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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Rirchenpolitik und Zentrum

Wenn der Bundesrat zu einem festen Agrarprogramm gelangt, das ohne
Furcht vor Phrasen und Hetzereien da durchgreift, wo durchgegriffen werden
muß, so wird gerade das Zentrum zustimmen müssen. Selbst dann, ja gerade
dann, wenn die großen Mittel "angeschnitten" werden. Denn wenn sich das
Zentrum nicht ohne eine gewisse Berechtigung als den Turm im Reichstage be¬
zeichnen darf, so ist doch seine ländliche Wählerschaft die Basis dieses Turmes,
und die kommt immer mehr zu der Überzeugung, daß die kleinen Mittel nichts
helfen. Die Leitung des Zentrums fürchtet eine Entwicklung, wodurch diese Über¬
zeugung so verstärkt würde, daß die katholische Landbevölkerung ihre Interessen¬
gemeinschaft mit den protestantischen Leidensgenossen höher schätzen lernt, als
den nur noch durch Gewohnheit und Galvanisirung aufrechterhaltnen Wahn, der
Bestand und die Freiheit der katholischen Kirche seien in Deutschland gefährdet,
die Katholiken müßten sich deshalb politisch zusammenscharen. Wenn sich in
dieser Frage die Neichsleitnng fest macht und fest bleibt, wird die Zeutrums-
leituug mitgehen, und zwar ohne alle Bedingungen, und die Festigkeit der
Parteidisziplin wird sich an denen erproben, die in Krefeld den Ton angegeben
haben. Auf die durch die Krefelder Großsprechereien schlecht versteckte besondre
Schwäche des Zentrums in der Agrarfrage noch näher einzugehen, unterlassen
wir jetzt, denn die Gelegenheit dazu muß bald wiederkehren, in greifbarerer
Gestalt als in der augenblicklichen Ruhepause des politischen Lebens. Dagegen
ist diese wohl geeignet, ans anderm Gebiete, namentlich auf dem der eigent¬
lichen Kirchenpolitik, zu zeigen, daß die dauernde Macht des Zentrums über¬
schätzt wird, und daß das Wort: "Zentrum ist Trumpf" seine Richtigkeit mehr
aus unserm Kleinmut herleitet, als aus der innern Stärke einer Partei, die
nicht oder nicht mehr unpatriotisch ist, aber eine andre Staatsgesinnung Pflegt
als die, worauf das Deutsche Reich aufgebaut ist.


2

Über die Grundsätze, wonach die katholische Kirche vom Staat zu be¬
handeln ist, wird wohl niemals allgemeine Übereinstimmung zu erreichen sein,
aber darüber kann kein Streit bestehn, daß ihre richtige Behandlung die genaue
Kenntnis ihres Wesens voraussetzt, nicht bloß ihrer Einrichtungen, sondern
auch ihres regelmäßigen, täglichen Lebens. So lernt man sie nur durch
längeres Zusammensein mit ihren Bekennern kennen, durch Miterleben dessen,
was ihren kirchlichen Sinn bewegt und bestimmt -- als evangelischer Christ
also kaum anders als in ländlicher Umgebung, die uns unmittelbare und
dauernde Beobachtung erlaubt, wenn wir nur Auge und Ohr offenhalten und
auch das Herz nicht verschließen. Da fällt manches Vorurteil, und drängt
sich dagegen aufrichtige Achtung vor den Leistungen der katholischen Seelsorge
auf. Man gewöhnt sich an vieles, was einem früher widerstrebte, sogar daran,
den katholischen Geistlichen ihre Macht über die Gemüter als Verdienst der


Rirchenpolitik und Zentrum

Wenn der Bundesrat zu einem festen Agrarprogramm gelangt, das ohne
Furcht vor Phrasen und Hetzereien da durchgreift, wo durchgegriffen werden
muß, so wird gerade das Zentrum zustimmen müssen. Selbst dann, ja gerade
dann, wenn die großen Mittel „angeschnitten" werden. Denn wenn sich das
Zentrum nicht ohne eine gewisse Berechtigung als den Turm im Reichstage be¬
zeichnen darf, so ist doch seine ländliche Wählerschaft die Basis dieses Turmes,
und die kommt immer mehr zu der Überzeugung, daß die kleinen Mittel nichts
helfen. Die Leitung des Zentrums fürchtet eine Entwicklung, wodurch diese Über¬
zeugung so verstärkt würde, daß die katholische Landbevölkerung ihre Interessen¬
gemeinschaft mit den protestantischen Leidensgenossen höher schätzen lernt, als
den nur noch durch Gewohnheit und Galvanisirung aufrechterhaltnen Wahn, der
Bestand und die Freiheit der katholischen Kirche seien in Deutschland gefährdet,
die Katholiken müßten sich deshalb politisch zusammenscharen. Wenn sich in
dieser Frage die Neichsleitnng fest macht und fest bleibt, wird die Zeutrums-
leituug mitgehen, und zwar ohne alle Bedingungen, und die Festigkeit der
Parteidisziplin wird sich an denen erproben, die in Krefeld den Ton angegeben
haben. Auf die durch die Krefelder Großsprechereien schlecht versteckte besondre
Schwäche des Zentrums in der Agrarfrage noch näher einzugehen, unterlassen
wir jetzt, denn die Gelegenheit dazu muß bald wiederkehren, in greifbarerer
Gestalt als in der augenblicklichen Ruhepause des politischen Lebens. Dagegen
ist diese wohl geeignet, ans anderm Gebiete, namentlich auf dem der eigent¬
lichen Kirchenpolitik, zu zeigen, daß die dauernde Macht des Zentrums über¬
schätzt wird, und daß das Wort: „Zentrum ist Trumpf" seine Richtigkeit mehr
aus unserm Kleinmut herleitet, als aus der innern Stärke einer Partei, die
nicht oder nicht mehr unpatriotisch ist, aber eine andre Staatsgesinnung Pflegt
als die, worauf das Deutsche Reich aufgebaut ist.


