Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Der Rede Sinn identifizirendes Staatswesen," nicht gegen das Volk, das trotz seines schlechten, Ganz besonders energisch wird der Verfasser gegenüber der ästhetischen Der Rede Sinn identifizirendes Staatswesen," nicht gegen das Volk, das trotz seines schlechten, Ganz besonders energisch wird der Verfasser gegenüber der ästhetischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0116" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229064"/> <fw type="header" place="top"> Der Rede Sinn</fw><lb/> <p xml:id="ID_236" prev="#ID_235"> identifizirendes Staatswesen," nicht gegen das Volk, das trotz seines schlechten,<lb/> mittelalterlichen Schulwesens durchschnittlich auf einer höhern Bildungsstufe<lb/> stehe als der Europäer. Amerika hat keine unserm Gelehrten-, Beamten- und<lb/> Offizierstande entsprechende Geistesaristokratie, aber auch „keine eigentlichen<lb/> untern Klassen"; die Amerikaner haben den Beweis geliefert, daß mit der<lb/> niedrigsten Arbeit nicht gesellschaftliche Inferiorität und Roheit der Gesinnung<lb/> verbunden zu sein braucht, und darin könnten wir Europäer von ihnen lernen.<lb/> Der Verfasser, der sich die meisten nord-, Mittel- und südamerikanischen<lb/> Republiken mit eignen Augen angesehen hat, addirt seine Beobachtungen mit<lb/> seinen europäischen Erfahrungen zu folgendem Ergebnis. Republikanische Ver¬<lb/> fassung und parlamentarische Regierung dienen in allen Fällen dem Gesamt¬<lb/> wohl der Nationen schlecht, in vielen aber geradezu nnr einzelnen herrsch¬<lb/> süchtigen Personen, und es giebt auf der ganzen Erde kein Land, in dem der<lb/> wahrheitsliebende und redliche Staatsbürger so große Freiheit, d. h. Un-<lb/> beschränktheit in seinem Denken, Reden und Handeln hat wie in Deutschland.</p><lb/> <p xml:id="ID_237" next="#ID_238"> Ganz besonders energisch wird der Verfasser gegenüber der ästhetischen<lb/> Kritik mit seiner Forderung nach Sichtung der Ausdrücke. Die Herrschaft der<lb/> Phrase auf diesem Gebiet hat bei ihm offenbar einen Puritanismus hervor¬<lb/> gerufen, der wieder viel zu weit geht. Alle ästhetischen Urteile gehen auf die<lb/> Unterscheidung des Angenehmen und Unangenehmen zurück, eine allgemeingiltige<lb/> Definition des Schönen kann es niemals geben — das kann man zugestehn.<lb/> Aber der Verfasser verlangt, man soll das Wort „schon" nicht gebrauchen,<lb/> außer wenn man damit sagen wolle, daß man sich des nur subjektiven Werth<lb/> einer Empfindung deutlich bewußt sei. Der Mensch habe das Recht, einem<lb/> Kunstwerk, z. B. einem Bilde gegenüber entweder zu sagen: es gefällt mir,<lb/> oder es gefällt mir nicht — oder aber er müsse eine scharfe Prüfung vor¬<lb/> nehmen, und erst darnach könne er ein objektives Urteil fällen: dies ist falsch<lb/> oder nicht. Die Prüfung habe sich mathematisch ausgedrückt auf fünf variable<lb/> Elemente zu erstrecken: Ausdehnung, Anordnung, Farbenton, Farbensättigung<lb/> und Helligkeit. Ideen des Malers, die durch Assoziativ» in dem Beschauer<lb/> eines Bildes hervorgerufen würden, Stimmung usw. seien keine Eigenschaften<lb/> des Bildes außerhalb jeuer Elemente. Wer sich gewissenhaft ausdrücken wolle,<lb/> dürfe sich daher in Bezug auf ein Bild nur solcher Ausdrücke bedienen, die<lb/> mit Hilfe eines jener fünf Elemente definirt werden könnten. Alle andern<lb/> Ausdrücke seien Scheinbegriffe, hinter denen sich Unwissenheit, Denkfaulheit<lb/> oder Unehrlichst verstecke. Dazu giebt er Beispiele, Er will ferner das Wort<lb/> „Technik" nicht gebraucht wissen (womit ja ohne Frage von Kunstschriftstellern<lb/> viel Mißbrauch getrieben wird), verwickelt sich aber dabei selbst in ein solches<lb/> Geschlinge von unrichtigen Voraussetzungen, daß es zweifelhaft scheinen kann,<lb/> ob er gut daran gethan hat, sich mit seinen Reformvorschlägen auf dieses<lb/> Gebiet zu begeben. Er meint: „So gut ein gewandter Zeichner von kom-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0116]
Der Rede Sinn
identifizirendes Staatswesen," nicht gegen das Volk, das trotz seines schlechten,
mittelalterlichen Schulwesens durchschnittlich auf einer höhern Bildungsstufe
stehe als der Europäer. Amerika hat keine unserm Gelehrten-, Beamten- und
Offizierstande entsprechende Geistesaristokratie, aber auch „keine eigentlichen
untern Klassen"; die Amerikaner haben den Beweis geliefert, daß mit der
niedrigsten Arbeit nicht gesellschaftliche Inferiorität und Roheit der Gesinnung
verbunden zu sein braucht, und darin könnten wir Europäer von ihnen lernen.
