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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

verrät, bei Rotznase mit Tod der Verletzten und vielen andern wichtigen
Verbrechen können keine mildernden Umstände zugebilligt werden. Die mildernden
Umstände entsprechen jedoch dem geschilderten Bedürfnisse auch sonst nicht
in ausreichendem Maße. Viel besser ist die Gleichstellung der Schwach¬
sinnigen, der Nervenkranken mit Mittlerin psychischem Defekt usw., mit den
minderjährigen Verbrechern, deren unvollkommner Erkenntnis das Reichsstraf-
gesetzbnch in Z 57 ein mildes Strafmaß zuerkennt. In Dresden besteht seit
1894 eine aus Juristen, Psychiatern und Gerichtsürzten zusammengesetzte
sorcusisch-psychiatrische Vereinigung, die den zahlreichen Rechtsfragen des
Jrreuwesens ihre Aufmerksamkeit widmet. Die Mitglieder dieser Vereinigung,
die auch die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit eingehend erwogen
haben, sind zu der Überzeugung gelangt, daß die strafrechtliche Gleichstellung
der in Frage stehenden Kranken oder Defekten mit den Minderjährigen der
Gerechtigkeit und der Humanität in gewünschter Weise entsprechen würde, und
zwar mit den Minderjährigen, die bei der Begehung der That das zwölfte,
aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet und dabei die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit erforderliche Einsicht gehabt haben. Die Bestimmungen gehen,
soweit sie hier in Betracht kommen, dahin, daß, wenn die Handlung mit dem
Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthause bedroht ist, auf Gefängnis von drei
bis fünfzehn Jahren zu erkennen sei. Ist die Handlung mit lebenslänglicher
Festungshaft bedroht, so ist auf Festungshaft von drei bis fünfzehn Jahren
zu erkennen. Ist die Handlung mit Zuchthaus oder mit einer andern Strafart
bedroht, so ist die Strafe zwischen dem gesetzlichen Miudestbetrage der ange¬
drohten Stmsart und der Hälfte des Höchstbetrags der angedrohten Strafe zu
bestimmen. Ist die so bestimmte Strafe Zuchthaus, so tritt Gefängnis von
derselben Dauer an ihre Stelle. Ist die Handlung ein Vergehen oder eine
Übertretung, so kann in besonders leichten Fällen auf einen Verweis erkannt
werden. Es würde schon so eine wesentlich mildere strafrechtliche Behandlung
für die Mitmenschen mit geringern geistigen Fähigkeiten, mit abnormer Ge¬
mütsbeschaffenheit oder mit einer innerhalb gewisser Grenzen krankhaften
Willensthätigkeit erzielt werden. Todesstrafe und Zuchthaus würden mit vollem
Recht gar nicht in Anwendung kommen. Freilich müßte auch die Gefängnis¬
strafe noch in wesentlichen Punkten erleichtert werden.

Wer die unerbittliche Strenge, die in einem deutschen Gefängnisse herrscht,
aus eigner Beobachtung kennt, wird zugeben, daß solche eiserne Disziplin für
krankhaft veranlagte Menschen durchaus unangemessen ist. Bei allen Ver¬
brechern soll die Strafvollziehung die Besserung nie aus den Augen verlieren.
Namentlich von der Strafe an krankhaft veranlagten oder krank gewordnen
Individuen hat dies zu gelten. Schon das gewöhnliche Gefänguisleben ist
ihnen geradezu schädlich. Durch harte Strafen, wie Prügel, Entziehung der
doch nur die unentbehrlichsten Nährstoffe enthaltenden Kost, hartes Lager,


Über verminderte Zurechnungsfähigkeit

verrät, bei Rotznase mit Tod der Verletzten und vielen andern wichtigen
Verbrechen können keine mildernden Umstände zugebilligt werden. Die mildernden
Umstände entsprechen jedoch dem geschilderten Bedürfnisse auch sonst nicht
in ausreichendem Maße. Viel besser ist die Gleichstellung der Schwach¬
sinnigen, der Nervenkranken mit Mittlerin psychischem Defekt usw., mit den
minderjährigen Verbrechern, deren unvollkommner Erkenntnis das Reichsstraf-
gesetzbnch in Z 57 ein mildes Strafmaß zuerkennt. In Dresden besteht seit
1894 eine aus Juristen, Psychiatern und Gerichtsürzten zusammengesetzte
sorcusisch-psychiatrische Vereinigung, die den zahlreichen Rechtsfragen des
Jrreuwesens ihre Aufmerksamkeit widmet. Die Mitglieder dieser Vereinigung,
die auch die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit eingehend erwogen
haben, sind zu der Überzeugung gelangt, daß die strafrechtliche Gleichstellung
der in Frage stehenden Kranken oder Defekten mit den Minderjährigen der
Gerechtigkeit und der Humanität in gewünschter Weise entsprechen würde, und
zwar mit den Minderjährigen, die bei der Begehung der That das zwölfte,
aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet und dabei die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit erforderliche Einsicht gehabt haben. Die Bestimmungen gehen,
soweit sie hier in Betracht kommen, dahin, daß, wenn die Handlung mit dem
Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthause bedroht ist, auf Gefängnis von drei
bis fünfzehn Jahren zu erkennen sei. Ist die Handlung mit lebenslänglicher
Festungshaft bedroht, so ist auf Festungshaft von drei bis fünfzehn Jahren
zu erkennen. Ist die Handlung mit Zuchthaus oder mit einer andern Strafart
bedroht, so ist die Strafe zwischen dem gesetzlichen Miudestbetrage der ange¬
drohten Stmsart und der Hälfte des Höchstbetrags der angedrohten Strafe zu
bestimmen. Ist die so bestimmte Strafe Zuchthaus, so tritt Gefängnis von
derselben Dauer an ihre Stelle. Ist die Handlung ein Vergehen oder eine
Übertretung, so kann in besonders leichten Fällen auf einen Verweis erkannt
werden. Es würde schon so eine wesentlich mildere strafrechtliche Behandlung
für die Mitmenschen mit geringern geistigen Fähigkeiten, mit abnormer Ge¬
mütsbeschaffenheit oder mit einer innerhalb gewisser Grenzen krankhaften
Willensthätigkeit erzielt werden. Todesstrafe und Zuchthaus würden mit vollem
Recht gar nicht in Anwendung kommen. Freilich müßte auch die Gefängnis¬
strafe noch in wesentlichen Punkten erleichtert werden.

