liberalismus. Niemals
ist dieser Liberalismus, der vor allem berufen wäre, in dem so sehr zugespitzten
Kampf der Interessengegensätze die Autorität der Staatsgewalt als den Hort
der persönlichen Freiheit hoch zu halten gegen die sozialistische Zwangsjacke
wie gegen die Knechtung durch Protzentum und Junkertum, niemals ist er
jämmerlicher vertreten gewesen als heute. Schmarotzer rechts, Schmarotzer
links, können die Parteien, die sich heute liberal oder freisinnig nennen, nicht
mehr in Betracht kommen als Stütze für eine im guten Sinne liberale Politik,
ohne die -- darüber wollen wir uns keiner Täuschung hingeben -- eine be¬
friedigende Lösung der brennenden sozialen Frage nicht möglich ist, und zu
der leider Gottes die konservativen Parteien von heute mehr und mehr in
unversöhnlichen Gegensatz zu geraten scheinen.

Trotzdem darf die Lösung der sozialen Frage nicht vertagt werden. Die
Entartung der sozialen und politischen Gesinnung, in die ein großer Teil des
Volkes schon hineingeraten ist, ist ein schnell fressender Schaden, und jedes
Jahr, das verläuft, ohne daß ein Erfolg dagegen errungen ist, bedeutet einen
Schritt zur Auflösung und zum Verfall. Nur Leichtsinn kann sich heute uoch
über diese Gefahr täuschen, auch dann, wenn der modernen Gesellschaft das
Organ für selbstlosen Zorn und Schmerz über das Unglück der irregeführten
Massen und über ihre Ohnmacht, sich selbst dem Banne der Verführer zu ent¬
gehen, verloren gegangen sein sollte. Trotzdem und trotz alledem darf in
diesem großen Erziehungswerk unter keinen Umständen auf eine liberale Sozial¬
politik verzichtet werden, und darf der Kaiser nicht irre werden an seinen aus
eigenster Erkenntnis von Recht und Unrecht und aus wahrhaft vornehmem
Freisinn heraus kund gegebnen Grundsätzen treuer Fürsorge und kräftigen
Schutzes für die arbeitenden Klaffen. Wenn irgendwo, so verlassen wir uns
hier auf ihn.

Bekannt ist, wieviel von rechts und vou links aufgeboten wird, dem
deutschen Volke dieses Vertrauen zu rauben. Bekannt ist aber auch, daß
oder gerade konservative Politiker schon zu Anfang der neunziger Jahre Ver¬
brechen der Arbeiter gegen die öffentliche Ordnung herbeiwünschten, um den
Kaiser in seinen Grundsätzen wankend zu machen, und daß man seitdem fort-


Die Sozialpolitik der nächsten Zeit

worden. Die Herren waren entrüstet, wenn ihnen der geringste Irrtum vor¬
gehalten, der kleinste Fehler zugetraut wurde. Leichtfertig bezichtigten sie den,
der andrer Meinung war als sie, kurzweg der Arbeiterfeindlichkeit, des Unter-
nehmerinteresses, antisozialer Gesinnung, am liebsten der Fahnenflucht. Selbst
das hochherzige Bestreben des Kaisers für das Wohl der arbeitenden Klassen
wurde in blinder Selbstgerechtigkeit als abgethan und aufgegeben hingestellt,
sobald es nicht mehr Schritt hielt mit der verantwortungslosen, überhasteten,
unklaren Reformlust der Herren.

Die ungünstige Wirkung dieser sozialistischen Fehler ist noch verschärft
worden durch den traurigen Verfall des deutschen Liberalismus. Niemals
ist dieser Liberalismus, der vor allem berufen wäre, in dem so sehr zugespitzten
Kampf der Interessengegensätze die Autorität der Staatsgewalt als den Hort
der persönlichen Freiheit hoch zu halten gegen die sozialistische Zwangsjacke
wie gegen die Knechtung durch Protzentum und Junkertum, niemals ist er
jämmerlicher vertreten gewesen als heute. Schmarotzer rechts, Schmarotzer
links, können die Parteien, die sich heute liberal oder freisinnig nennen, nicht
mehr in Betracht kommen als Stütze für eine im guten Sinne liberale Politik,
ohne die — darüber wollen wir uns keiner Täuschung hingeben — eine be¬
friedigende Lösung der brennenden sozialen Frage nicht möglich ist, und zu
der leider Gottes die konservativen Parteien von heute mehr und mehr in
unversöhnlichen Gegensatz zu geraten scheinen.

Trotzdem darf die Lösung der sozialen Frage nicht vertagt werden. Die
Entartung der sozialen und politischen Gesinnung, in die ein großer Teil des
Volkes schon hineingeraten ist, ist ein schnell fressender Schaden, und jedes
Jahr, das verläuft, ohne daß ein Erfolg dagegen errungen ist, bedeutet einen
Schritt zur Auflösung und zum Verfall. Nur Leichtsinn kann sich heute uoch
über diese Gefahr täuschen, auch dann, wenn der modernen Gesellschaft das
Organ für selbstlosen Zorn und Schmerz über das Unglück der irregeführten
Massen und über ihre Ohnmacht, sich selbst dem Banne der Verführer zu ent¬
gehen, verloren gegangen sein sollte. Trotzdem und trotz alledem darf in
diesem großen Erziehungswerk unter keinen Umständen auf eine liberale Sozial¬
politik verzichtet werden, und darf der Kaiser nicht irre werden an seinen aus
eigenster Erkenntnis von Recht und Unrecht und aus wahrhaft vornehmem
Freisinn heraus kund gegebnen Grundsätzen treuer Fürsorge und kräftigen
Schutzes für die arbeitenden Klaffen. Wenn irgendwo, so verlassen wir uns
hier auf ihn.

Bekannt ist, wieviel von rechts und vou links aufgeboten wird, dem
deutschen Volke dieses Vertrauen zu rauben. Bekannt ist aber auch, daß
oder gerade konservative Politiker schon zu Anfang der neunziger Jahre Ver¬
brechen der Arbeiter gegen die öffentliche Ordnung herbeiwünschten, um den
Kaiser in seinen Grundsätzen wankend zu machen, und daß man seitdem fort-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/25>, abgerufen am 12.12.2024.