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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gin Neulutheraner

Hotels in Berlin, einem Lokal, wo "nur die beste Gesellschaft" hinkommt,
habe ich kürzlich folgende Barbarei gesehen. Ein Mädchen hing mit den
Füßen an der Decke und hielt, wie das heute üblich ist, das Reck in den
Händen, an dem ihre Geschwister turnten. Das möchte noch hingehen; aber
nachdem sie schon gehörig hergenommen worden war. hängte sich der Alte,
ein großer, starker Mann, an das Reck und schwang sich daran in gewaltigen
Bogen über die ganze Bühne; und dann -- nahm er noch die beiden Kinder
an sich, sodaß das an den Füßen aufgehängte Mädchen drei Personen, dar¬
unter einen schweren Mann, zu tragen hatte; und das Publikum, anstatt mit
entrüsteten Pfui die Einstellung dieser völlig Sinn- und zwecklosen Menschen¬
schinderei zu fordern, klatschte rasenden Beifall. Soll ein Zweck erreicht
werden, so kann es doch nur der sein, zu ermitteln, welchen Grad von Zerrung
ein aufgehängter Mädchenleib aushält, ohne zu zerreißen. Ärzte mögen sagen,
ob nicht bei einem solchen angehängten Gewicht das Zerreißen der Glieder
sehr möglich und ein Zerreißen innerer Teile höchst wahrscheinlich ist.

Es versteht sich, daß der Lutheraner auch die soziale Frage von seinem
Standpunkte aus beleuchtet. Mit seiner Auffassung hat er nun sowohl Recht
als Unrecht. Mit Blut und Eisen, d. h. mit dem Kreuzestode Christi, und
durch die christliche Liebe läßt er die soziale Frage ein für allemal gelöst sein.
Das ist richtig, sofern man sie auffaßt als eine Frage zwischen zwei einzelnen
Menschen verschiedner Stände oder Klassen. Es ist selbstverständlich, daß die
stets ein befriedigendes Verhältnis zwischen sich herstellen werden, wenn sie
von christlicher Gesinnung beseelt sind, und es ist auch richtig, daß es der
christliche Seelsorger und Prediger hauptsächlich - ob allein, darüber läßt
sich streiten -- mit dieser sozialen Frage zu thun hat. die nur eine, und die
in allen Völkern und Zeiten dieselbe ist. Aber mit dieser sozialen Frage
haben es die Staatsmänner, die Behörden, die gesetzgebenden Versammlungen
und die Professoren der Nationalökonomie eben nicht zu thun, sondern mit
einer Unzahl von Einzelfragen, über die Paulus nichts geschrieben hat. Zur
Beantwortung der Frage, ob die Günseeinfuhr aus Nußland zu verbieten sei,
kann uns weder das Neue Testament noch das erleuchtete Gewissen eines
Wiedergebornen etwas helfen, und doch ist dies eine soziale Frage, denn jede
wirtschaftliche Frage ist zugleich eine soziale, weil von ihrer thatsächlichen Be¬
antwortung das Wohl und Wehe gewisser Volksschichten abhängt. In uoch
stärkeren Grade gilt das natürlich von den noch wichtigern Fragen, z. B. von
den Kolonialfragen, von der Frage, ob schrankenlose Volksvermehrung wünschens¬
wert sei. von den Fragen der Gewerbe-, der Fabrik-, der Bergwerksgesetzgebung,
von Zoll- und Steuerfragen, von den Fragen der Strafrechtspflege, der
Agrarverfassung usw. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung em paar hundert¬
tausend Menschen in den Zustand versetzt, worin sich das schwärzeste London
befindet, dann ist sogar für sie jene eine Frage, mit der es die Gerstluchwt


Grenzboten IV 1898
Gin Neulutheraner

Hotels in Berlin, einem Lokal, wo „nur die beste Gesellschaft" hinkommt,
habe ich kürzlich folgende Barbarei gesehen. Ein Mädchen hing mit den
Füßen an der Decke und hielt, wie das heute üblich ist, das Reck in den
Händen, an dem ihre Geschwister turnten. Das möchte noch hingehen; aber
nachdem sie schon gehörig hergenommen worden war. hängte sich der Alte,
ein großer, starker Mann, an das Reck und schwang sich daran in gewaltigen
Bogen über die ganze Bühne; und dann — nahm er noch die beiden Kinder
an sich, sodaß das an den Füßen aufgehängte Mädchen drei Personen, dar¬
unter einen schweren Mann, zu tragen hatte; und das Publikum, anstatt mit
entrüsteten Pfui die Einstellung dieser völlig Sinn- und zwecklosen Menschen¬
schinderei zu fordern, klatschte rasenden Beifall. Soll ein Zweck erreicht
werden, so kann es doch nur der sein, zu ermitteln, welchen Grad von Zerrung
ein aufgehängter Mädchenleib aushält, ohne zu zerreißen. Ärzte mögen sagen,
ob nicht bei einem solchen angehängten Gewicht das Zerreißen der Glieder
sehr möglich und ein Zerreißen innerer Teile höchst wahrscheinlich ist.

