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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefühl seiner Würde, äußerlich ein Typus des geheimen Kommerzienrath, wie er
im Buche steht, sich zum größten Entzücken der "Genossen" am Präsidialtisch nieder¬
ließ. Die "Genossen" waren von vornherein auch dadurch sehr augenehm berührt,
daß die württembergische Eisenbahnverwaltnng, die unter dem Freiherrn von Mitt¬
nacht als Verkehrsminister steht, dem Orisausschuß einen Wartesaal erster Klasse
zur Begrüßung der Gäste und zu ihrer leichtern Verteilung in die Quartiere ein¬
geräumt hatte -- in Preußen, hieß es allgemein, wäre so etwas rein unmöglich,
und gar erst in Sachsen! Ferner hatte der sozialdemokratische Ortsverein in Stuttgart
ein Festspiel vorbereitet, worin siebzehn Paare in der Tracht der siebzehn Reichstags¬
wahlkreise auftraten und nnter den schützenden Fittichen einer "Württembergs"
(wohl nach dem Vorbilde der Schauspielerin Momorv als äeosss raison von Anno
1793) der Partei ihre Huldigung darbrachten. Vorläufig ist allerdings von allen
siebzehn Kreisen erst einer, nämlich Stuttgart selbst, sozialdemokratisch vertreten;
aber die "Genossen" hoffen, daß das so lauge gegen ihre Werbung äußerst spröde
Land noch eine ihrer stärksten Burgen werden soll, wozu ihr Aufschwung von nicht
500 Stimmen uns 62 000 -- ein Fünftel der Gesamtzahl! -- in vierzehn Jahren
und die geringe Widerstandskraft des Neckarthals ihnen auch einiges Anrecht geben;
denn in diesem bevölkertsten Teil des Landes ist die Verteilung des Bodens in
fast lauter Zwergbetriebe der Ausbreitung des sozialistischen Giftes sehr günstig,
und Mißernten in den Weingegenden wie Heuer, wo die Stadt Heilbronn uicht
einmal ihre Stadtkelter in Betrieb setzt, thun das übrige.

Die Sozinldemvkrcitie konnte in ihrem Geschäftsbericht auf bedeutende Fort¬
schritte hinweisen: bei den letzten Reichstagswahlen hat sie 300 000 Stimme" gegen
1393 gewonnen; sie hat so viel Geld, daß auf die Wahlen 700 000 Mark ver-
wandt werden konnten, und auch der Parteitag, der etwa für 250 Personen Tage¬
gelder ungefähr auf zehn Tage und Reisecntschndiguugen erfordert, kostet mindestens
25 000 Mark. Die Parteipresse hat 378000 Abonnenten (46000 mehr als 1897!);
der Vorwärts mit 50 000 Abonnenten wirft jährlich 53 000, die Parteibuchhand¬
lung 19 000 Mark ab, und die gesamten regelmäßigen Einnahmen der Partei be-
lnufeu sich im Jahre auf 315 000 Mark. Diese Zahlen erregten bei den meisten
Hörern natürlich große Befriedigung; andre aber waren weniger entzückt, so der
Abgeordnete Stadthagen, der hervorhob, daß der Zuwachs von 300000 Stimmen
in Prozenten der weitaus geringste sei, den die Partei bis jetzt zu hundelt gehabt
habe, und daß ein erneuter Aufschwung von Bedeutung auch nicht zu erwarten
sei, so lange man die Endziele der Partei "in den Silberschrank stelle."

Ja, diese Endziele! Sie kamen auf diesem Parteitage sehr bös weg. Be¬
kanntlich hat Dr. Bernstein, der, aus Deutschland ausgewiesen, in London lebt, in
eiuer Studie in der "Neuen Zeit" erklärt, daß es eine Täuschung sei, einzunehmen,
daß die Katastrophe der bürgerlichen Gesellschaft bevorstehe; daß laut der Statistik
die Zahl der Kapitalisten nicht etwa abnehme, sondern vielmehr zunehme; daß also
das Endziel -- der Sturz der kapitalistischen Gesellschaft -- in nebelhafter Ferne
liege, und er deshalb auf das Endziel kein Gewicht legen könne: "das Endziel ist
nichts, die Bewegung -- d. h. die Fortentwicklung der Arbeiterklasse zu Wohl¬
stand und Macht -- ist alles!" Gegen diese haarstrünbende Ketzerei, die das ganze
verlockende Phantasiebild des Zukunftsstaats als des Paradieses ans Erden in nichts
auflöst, und gegen andre gleichwertige Äußerungen, wie die des Abgeordneten Heine,
der erklärt hatte, daß man eiuer liberale" Regierung gegen Erweiterung der Volks¬
rechte wohl einmal Kanonen bewilligen (also den verrufnen Militarismus anerkennen
und fordern!) könne, erhob sich die gesamte ünßerfle Linke, geführt von Dr. Schöulank,


