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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

wie sie wirklich geschieht, immer das Ergebnis eines Kampfes zwischen den
Arbeitern und den Kapitalbesitzern sein, worin bei der fortwährenden allmählichen
Umgestaltung der wirtschaftlichen Lage jeder Teil sucht, sich so viel anzueignen,
als er kann, bei jeder Änderung so viel zu gewinnen oder so viel zu ver¬
dienen als möglich. Ein unbefangner Blick auf die vorliegenden Verhältnisse
muß uns davon überzeugen, daß die Arbeiter ohne Vergleich die schwächere
der kämpfenden Parteien sind. Ob nicht der Staat, wie in so manchem
andern, so auch in Beziehung auf wirtschaftliche Verhältnisse für den Schwächer!?
eintreten und ihn schützen sollte, damit der Kampf, wenn nicht strengem Recht
gemäß, dessen Gebote auf diesem Boden uicht mit genügender Schärfe nach¬
gewiesen werden können, doch durch Vernunft und Billigkeit, nicht durch rück¬
sichtslos gebrauchte Übermacht entschieden werde -- das ist eine Frage, die
wohl noch nicht abschließend erledigt ist, selbst wenn man erwägt, was
A. Smith gegen das Unheil staatlicher Einmischung und für die natürliche
Notwendigkeit und den Segen eines in jeder Beziehung vollkommen freien Wett¬
bewerbes sagt.

Heute, fünfzig Jahre später, haben wir erkannt, daß die Lehre von der
innerlichen Korrektur aller Übel durch die unbeschränkt frei wirkende Indivi¬
dualität die große Lüge des freisinnigen Zeitgeistes war. Nachdem dieser
Zeitgeist alle Individualitäten der Gesellschaft in den politischen Kampf geführt
hat, hat er sein Werk gethan, und eine soziale Anschauung wird zur Not¬
wendigkeit, wenn nicht der verderbliche Kampf aller gegen alle, der Deutschland
schon einmal zu Grunde gerichtet hat, wieder entbrennen soll. Inwieweit der
Staat für die Arbeiter in ihrem wirtschaftlichen Kampfe Partei nehmen soll
und darf, darüber läßt sich im allgemeinen nur sagen: soweit als die Interessen
der Arbeiter mit den Interessen der Gesamtheit und denen der Zukunft über¬
einstimmen. Jedenfalls soll der Staat aber auch nur so weit und nicht weiter
die Partei der Arbeitgeber, der Kapitalisten nehmen, sondern vielmehr alles
begünstigen, was geeignet ist, eine friedliche Übereinkunft, eine Vereinbarung
der Parteien auf gesetzlichem Boden zu fördern. Jede Verschärfung der
Gegensätze widerspricht seiner Aufgabe. Wir erkennen es als einen verheißungs¬
voller Fortschritt, wenn die Taktik leidenschaftlicher Aufrufe aufgegeben und
die ganze Frage in das ruhigere Fahrwasser nüchterner und sachlicher Er¬
wägungen geleitet worden ist. Nur das ist wahre, eines großen Kulturstaats
würdige Politik.

Gerade die englische Manchesterlehre ist es, die alle Grundlagen der
spätern sozialdemokratischen Doktrin enthält; daß die Arbeiter andre Schlüsse
daraus ziehen als die Unternehmer, zu deren Vorteil sie ursprünglich aufgestellt
wurde, das kann niemand Wunder nehmen. Hier sitzt also die Wurzel des
Übels, und um es zu beseitigen, gilt es, den Fehler beiden Teilen zu zeigen
und eine Vereinigung von einem höhern Standpunkt aus zu ermöglichen. Die


Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

wie sie wirklich geschieht, immer das Ergebnis eines Kampfes zwischen den
Arbeitern und den Kapitalbesitzern sein, worin bei der fortwährenden allmählichen
Umgestaltung der wirtschaftlichen Lage jeder Teil sucht, sich so viel anzueignen,
als er kann, bei jeder Änderung so viel zu gewinnen oder so viel zu ver¬
dienen als möglich. Ein unbefangner Blick auf die vorliegenden Verhältnisse
muß uns davon überzeugen, daß die Arbeiter ohne Vergleich die schwächere
der kämpfenden Parteien sind. Ob nicht der Staat, wie in so manchem
andern, so auch in Beziehung auf wirtschaftliche Verhältnisse für den Schwächer!?
eintreten und ihn schützen sollte, damit der Kampf, wenn nicht strengem Recht
gemäß, dessen Gebote auf diesem Boden uicht mit genügender Schärfe nach¬
gewiesen werden können, doch durch Vernunft und Billigkeit, nicht durch rück¬
sichtslos gebrauchte Übermacht entschieden werde — das ist eine Frage, die
wohl noch nicht abschließend erledigt ist, selbst wenn man erwägt, was
A. Smith gegen das Unheil staatlicher Einmischung und für die natürliche
Notwendigkeit und den Segen eines in jeder Beziehung vollkommen freien Wett¬
bewerbes sagt.