Es versteht sich, daß der Lutheraner auch die soziale Frage von seinem
Standpunkte aus beleuchtet. Mit seiner Auffassung hat er nun sowohl Recht
als Unrecht. Mit Blut und Eisen, d. h. mit dem Kreuzestode Christi, und
durch die christliche Liebe läßt er die soziale Frage ein für allemal gelöst sein.
Das ist richtig, sofern man sie auffaßt als eine Frage zwischen zwei einzelnen
Menschen verschiedner Stände oder Klassen. Es ist selbstverständlich, daß die
stets ein befriedigendes Verhältnis zwischen sich herstellen werden, wenn sie
von christlicher Gesinnung beseelt sind, und es ist auch richtig, daß es der
christliche Seelsorger und Prediger hauptsächlich - ob allein, darüber läßt
sich streiten — mit dieser sozialen Frage zu thun hat. die nur eine, und die
in allen Völkern und Zeiten dieselbe ist. Aber mit dieser sozialen Frage
haben es die Staatsmänner, die Behörden, die gesetzgebenden Versammlungen
und die Professoren der Nationalökonomie eben nicht zu thun, sondern mit
einer Unzahl von Einzelfragen, über die Paulus nichts geschrieben hat. Zur
Beantwortung der Frage, ob die Günseeinfuhr aus Nußland zu verbieten sei,
kann uns weder das Neue Testament noch das erleuchtete Gewissen eines
Wiedergebornen etwas helfen, und doch ist dies eine soziale Frage, denn jede
wirtschaftliche Frage ist zugleich eine soziale, weil von ihrer thatsächlichen Be¬
antwortung das Wohl und Wehe gewisser Volksschichten abhängt. In uoch
stärkeren Grade gilt das natürlich von den noch wichtigern Fragen, z. B. von
den Kolonialfragen, von der Frage, ob schrankenlose Volksvermehrung wünschens¬
wert sei. von den Fragen der Gewerbe-, der Fabrik-, der Bergwerksgesetzgebung,
von Zoll- und Steuerfragen, von den Fragen der Strafrechtspflege, der
Agrarverfassung usw. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung em paar hundert¬
tausend Menschen in den Zustand versetzt, worin sich das schwärzeste London
befindet, dann ist sogar für sie jene eine Frage, mit der es die Gerstluchwt


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[0109] Gin Neulutheraner Hotels in Berlin, einem Lokal, wo „nur die beste Gesellschaft" hinkommt, habe ich kürzlich folgende Barbarei gesehen. Ein Mädchen hing mit den Füßen an der Decke und hielt, wie das heute üblich ist, das Reck in den Händen, an dem ihre Geschwister turnten. Das möchte noch hingehen; aber nachdem sie schon gehörig hergenommen worden war. hängte sich der Alte, ein großer, starker Mann, an das Reck und schwang sich daran in gewaltigen Bogen über die ganze Bühne; und dann — nahm er noch die beiden Kinder an sich, sodaß das an den Füßen aufgehängte Mädchen drei Personen, dar¬ unter einen schweren Mann, zu tragen hatte; und das Publikum, anstatt mit entrüsteten Pfui die Einstellung dieser völlig Sinn- und zwecklosen Menschen¬ schinderei zu fordern, klatschte rasenden Beifall. Soll ein Zweck erreicht werden, so kann es doch nur der sein, zu ermitteln, welchen Grad von Zerrung ein aufgehängter Mädchenleib aushält, ohne zu zerreißen. Ärzte mögen sagen, ob nicht bei einem solchen angehängten Gewicht das Zerreißen der Glieder sehr möglich und ein Zerreißen innerer Teile höchst wahrscheinlich ist. Es versteht sich, daß der Lutheraner auch die soziale Frage von seinem Standpunkte aus beleuchtet. Mit seiner Auffassung hat er nun sowohl Recht als Unrecht. Mit Blut und Eisen, d. h. mit dem Kreuzestode Christi, und durch die christliche Liebe läßt er die soziale Frage ein für allemal gelöst sein. Das ist richtig, sofern man sie auffaßt als eine Frage zwischen zwei einzelnen Menschen verschiedner Stände oder Klassen. Es ist selbstverständlich, daß die stets ein befriedigendes Verhältnis zwischen sich herstellen werden, wenn sie von christlicher Gesinnung beseelt sind, und es ist auch richtig, daß es der christliche Seelsorger und Prediger hauptsächlich - ob allein, darüber läßt sich streiten — mit dieser sozialen Frage zu thun hat. die nur eine, und die in allen Völkern und Zeiten dieselbe ist. Aber mit dieser sozialen Frage haben es die Staatsmänner, die Behörden, die gesetzgebenden Versammlungen und die Professoren der Nationalökonomie eben nicht zu thun, sondern mit einer Unzahl von Einzelfragen, über die Paulus nichts geschrieben hat. Zur Beantwortung der Frage, ob die Günseeinfuhr aus Nußland zu verbieten sei, kann uns weder das Neue Testament noch das erleuchtete Gewissen eines Wiedergebornen etwas helfen, und doch ist dies eine soziale Frage, denn jede wirtschaftliche Frage ist zugleich eine soziale, weil von ihrer thatsächlichen Be¬ antwortung das Wohl und Wehe gewisser Volksschichten abhängt. In uoch stärkeren Grade gilt das natürlich von den noch wichtigern Fragen, z. B. von den Kolonialfragen, von der Frage, ob schrankenlose Volksvermehrung wünschens¬ wert sei. von den Fragen der Gewerbe-, der Fabrik-, der Bergwerksgesetzgebung, von Zoll- und Steuerfragen, von den Fragen der Strafrechtspflege, der Agrarverfassung usw. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung em paar hundert¬ tausend Menschen in den Zustand versetzt, worin sich das schwärzeste London befindet, dann ist sogar für sie jene eine Frage, mit der es die Gerstluchwt Grenzboten IV 1898

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/109>, abgerufen am 24.07.2024.