Wer die unerbittliche Strenge, die in einem deutschen Gefängnisse herrscht,
aus eigner Beobachtung kennt, wird zugeben, daß solche eiserne Disziplin für
krankhaft veranlagte Menschen durchaus unangemessen ist. Bei allen Ver¬
brechern soll die Strafvollziehung die Besserung nie aus den Augen verlieren.
Namentlich von der Strafe an krankhaft veranlagten oder krank gewordnen
Individuen hat dies zu gelten. Schon das gewöhnliche Gefänguisleben ist
ihnen geradezu schädlich. Durch harte Strafen, wie Prügel, Entziehung der
doch nur die unentbehrlichsten Nährstoffe enthaltenden Kost, hartes Lager,


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[0199] Über verminderte Zurechnungsfähigkeit verrät, bei Rotznase mit Tod der Verletzten und vielen andern wichtigen Verbrechen können keine mildernden Umstände zugebilligt werden. Die mildernden Umstände entsprechen jedoch dem geschilderten Bedürfnisse auch sonst nicht in ausreichendem Maße. Viel besser ist die Gleichstellung der Schwach¬ sinnigen, der Nervenkranken mit Mittlerin psychischem Defekt usw., mit den minderjährigen Verbrechern, deren unvollkommner Erkenntnis das Reichsstraf- gesetzbnch in Z 57 ein mildes Strafmaß zuerkennt. In Dresden besteht seit 1894 eine aus Juristen, Psychiatern und Gerichtsürzten zusammengesetzte sorcusisch-psychiatrische Vereinigung, die den zahlreichen Rechtsfragen des Jrreuwesens ihre Aufmerksamkeit widmet. Die Mitglieder dieser Vereinigung, die auch die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit eingehend erwogen haben, sind zu der Überzeugung gelangt, daß die strafrechtliche Gleichstellung der in Frage stehenden Kranken oder Defekten mit den Minderjährigen der Gerechtigkeit und der Humanität in gewünschter Weise entsprechen würde, und zwar mit den Minderjährigen, die bei der Begehung der That das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet und dabei die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht gehabt haben. Die Bestimmungen gehen, soweit sie hier in Betracht kommen, dahin, daß, wenn die Handlung mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthause bedroht ist, auf Gefängnis von drei bis fünfzehn Jahren zu erkennen sei. Ist die Handlung mit lebenslänglicher Festungshaft bedroht, so ist auf Festungshaft von drei bis fünfzehn Jahren zu erkennen. Ist die Handlung mit Zuchthaus oder mit einer andern Strafart bedroht, so ist die Strafe zwischen dem gesetzlichen Miudestbetrage der ange¬ drohten Stmsart und der Hälfte des Höchstbetrags der angedrohten Strafe zu bestimmen. Ist die so bestimmte Strafe Zuchthaus, so tritt Gefängnis von derselben Dauer an ihre Stelle. Ist die Handlung ein Vergehen oder eine Übertretung, so kann in besonders leichten Fällen auf einen Verweis erkannt werden. Es würde schon so eine wesentlich mildere strafrechtliche Behandlung für die Mitmenschen mit geringern geistigen Fähigkeiten, mit abnormer Ge¬ mütsbeschaffenheit oder mit einer innerhalb gewisser Grenzen krankhaften Willensthätigkeit erzielt werden. Todesstrafe und Zuchthaus würden mit vollem Recht gar nicht in Anwendung kommen. Freilich müßte auch die Gefängnis¬ strafe noch in wesentlichen Punkten erleichtert werden. Wer die unerbittliche Strenge, die in einem deutschen Gefängnisse herrscht, aus eigner Beobachtung kennt, wird zugeben, daß solche eiserne Disziplin für krankhaft veranlagte Menschen durchaus unangemessen ist. Bei allen Ver¬ brechern soll die Strafvollziehung die Besserung nie aus den Augen verlieren. Namentlich von der Strafe an krankhaft veranlagten oder krank gewordnen Individuen hat dies zu gelten. Schon das gewöhnliche Gefänguisleben ist ihnen geradezu schädlich. Durch harte Strafen, wie Prügel, Entziehung der doch nur die unentbehrlichsten Nährstoffe enthaltenden Kost, hartes Lager,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/199>, abgerufen am 24.07.2024.