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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Lin Neulutheraner

geschlecht der Hölle überliefern und dabei um der paar geretteten Stillen im
Lande willen Gott den Schöpfer und Gott Sohn den Erlöser preisen kann,
dann sollte man eigentlich nach den Segnungen, die allezeit vom Christentum
fürs Volksleben erwartet worden sind, gar nicht fragen; was liegt denn daran,
ob dieses Sünderpack, das dazu bestimmt ist, eine Ewigkeit in der Hölle zu
braten, ob das während der kurzen Spanne seiner Erdenzeit ein wenig mensch¬
licher oder ein wenig viehischer lebt? Aber der Isch hat ein viel zu warmes
Herz und hegt trotz seiner grundsätzlichen Richtung auf das Jenseits ein viel
zu lebhaftes Interesse für alle irdischen Nichtigkeiten, als daß er nicht ängstlich
bemüht sein sollte, den Nachweis dieser Erlösung, den schon unzählige Apo¬
logeten zu führen versucht haben, auch seinerseits zu führen. Wie oft habe
ich selbst ihn früher geführt! Aber es gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen,
die mir anhaltende Beschäftigung mit der Weltgeschichte und Beobachtung des
Lebens bereitet haben, daß alle diese Beweise ziemlich hinfällig sind. Der Lutheraner
schließt eine Schilderung der Sittenverderbnisse unsrer Tage, wobei auch die
heutigen Zirknsaufführungen erwähnt werden, mit den Sätzen: "Wie zur Zeit
des kaiserlichen Roms geht der Hang zur Grausamkeit, die Freude an blutigen
Greueln, das Zeichen einer altersschwachen Nation, durchs ganze Volk.
Gerade wie damals tritt die Frau aus ihrer verborgnen häuslichen Stellung
heraus und in die Öffentlichkeit hinein. Gerade wie damals wird das
tostieiÄwm, zur Landessitte. Seht, das ist Humanität, rein und unverfälscht,
das ist Menschentum, wenn es sich selbst überlassen wird." Um Vergebung!
Allen Menschen unsrer Zeit sind, in Deutschland wenigstens, Katechismus
und biblische Geschichte eingebleut worden, und der moderne Staat wendet seine
gewaltigen Machtmittel an, um dem Volke den in der Jugend eingepflanzten
oder eingebleuten Glauben zu erhalten. Dagegen war die Humanität der
Alten in der That die Frucht eines sich selbst überlassenen Menschentums,
und die hat denn doch ein wenig anders ausgesehen als das Leben der
Millionäre und des Pöbels der Weltstadt Rom in der Kaiserzeit. Jahr¬
hunderte lang hat es bei ihnen kein tostioiäiuw, gegeben (und keine Ehe¬
scheidung!), ist die Frau, ohne Sklavin zu sein, aus der stillen Häuslichkeit
nicht herausgetreten, und hat das Volk keine Freude gehabt an blutigen
Greueln. In Xenophons Symposion läßt ein "Artist" seine kleine, nur aus
einem Knaben und einem Mädchen bestehende Gesellschaft auftreten. Bei einem
Messerspiel fürchten die Gäste, das Mädchen könne verwundet werden, und
Sokrates sagt dem Künstler, der Anblick von Körperverrenkungen und von
gefährlichen Spielen bereite einer heitern Tischgesellschaft kein Vergnügen; er
möge sich auf Tänze und Pantomimen beschränken, bei denen man sich an
der Schönheit und Anmut der Kinder erfreuen könne. In den heutigen Zir¬
kussen und Varietetheatern ergötzt sich das Publikum an den gefährlichsten Messer-
fpielen, an den halsbrechendsten Luftsprüngen, und im Wintergarten des Zentral-


Lin Neulutheraner

geschlecht der Hölle überliefern und dabei um der paar geretteten Stillen im
Lande willen Gott den Schöpfer und Gott Sohn den Erlöser preisen kann,
dann sollte man eigentlich nach den Segnungen, die allezeit vom Christentum
fürs Volksleben erwartet worden sind, gar nicht fragen; was liegt denn daran,
ob dieses Sünderpack, das dazu bestimmt ist, eine Ewigkeit in der Hölle zu
braten, ob das während der kurzen Spanne seiner Erdenzeit ein wenig mensch¬
licher oder ein wenig viehischer lebt? Aber der Isch hat ein viel zu warmes
Herz und hegt trotz seiner grundsätzlichen Richtung auf das Jenseits ein viel
zu lebhaftes Interesse für alle irdischen Nichtigkeiten, als daß er nicht ängstlich
bemüht sein sollte, den Nachweis dieser Erlösung, den schon unzählige Apo¬
logeten zu führen versucht haben, auch seinerseits zu führen. Wie oft habe
ich selbst ihn früher geführt! Aber es gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen,
die mir anhaltende Beschäftigung mit der Weltgeschichte und Beobachtung des
Lebens bereitet haben, daß alle diese Beweise ziemlich hinfällig sind. Der Lutheraner
schließt eine Schilderung der Sittenverderbnisse unsrer Tage, wobei auch die
heutigen Zirknsaufführungen erwähnt werden, mit den Sätzen: „Wie zur Zeit
des kaiserlichen Roms geht der Hang zur Grausamkeit, die Freude an blutigen
Greueln, das Zeichen einer altersschwachen Nation, durchs ganze Volk.
Gerade wie damals tritt die Frau aus ihrer verborgnen häuslichen Stellung
heraus und in die Öffentlichkeit hinein. Gerade wie damals wird das
tostieiÄwm, zur Landessitte. Seht, das ist Humanität, rein und unverfälscht,
das ist Menschentum, wenn es sich selbst überlassen wird." Um Vergebung!
Allen Menschen unsrer Zeit sind, in Deutschland wenigstens, Katechismus
und biblische Geschichte eingebleut worden, und der moderne Staat wendet seine
gewaltigen Machtmittel an, um dem Volke den in der Jugend eingepflanzten
oder eingebleuten Glauben zu erhalten. Dagegen war die Humanität der
Alten in der That die Frucht eines sich selbst überlassenen Menschentums,
und die hat denn doch ein wenig anders ausgesehen als das Leben der
Millionäre und des Pöbels der Weltstadt Rom in der Kaiserzeit. Jahr¬
hunderte lang hat es bei ihnen kein tostioiäiuw, gegeben (und keine Ehe¬
scheidung!), ist die Frau, ohne Sklavin zu sein, aus der stillen Häuslichkeit
nicht herausgetreten, und hat das Volk keine Freude gehabt an blutigen
Greueln. In Xenophons Symposion läßt ein „Artist" seine kleine, nur aus
einem Knaben und einem Mädchen bestehende Gesellschaft auftreten. Bei einem
Messerspiel fürchten die Gäste, das Mädchen könne verwundet werden, und
Sokrates sagt dem Künstler, der Anblick von Körperverrenkungen und von
gefährlichen Spielen bereite einer heitern Tischgesellschaft kein Vergnügen; er
möge sich auf Tänze und Pantomimen beschränken, bei denen man sich an
der Schönheit und Anmut der Kinder erfreuen könne. In den heutigen Zir¬
kussen und Varietetheatern ergötzt sich das Publikum an den gefährlichsten Messer-
fpielen, an den halsbrechendsten Luftsprüngen, und im Wintergarten des Zentral-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/108>, abgerufen am 12.12.2024.