Heute, fünfzig Jahre später, haben wir erkannt, daß die Lehre von der
innerlichen Korrektur aller Übel durch die unbeschränkt frei wirkende Indivi¬
dualität die große Lüge des freisinnigen Zeitgeistes war. Nachdem dieser
Zeitgeist alle Individualitäten der Gesellschaft in den politischen Kampf geführt
hat, hat er sein Werk gethan, und eine soziale Anschauung wird zur Not¬
wendigkeit, wenn nicht der verderbliche Kampf aller gegen alle, der Deutschland
schon einmal zu Grunde gerichtet hat, wieder entbrennen soll. Inwieweit der
Staat für die Arbeiter in ihrem wirtschaftlichen Kampfe Partei nehmen soll
und darf, darüber läßt sich im allgemeinen nur sagen: soweit als die Interessen
der Arbeiter mit den Interessen der Gesamtheit und denen der Zukunft über¬
einstimmen. Jedenfalls soll der Staat aber auch nur so weit und nicht weiter
die Partei der Arbeitgeber, der Kapitalisten nehmen, sondern vielmehr alles
begünstigen, was geeignet ist, eine friedliche Übereinkunft, eine Vereinbarung
der Parteien auf gesetzlichem Boden zu fördern. Jede Verschärfung der
Gegensätze widerspricht seiner Aufgabe. Wir erkennen es als einen verheißungs¬
voller Fortschritt, wenn die Taktik leidenschaftlicher Aufrufe aufgegeben und
die ganze Frage in das ruhigere Fahrwasser nüchterner und sachlicher Er¬
wägungen geleitet worden ist. Nur das ist wahre, eines großen Kulturstaats
würdige Politik.

Gerade die englische Manchesterlehre ist es, die alle Grundlagen der
spätern sozialdemokratischen Doktrin enthält; daß die Arbeiter andre Schlüsse
daraus ziehen als die Unternehmer, zu deren Vorteil sie ursprünglich aufgestellt
wurde, das kann niemand Wunder nehmen. Hier sitzt also die Wurzel des
Übels, und um es zu beseitigen, gilt es, den Fehler beiden Teilen zu zeigen
und eine Vereinigung von einem höhern Standpunkt aus zu ermöglichen. Die


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[0243] Theodor von Bernhard! als Nationalökonom wie sie wirklich geschieht, immer das Ergebnis eines Kampfes zwischen den Arbeitern und den Kapitalbesitzern sein, worin bei der fortwährenden allmählichen Umgestaltung der wirtschaftlichen Lage jeder Teil sucht, sich so viel anzueignen, als er kann, bei jeder Änderung so viel zu gewinnen oder so viel zu ver¬ dienen als möglich. Ein unbefangner Blick auf die vorliegenden Verhältnisse muß uns davon überzeugen, daß die Arbeiter ohne Vergleich die schwächere der kämpfenden Parteien sind. Ob nicht der Staat, wie in so manchem andern, so auch in Beziehung auf wirtschaftliche Verhältnisse für den Schwächer!? eintreten und ihn schützen sollte, damit der Kampf, wenn nicht strengem Recht gemäß, dessen Gebote auf diesem Boden uicht mit genügender Schärfe nach¬ gewiesen werden können, doch durch Vernunft und Billigkeit, nicht durch rück¬ sichtslos gebrauchte Übermacht entschieden werde — das ist eine Frage, die wohl noch nicht abschließend erledigt ist, selbst wenn man erwägt, was A. Smith gegen das Unheil staatlicher Einmischung und für die natürliche Notwendigkeit und den Segen eines in jeder Beziehung vollkommen freien Wett¬ bewerbes sagt. Heute, fünfzig Jahre später, haben wir erkannt, daß die Lehre von der innerlichen Korrektur aller Übel durch die unbeschränkt frei wirkende Indivi¬ dualität die große Lüge des freisinnigen Zeitgeistes war. Nachdem dieser Zeitgeist alle Individualitäten der Gesellschaft in den politischen Kampf geführt hat, hat er sein Werk gethan, und eine soziale Anschauung wird zur Not¬ wendigkeit, wenn nicht der verderbliche Kampf aller gegen alle, der Deutschland schon einmal zu Grunde gerichtet hat, wieder entbrennen soll. Inwieweit der Staat für die Arbeiter in ihrem wirtschaftlichen Kampfe Partei nehmen soll und darf, darüber läßt sich im allgemeinen nur sagen: soweit als die Interessen der Arbeiter mit den Interessen der Gesamtheit und denen der Zukunft über¬ einstimmen. Jedenfalls soll der Staat aber auch nur so weit und nicht weiter die Partei der Arbeitgeber, der Kapitalisten nehmen, sondern vielmehr alles begünstigen, was geeignet ist, eine friedliche Übereinkunft, eine Vereinbarung der Parteien auf gesetzlichem Boden zu fördern. Jede Verschärfung der Gegensätze widerspricht seiner Aufgabe. Wir erkennen es als einen verheißungs¬ voller Fortschritt, wenn die Taktik leidenschaftlicher Aufrufe aufgegeben und die ganze Frage in das ruhigere Fahrwasser nüchterner und sachlicher Er¬ wägungen geleitet worden ist. Nur das ist wahre, eines großen Kulturstaats würdige Politik. Gerade die englische Manchesterlehre ist es, die alle Grundlagen der spätern sozialdemokratischen Doktrin enthält; daß die Arbeiter andre Schlüsse daraus ziehen als die Unternehmer, zu deren Vorteil sie ursprünglich aufgestellt wurde, das kann niemand Wunder nehmen. Hier sitzt also die Wurzel des Übels, und um es zu beseitigen, gilt es, den Fehler beiden Teilen zu zeigen und eine Vereinigung von einem höhern Standpunkt aus zu ermöglichen. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/243>, abgerufen am 24.07.2024.