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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Der Rede Sinn

ständigung leicht wäre. Aber wie steht es nun dort und überhaupt im all¬
gemeinen mit dem Verlangen, daß die betreffenden Worte entweder ganz be¬
seitigt oder immer nur "eindeutig" gebraucht werden sollen?

Jeder sorgfältige oder erfahrne Schriftsteller weiß, wie schwer es oft ist,
mit Worten nahe an Sachen heranzukommen, wie beinahe unmöglich, einen
Gedanken durch Worte genau so einem andern, wie man ihn selbst gehabt hat,
zum Bewußtsein zu bringen. Wendet sich ein solcher an einen engen Kreis,
in der Fachwissenschaft oder als Geschäftsmann, so wird er von selbst die vom
Verfasser empfohlne Eindeutigkeit seiner Ausdrücke erstreben und da, wo er sie
nicht buchstäblich zu erfüllen weiß, die einzelnen Worte noch durch Definitionen
sicher stellen. Bisweilen aber und hauptsächlich, wenn er zu einer größern
Menge von Lesern redet, wird er die Tragkraft seiner Worte etwas anders
ausnutzen und einen einzelnen Ausdruck auch wohl ein wenig biegen. Noch
mehr thut das der sprechende Mensch überhaupt, das sogenannte Volk; im
Laufe der Zeit ändern sich die Bedeutungen der Worte, und darauf mit beruht
das Leben, das Weiterwachsen einer Sprache. Wo bliebe die Poesie, wenn
die Menschen sich über lauter "eindeutige" Ausdrücke verständigt hätten, oder
ganz abgesehen von den Dichtern, wo bliebe der Reiz einer einfachen Unter¬
haltung? Kann sich vielleicht der Leser jemand vorstellen, der immer in
Syllogismen spricht? Ich habe einen solchen gekannt, der in den gleich-
giltigsten Dingen, beim rechts- oder linksgehen, bei kaum festzustellenden Unter¬
schieden der Zeit oder der äußern Wahrnehmung nachsichtslos durch den aller-
genausten Ausdruck alles bis auf den Grund erschöpfte und dadurch meine
und seine wahre Meinung feststellte. Derartige Naturen sind selten. Die
meisten Menschen würden, auch wenn man sie einmal mit lauter eindeutigen
Ausdrücken versähe, nach einer Weile wieder anfangen, ihre Ausdrücke durch
Einlage von Vegriffsnüaneen zu weiten, und sie würden jene Weiterbildung der
Sprache mit betreiben, die zum Leben gehört, gegen deren praktische Nachteile
sich der Verfasser dieses Buches jedoch mit Recht wendet. Wenigstens in vielen
Punkten mit Recht. Es ist gut, wenn den Menschen bisweilen gesagt wird,
wohin sie es treiben, wenn sie nicht streng auf die Rede ihres Mundes achten.
Trotz alledem wird man durch solche Mahnungen nicht sehr viel bewirken. Die
Latitüde, von der ich im Eingang sprach, wird immer ihre Freunde haben.
Hoffen wir höchstens, daß es nicht allzuhäufig die Relativität Numa Roumestans
sein möge.




Der Rede Sinn

ständigung leicht wäre. Aber wie steht es nun dort und überhaupt im all¬
gemeinen mit dem Verlangen, daß die betreffenden Worte entweder ganz be¬
seitigt oder immer nur „eindeutig" gebraucht werden sollen?