Der Verfasser, der sich die meisten nord-, Mittel- und südamerikanischen
Republiken mit eignen Augen angesehen hat, addirt seine Beobachtungen mit
seinen europäischen Erfahrungen zu folgendem Ergebnis. Republikanische Ver¬
fassung und parlamentarische Regierung dienen in allen Fällen dem Gesamt¬
wohl der Nationen schlecht, in vielen aber geradezu nnr einzelnen herrsch¬
süchtigen Personen, und es giebt auf der ganzen Erde kein Land, in dem der
wahrheitsliebende und redliche Staatsbürger so große Freiheit, d. h. Un-
beschränktheit in seinem Denken, Reden und Handeln hat wie in Deutschland.
Ganz besonders energisch wird der Verfasser gegenüber der ästhetischen
Kritik mit seiner Forderung nach Sichtung der Ausdrücke. Die Herrschaft der
Phrase auf diesem Gebiet hat bei ihm offenbar einen Puritanismus hervor¬
gerufen, der wieder viel zu weit geht. Alle ästhetischen Urteile gehen auf die
Unterscheidung des Angenehmen und Unangenehmen zurück, eine allgemeingiltige
Definition des Schönen kann es niemals geben — das kann man zugestehn.
Aber der Verfasser verlangt, man soll das Wort „schon" nicht gebrauchen,
außer wenn man damit sagen wolle, daß man sich des nur subjektiven Werth
einer Empfindung deutlich bewußt sei. Der Mensch habe das Recht, einem
Kunstwerk, z. B. einem Bilde gegenüber entweder zu sagen: es gefällt mir,
oder es gefällt mir nicht — oder aber er müsse eine scharfe Prüfung vor¬
nehmen, und erst darnach könne er ein objektives Urteil fällen: dies ist falsch
oder nicht. Die Prüfung habe sich mathematisch ausgedrückt auf fünf variable
Elemente zu erstrecken: Ausdehnung, Anordnung, Farbenton, Farbensättigung
und Helligkeit. Ideen des Malers, die durch Assoziativ» in dem Beschauer
eines Bildes hervorgerufen würden, Stimmung usw. seien keine Eigenschaften
des Bildes außerhalb jeuer Elemente. Wer sich gewissenhaft ausdrücken wolle,
dürfe sich daher in Bezug auf ein Bild nur solcher Ausdrücke bedienen, die
mit Hilfe eines jener fünf Elemente definirt werden könnten. Alle andern
Ausdrücke seien Scheinbegriffe, hinter denen sich Unwissenheit, Denkfaulheit
oder Unehrlichst verstecke. Dazu giebt er Beispiele, Er will ferner das Wort
„Technik" nicht gebraucht wissen (womit ja ohne Frage von Kunstschriftstellern
viel Mißbrauch getrieben wird), verwickelt sich aber dabei selbst in ein solches
Geschlinge von unrichtigen Voraussetzungen, daß es zweifelhaft scheinen kann,
ob er gut daran gethan hat, sich mit seinen Reformvorschlägen auf dieses
Gebiet zu begeben. Er meint: „So gut ein gewandter Zeichner von kom-
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