Grenzboten IV 1808 L l
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefühl seiner Würde, äußerlich ein Typus des geheimen Kommerzienrath, wie er
im Buche steht, sich zum größten Entzücken der „Genossen" am Präsidialtisch nieder¬
ließ. Die „Genossen" waren von vornherein auch dadurch sehr augenehm berührt,
daß die württembergische Eisenbahnverwaltnng, die unter dem Freiherrn von Mitt¬
nacht als Verkehrsminister steht, dem Orisausschuß einen Wartesaal erster Klasse
zur Begrüßung der Gäste und zu ihrer leichtern Verteilung in die Quartiere ein¬
geräumt hatte — in Preußen, hieß es allgemein, wäre so etwas rein unmöglich,
und gar erst in Sachsen! Ferner hatte der sozialdemokratische Ortsverein in Stuttgart
ein Festspiel vorbereitet, worin siebzehn Paare in der Tracht der siebzehn Reichstags¬
wahlkreise auftraten und nnter den schützenden Fittichen einer „Württembergs"
(wohl nach dem Vorbilde der Schauspielerin Momorv als äeosss raison von Anno
1793) der Partei ihre Huldigung darbrachten. Vorläufig ist allerdings von allen
siebzehn Kreisen erst einer, nämlich Stuttgart selbst, sozialdemokratisch vertreten;
aber die „Genossen" hoffen, daß das so lauge gegen ihre Werbung äußerst spröde
Land noch eine ihrer stärksten Burgen werden soll, wozu ihr Aufschwung von nicht
500 Stimmen uns 62 000 — ein Fünftel der Gesamtzahl! — in vierzehn Jahren
und die geringe Widerstandskraft des Neckarthals ihnen auch einiges Anrecht geben;
denn in diesem bevölkertsten Teil des Landes ist die Verteilung des Bodens in
fast lauter Zwergbetriebe der Ausbreitung des sozialistischen Giftes sehr günstig,
und Mißernten in den Weingegenden wie Heuer, wo die Stadt Heilbronn uicht
einmal ihre Stadtkelter in Betrieb setzt, thun das übrige.

Die Sozinldemvkrcitie konnte in ihrem Geschäftsbericht auf bedeutende Fort¬
schritte hinweisen: bei den letzten Reichstagswahlen hat sie 300 000 Stimme» gegen
1393 gewonnen; sie hat so viel Geld, daß auf die Wahlen 700 000 Mark ver-
wandt werden konnten, und auch der Parteitag, der etwa für 250 Personen Tage¬
gelder ungefähr auf zehn Tage und Reisecntschndiguugen erfordert, kostet mindestens
25 000 Mark. Die Parteipresse hat 378000 Abonnenten (46000 mehr als 1897!);
der Vorwärts mit 50 000 Abonnenten wirft jährlich 53 000, die Parteibuchhand¬
lung 19 000 Mark ab, und die gesamten regelmäßigen Einnahmen der Partei be-
lnufeu sich im Jahre auf 315 000 Mark. Diese Zahlen erregten bei den meisten
Hörern natürlich große Befriedigung; andre aber waren weniger entzückt, so der
Abgeordnete Stadthagen, der hervorhob, daß der Zuwachs von 300000 Stimmen
in Prozenten der weitaus geringste sei, den die Partei bis jetzt zu hundelt gehabt
habe, und daß ein erneuter Aufschwung von Bedeutung auch nicht zu erwarten
sei, so lange man die Endziele der Partei „in den Silberschrank stelle."

Ja, diese Endziele! Sie kamen auf diesem Parteitage sehr bös weg. Be¬
kanntlich hat Dr. Bernstein, der, aus Deutschland ausgewiesen, in London lebt, in
eiuer Studie in der „Neuen Zeit" erklärt, daß es eine Täuschung sei, einzunehmen,
daß die Katastrophe der bürgerlichen Gesellschaft bevorstehe; daß laut der Statistik
die Zahl der Kapitalisten nicht etwa abnehme, sondern vielmehr zunehme; daß also
das Endziel — der Sturz der kapitalistischen Gesellschaft — in nebelhafter Ferne
liege, und er deshalb auf das Endziel kein Gewicht legen könne: „das Endziel ist
nichts, die Bewegung — d. h. die Fortentwicklung der Arbeiterklasse zu Wohl¬
stand und Macht — ist alles!" Gegen diese haarstrünbende Ketzerei, die das ganze
verlockende Phantasiebild des Zukunftsstaats als des Paradieses ans Erden in nichts
auflöst, und gegen andre gleichwertige Äußerungen, wie die des Abgeordneten Heine,
der erklärt hatte, daß man eiuer liberale» Regierung gegen Erweiterung der Volks¬
rechte wohl einmal Kanonen bewilligen (also den verrufnen Militarismus anerkennen
und fordern!) könne, erhob sich die gesamte ünßerfle Linke, geführt von Dr. Schöulank,


