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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Über verminderte Zurechnmigsfähigkeit

kalte Douchen, engen Arrest, werden diese schwachen Naturen niemals gebessert,
sondern nur aufs tiefste erbittert, aufs empfindlichste gereizt. Anhaltende
Einzelhaft hat den Ausbruch akuter Geisteskrankheit mit Angst und Sinnes¬
täuschungen zur Folge und ruft einen solchen Grad von Teilnahmlosigkeit und
Stumpfsinn hervor, daß längere Zeit Jsolirte dauernden Schaden an ihrer
geistigen Gesundheit davontragen können und davongetragen haben. Der
Aufenthalt in unsern Strafanstalten schädigt viele psychopathisch Minderwertige
so sehr, daß sie bei der Entlassung in sittlich viel schlechter," Zustande fort¬
gehen, als sie zur Zeit der Begehung ihres Verbrechens waren. Kann man
sich da wundern, wenn sie sogleich wieder rückfällig werden und ihre ver¬
brecherischen Begierden nur noch in viel brutalerer nud rafsinirterer Weise be¬
friedigen?

Aus diesen Gesichtspunkten hat man in Italien, wo die verminderte
Zurechnungsfähigkeit bei der Verurteilung und der Strafvollziehung berück¬
sichtigt wird, besondre Strafanstalten: Aufsichtsanstalten eingerichtet, in denen
eine mildere Disziplin herrscht. Auch bei uns sind ganz besondre Bestim¬
mungen für die Strafvollziehung an den bis zu einem gewissen Grade psycho-
Pathologischen Verbrechern dringend erforderlich. Sieht man die Gefängnis¬
akten solcher Personen durch, so findet man oft, daß sie sich eine geradezu
erschreckende Anzahl von Bestrafungen durch Übertretung des Schweigegebots,
durch Widersetzlichkeit, Ungehorsam, Beleidigungen der Aufsichtsbeamten usw.
zugezogen habe". Bei einer verständnisvollern Behandlung könnten viele dieser
Strafen vermieden werden! Dieses Verständnis bezieht sich aber auf verwickelte,
nicht klar zu Tage liegende Verhältnisse des Seelenlebens. Bei einem Ge-
faugenwürter unsrer Zeit, einem frühern Unteroffizier, kann dieses Verständnis
in der Regel nicht vorausgesetzt werden. Es ist ihm auch nicht beizubringen,
daß die Gefühlsausbrüche derartiger Menschen krankhafter Natur sind und
rücksichtsvolle Behandlung verlangen, wenn nicht um leitender Stelle eine
ärztlich und irrenärztlich geschulte Persönlichkeit einen entscheidenden Einfluß
auf die Behandlung minderwertiger Anstaltsinsassen geltend macht. Dieser
Arzt muß in der Lage sein, nicht nnr zu beantragen, sondern auch durchzu¬
setzen, daß Geduld und Wohlwollen mit zweckentsprechenden Ernst verbunden
werden. Der Geist der Humanität muß auch über den Anstalten walten, in
denen Personen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit gefangen gehalten
werden; natürlich nur bis zu einer gewissen Grenze, denn der Charakter der
Strafanstalt darf nicht verwischt werden. Aber die Anregung des Einzelnen
zum Guten, zur Achtung vor Recht und Gesetz, eine Erziehung, die Verstand
und Willen kräftigt und auf das Gemüt bessernd und beruhigend wirkt, muß
der Grundsatz sein, der durch das ganze Anstaltswesen hindurchgeht.

Wollte man für die Strafvollziehung an den weniger zurechnungsfähigen
Personen keine besondern Anstalten oder wenigstens abgesonderten Räumlich-


Über verminderte Zurechnmigsfähigkeit

kalte Douchen, engen Arrest, werden diese schwachen Naturen niemals gebessert,
sondern nur aufs tiefste erbittert, aufs empfindlichste gereizt. Anhaltende
Einzelhaft hat den Ausbruch akuter Geisteskrankheit mit Angst und Sinnes¬
täuschungen zur Folge und ruft einen solchen Grad von Teilnahmlosigkeit und
Stumpfsinn hervor, daß längere Zeit Jsolirte dauernden Schaden an ihrer
geistigen Gesundheit davontragen können und davongetragen haben. Der
Aufenthalt in unsern Strafanstalten schädigt viele psychopathisch Minderwertige
so sehr, daß sie bei der Entlassung in sittlich viel schlechter,» Zustande fort¬
gehen, als sie zur Zeit der Begehung ihres Verbrechens waren. Kann man
sich da wundern, wenn sie sogleich wieder rückfällig werden und ihre ver¬
brecherischen Begierden nur noch in viel brutalerer nud rafsinirterer Weise be¬
friedigen?

Aus diesen Gesichtspunkten hat man in Italien, wo die verminderte
Zurechnungsfähigkeit bei der Verurteilung und der Strafvollziehung berück¬
sichtigt wird, besondre Strafanstalten: Aufsichtsanstalten eingerichtet, in denen
eine mildere Disziplin herrscht. Auch bei uns sind ganz besondre Bestim¬
mungen für die Strafvollziehung an den bis zu einem gewissen Grade psycho-
Pathologischen Verbrechern dringend erforderlich. Sieht man die Gefängnis¬
akten solcher Personen durch, so findet man oft, daß sie sich eine geradezu
erschreckende Anzahl von Bestrafungen durch Übertretung des Schweigegebots,
durch Widersetzlichkeit, Ungehorsam, Beleidigungen der Aufsichtsbeamten usw.
zugezogen habe». Bei einer verständnisvollern Behandlung könnten viele dieser
Strafen vermieden werden! Dieses Verständnis bezieht sich aber auf verwickelte,
nicht klar zu Tage liegende Verhältnisse des Seelenlebens. Bei einem Ge-
faugenwürter unsrer Zeit, einem frühern Unteroffizier, kann dieses Verständnis
in der Regel nicht vorausgesetzt werden. Es ist ihm auch nicht beizubringen,
daß die Gefühlsausbrüche derartiger Menschen krankhafter Natur sind und
rücksichtsvolle Behandlung verlangen, wenn nicht um leitender Stelle eine
ärztlich und irrenärztlich geschulte Persönlichkeit einen entscheidenden Einfluß
auf die Behandlung minderwertiger Anstaltsinsassen geltend macht. Dieser
Arzt muß in der Lage sein, nicht nnr zu beantragen, sondern auch durchzu¬
setzen, daß Geduld und Wohlwollen mit zweckentsprechenden Ernst verbunden
werden. Der Geist der Humanität muß auch über den Anstalten walten, in
denen Personen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit gefangen gehalten
werden; natürlich nur bis zu einer gewissen Grenze, denn der Charakter der
Strafanstalt darf nicht verwischt werden. Aber die Anregung des Einzelnen
zum Guten, zur Achtung vor Recht und Gesetz, eine Erziehung, die Verstand
und Willen kräftigt und auf das Gemüt bessernd und beruhigend wirkt, muß
der Grundsatz sein, der durch das ganze Anstaltswesen hindurchgeht.

Wollte man für die Strafvollziehung an den weniger zurechnungsfähigen
Personen keine besondern Anstalten oder wenigstens abgesonderten Räumlich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/200>, abgerufen am 04.07.2024.