2

Über die Grundsätze, wonach die katholische Kirche vom Staat zu be¬
handeln ist, wird wohl niemals allgemeine Übereinstimmung zu erreichen sein,
aber darüber kann kein Streit bestehn, daß ihre richtige Behandlung die genaue
Kenntnis ihres Wesens voraussetzt, nicht bloß ihrer Einrichtungen, sondern
auch ihres regelmäßigen, täglichen Lebens. So lernt man sie nur durch
längeres Zusammensein mit ihren Bekennern kennen, durch Miterleben dessen,
was ihren kirchlichen Sinn bewegt und bestimmt — als evangelischer Christ
also kaum anders als in ländlicher Umgebung, die uns unmittelbare und
dauernde Beobachtung erlaubt, wenn wir nur Auge und Ohr offenhalten und
auch das Herz nicht verschließen. Da fällt manches Vorurteil, und drängt
sich dagegen aufrichtige Achtung vor den Leistungen der katholischen Seelsorge
auf. Man gewöhnt sich an vieles, was einem früher widerstrebte, sogar daran,
den katholischen Geistlichen ihre Macht über die Gemüter als Verdienst der


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[0183] Rirchenpolitik und Zentrum Wenn der Bundesrat zu einem festen Agrarprogramm gelangt, das ohne Furcht vor Phrasen und Hetzereien da durchgreift, wo durchgegriffen werden muß, so wird gerade das Zentrum zustimmen müssen. Selbst dann, ja gerade dann, wenn die großen Mittel „angeschnitten" werden. Denn wenn sich das Zentrum nicht ohne eine gewisse Berechtigung als den Turm im Reichstage be¬ zeichnen darf, so ist doch seine ländliche Wählerschaft die Basis dieses Turmes, und die kommt immer mehr zu der Überzeugung, daß die kleinen Mittel nichts helfen. Die Leitung des Zentrums fürchtet eine Entwicklung, wodurch diese Über¬ zeugung so verstärkt würde, daß die katholische Landbevölkerung ihre Interessen¬ gemeinschaft mit den protestantischen Leidensgenossen höher schätzen lernt, als den nur noch durch Gewohnheit und Galvanisirung aufrechterhaltnen Wahn, der Bestand und die Freiheit der katholischen Kirche seien in Deutschland gefährdet, die Katholiken müßten sich deshalb politisch zusammenscharen. Wenn sich in dieser Frage die Neichsleitnng fest macht und fest bleibt, wird die Zeutrums- leituug mitgehen, und zwar ohne alle Bedingungen, und die Festigkeit der Parteidisziplin wird sich an denen erproben, die in Krefeld den Ton angegeben haben. Auf die durch die Krefelder Großsprechereien schlecht versteckte besondre Schwäche des Zentrums in der Agrarfrage noch näher einzugehen, unterlassen wir jetzt, denn die Gelegenheit dazu muß bald wiederkehren, in greifbarerer Gestalt als in der augenblicklichen Ruhepause des politischen Lebens. Dagegen ist diese wohl geeignet, ans anderm Gebiete, namentlich auf dem der eigent¬ lichen Kirchenpolitik, zu zeigen, daß die dauernde Macht des Zentrums über¬ schätzt wird, und daß das Wort: „Zentrum ist Trumpf" seine Richtigkeit mehr aus unserm Kleinmut herleitet, als aus der innern Stärke einer Partei, die nicht oder nicht mehr unpatriotisch ist, aber eine andre Staatsgesinnung Pflegt als die, worauf das Deutsche Reich aufgebaut ist. 2 Über die Grundsätze, wonach die katholische Kirche vom Staat zu be¬ handeln ist, wird wohl niemals allgemeine Übereinstimmung zu erreichen sein, aber darüber kann kein Streit bestehn, daß ihre richtige Behandlung die genaue Kenntnis ihres Wesens voraussetzt, nicht bloß ihrer Einrichtungen, sondern auch ihres regelmäßigen, täglichen Lebens. So lernt man sie nur durch längeres Zusammensein mit ihren Bekennern kennen, durch Miterleben dessen, was ihren kirchlichen Sinn bewegt und bestimmt — als evangelischer Christ also kaum anders als in ländlicher Umgebung, die uns unmittelbare und dauernde Beobachtung erlaubt, wenn wir nur Auge und Ohr offenhalten und auch das Herz nicht verschließen. Da fällt manches Vorurteil, und drängt sich dagegen aufrichtige Achtung vor den Leistungen der katholischen Seelsorge auf. Man gewöhnt sich an vieles, was einem früher widerstrebte, sogar daran, den katholischen Geistlichen ihre Macht über die Gemüter als Verdienst der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/183>, abgerufen am 24.07.2024.