Grenzboten IV 1808 L l
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[0172] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gefühl seiner Würde, äußerlich ein Typus des geheimen Kommerzienrath, wie er im Buche steht, sich zum größten Entzücken der „Genossen" am Präsidialtisch nieder¬ ließ. Die „Genossen" waren von vornherein auch dadurch sehr augenehm berührt, daß die württembergische Eisenbahnverwaltnng, die unter dem Freiherrn von Mitt¬ nacht als Verkehrsminister steht, dem Orisausschuß einen Wartesaal erster Klasse zur Begrüßung der Gäste und zu ihrer leichtern Verteilung in die Quartiere ein¬ geräumt hatte — in Preußen, hieß es allgemein, wäre so etwas rein unmöglich, und gar erst in Sachsen! Ferner hatte der sozialdemokratische Ortsverein in Stuttgart ein Festspiel vorbereitet, worin siebzehn Paare in der Tracht der siebzehn Reichstags¬ wahlkreise auftraten und nnter den schützenden Fittichen einer „Württembergs" (wohl nach dem Vorbilde der Schauspielerin Momorv als äeosss raison von Anno 1793) der Partei ihre Huldigung darbrachten. Vorläufig ist allerdings von allen siebzehn Kreisen erst einer, nämlich Stuttgart selbst, sozialdemokratisch vertreten; aber die „Genossen" hoffen, daß das so lauge gegen ihre Werbung äußerst spröde Land noch eine ihrer stärksten Burgen werden soll, wozu ihr Aufschwung von nicht 500 Stimmen uns 62 000 — ein Fünftel der Gesamtzahl! — in vierzehn Jahren und die geringe Widerstandskraft des Neckarthals ihnen auch einiges Anrecht geben; denn in diesem bevölkertsten Teil des Landes ist die Verteilung des Bodens in fast lauter Zwergbetriebe der Ausbreitung des sozialistischen Giftes sehr günstig, und Mißernten in den Weingegenden wie Heuer, wo die Stadt Heilbronn uicht einmal ihre Stadtkelter in Betrieb setzt, thun das übrige. Die Sozinldemvkrcitie konnte in ihrem Geschäftsbericht auf bedeutende Fort¬ schritte hinweisen: bei den letzten Reichstagswahlen hat sie 300 000 Stimme» gegen 1393 gewonnen; sie hat so viel Geld, daß auf die Wahlen 700 000 Mark ver- wandt werden konnten, und auch der Parteitag, der etwa für 250 Personen Tage¬ gelder ungefähr auf zehn Tage und Reisecntschndiguugen erfordert, kostet mindestens 25 000 Mark. Die Parteipresse hat 378000 Abonnenten (46000 mehr als 1897!); der Vorwärts mit 50 000 Abonnenten wirft jährlich 53 000, die Parteibuchhand¬ lung 19 000 Mark ab, und die gesamten regelmäßigen Einnahmen der Partei be- lnufeu sich im Jahre auf 315 000 Mark. Diese Zahlen erregten bei den meisten Hörern natürlich große Befriedigung; andre aber waren weniger entzückt, so der Abgeordnete Stadthagen, der hervorhob, daß der Zuwachs von 300000 Stimmen in Prozenten der weitaus geringste sei, den die Partei bis jetzt zu hundelt gehabt habe, und daß ein erneuter Aufschwung von Bedeutung auch nicht zu erwarten sei, so lange man die Endziele der Partei „in den Silberschrank stelle." Ja, diese Endziele! Sie kamen auf diesem Parteitage sehr bös weg. Be¬ kanntlich hat Dr. Bernstein, der, aus Deutschland ausgewiesen, in London lebt, in eiuer Studie in der „Neuen Zeit" erklärt, daß es eine Täuschung sei, einzunehmen, daß die Katastrophe der bürgerlichen Gesellschaft bevorstehe; daß laut der Statistik die Zahl der Kapitalisten nicht etwa abnehme, sondern vielmehr zunehme; daß also das Endziel — der Sturz der kapitalistischen Gesellschaft — in nebelhafter Ferne liege, und er deshalb auf das Endziel kein Gewicht legen könne: „das Endziel ist nichts, die Bewegung — d. h. die Fortentwicklung der Arbeiterklasse zu Wohl¬ stand und Macht — ist alles!" Gegen diese haarstrünbende Ketzerei, die das ganze verlockende Phantasiebild des Zukunftsstaats als des Paradieses ans Erden in nichts auflöst, und gegen andre gleichwertige Äußerungen, wie die des Abgeordneten Heine, der erklärt hatte, daß man eiuer liberale» Regierung gegen Erweiterung der Volks¬ rechte wohl einmal Kanonen bewilligen (also den verrufnen Militarismus anerkennen und fordern!) könne, erhob sich die gesamte ünßerfle Linke, geführt von Dr. Schöulank, Grenzboten IV 1808 L l

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/172>, abgerufen am 12.12.2024.