Jeder sorgfältige oder erfahrne Schriftsteller weiß, wie schwer es oft ist,
mit Worten nahe an Sachen heranzukommen, wie beinahe unmöglich, einen
Gedanken durch Worte genau so einem andern, wie man ihn selbst gehabt hat,
zum Bewußtsein zu bringen. Wendet sich ein solcher an einen engen Kreis,
in der Fachwissenschaft oder als Geschäftsmann, so wird er von selbst die vom
Verfasser empfohlne Eindeutigkeit seiner Ausdrücke erstreben und da, wo er sie
nicht buchstäblich zu erfüllen weiß, die einzelnen Worte noch durch Definitionen
sicher stellen. Bisweilen aber und hauptsächlich, wenn er zu einer größern
Menge von Lesern redet, wird er die Tragkraft seiner Worte etwas anders
ausnutzen und einen einzelnen Ausdruck auch wohl ein wenig biegen. Noch
mehr thut das der sprechende Mensch überhaupt, das sogenannte Volk; im
Laufe der Zeit ändern sich die Bedeutungen der Worte, und darauf mit beruht
das Leben, das Weiterwachsen einer Sprache. Wo bliebe die Poesie, wenn
die Menschen sich über lauter „eindeutige" Ausdrücke verständigt hätten, oder
ganz abgesehen von den Dichtern, wo bliebe der Reiz einer einfachen Unter¬
haltung? Kann sich vielleicht der Leser jemand vorstellen, der immer in
Syllogismen spricht? Ich habe einen solchen gekannt, der in den gleich-
giltigsten Dingen, beim rechts- oder linksgehen, bei kaum festzustellenden Unter¬
schieden der Zeit oder der äußern Wahrnehmung nachsichtslos durch den aller-
genausten Ausdruck alles bis auf den Grund erschöpfte und dadurch meine
und seine wahre Meinung feststellte. Derartige Naturen sind selten. Die
meisten Menschen würden, auch wenn man sie einmal mit lauter eindeutigen
Ausdrücken versähe, nach einer Weile wieder anfangen, ihre Ausdrücke durch
Einlage von Vegriffsnüaneen zu weiten, und sie würden jene Weiterbildung der
Sprache mit betreiben, die zum Leben gehört, gegen deren praktische Nachteile
sich der Verfasser dieses Buches jedoch mit Recht wendet. Wenigstens in vielen
Punkten mit Recht. Es ist gut, wenn den Menschen bisweilen gesagt wird,
wohin sie es treiben, wenn sie nicht streng auf die Rede ihres Mundes achten.
Trotz alledem wird man durch solche Mahnungen nicht sehr viel bewirken. Die
Latitüde, von der ich im Eingang sprach, wird immer ihre Freunde haben.
Hoffen wir höchstens, daß es nicht allzuhäufig die Relativität Numa Roumestans
sein möge.




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[0118] Der Rede Sinn ständigung leicht wäre. Aber wie steht es nun dort und überhaupt im all¬ gemeinen mit dem Verlangen, daß die betreffenden Worte entweder ganz be¬ seitigt oder immer nur „eindeutig" gebraucht werden sollen? Jeder sorgfältige oder erfahrne Schriftsteller weiß, wie schwer es oft ist, mit Worten nahe an Sachen heranzukommen, wie beinahe unmöglich, einen Gedanken durch Worte genau so einem andern, wie man ihn selbst gehabt hat, zum Bewußtsein zu bringen. Wendet sich ein solcher an einen engen Kreis, in der Fachwissenschaft oder als Geschäftsmann, so wird er von selbst die vom Verfasser empfohlne Eindeutigkeit seiner Ausdrücke erstreben und da, wo er sie nicht buchstäblich zu erfüllen weiß, die einzelnen Worte noch durch Definitionen sicher stellen. Bisweilen aber und hauptsächlich, wenn er zu einer größern Menge von Lesern redet, wird er die Tragkraft seiner Worte etwas anders ausnutzen und einen einzelnen Ausdruck auch wohl ein wenig biegen. Noch mehr thut das der sprechende Mensch überhaupt, das sogenannte Volk; im Laufe der Zeit ändern sich die Bedeutungen der Worte, und darauf mit beruht das Leben, das Weiterwachsen einer Sprache. Wo bliebe die Poesie, wenn die Menschen sich über lauter „eindeutige" Ausdrücke verständigt hätten, oder ganz abgesehen von den Dichtern, wo bliebe der Reiz einer einfachen Unter¬ haltung? Kann sich vielleicht der Leser jemand vorstellen, der immer in Syllogismen spricht? Ich habe einen solchen gekannt, der in den gleich- giltigsten Dingen, beim rechts- oder linksgehen, bei kaum festzustellenden Unter¬ schieden der Zeit oder der äußern Wahrnehmung nachsichtslos durch den aller- genausten Ausdruck alles bis auf den Grund erschöpfte und dadurch meine und seine wahre Meinung feststellte. Derartige Naturen sind selten. Die meisten Menschen würden, auch wenn man sie einmal mit lauter eindeutigen Ausdrücken versähe, nach einer Weile wieder anfangen, ihre Ausdrücke durch Einlage von Vegriffsnüaneen zu weiten, und sie würden jene Weiterbildung der Sprache mit betreiben, die zum Leben gehört, gegen deren praktische Nachteile sich der Verfasser dieses Buches jedoch mit Recht wendet. Wenigstens in vielen Punkten mit Recht. Es ist gut, wenn den Menschen bisweilen gesagt wird, wohin sie es treiben, wenn sie nicht streng auf die Rede ihres Mundes achten. Trotz alledem wird man durch solche Mahnungen nicht sehr viel bewirken. Die Latitüde, von der ich im Eingang sprach, wird immer ihre Freunde haben. Hoffen wir höchstens, daß es nicht allzuhäufig die Relativität Numa Roumestans sein möge.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/118>, abgerufen am 12.12.2024.