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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der japanische Farbenholzschnitt

zeitung zu lesen bekommen. Daß es nicht die Aufgabe der Malerei sei, die
Ratur nachzuahmen, wird mit einer Sicherheit in die Welt hinausposaunt,
die jeden in Staunen setzen muß, der da weiß, daß nicht nur die Holländer
des siebzehnten Jahrhunderts, nicht nur die italienischen und deutschen Maler
der Renaissance, ein Lionardo und Dürer, sondern auch die alten Griechen genau
der entgegengesetzten Ansicht waren. Wenn diese Überzeugung sich nur bei
jungen Künstlern unter fünfundzwanzig Jahren fände, so würde man darüber
kein Wort zu verlieren brauchen. Künstler haben nun einmal das Vorrecht,
die Thatsachen der Kunstgeschichte zu ignoriren, sie brauchen nichts zu lernen
und nichts zu vergessen. Aber daß auch Kunsthistoriker und zwar ältere Ge¬
lehrte, die über verschiedne Gebiete der Kunstgeschichte verdienstvolle Unter¬
suchungen veröffentlicht haben, in dieses Urteil mit einstimmen und geradezu
die Loslösung der Kunst von der Natur fordern, erscheint wichtig genug, daß
man sich darüber einmal etwas eingehender ausspricht.

Daß in dieser Beziehung überhaupt ein Zweifel obwalten kann, erklärt
sich einfach aus der Thatsache, daß jede Malerei zwei Seiten hat, eine natu¬
ralistische und eine dekorative. Es liegt in der Natur der künstlerischen Ent¬
wicklung, daß in der einen Periode die eine, in der andern die andre dominirt,
ebenso wie von zwei Knaben, die sich auf einem Brett schaukeln, einmal der
eine, einmal der andre oben ist. Aber für jeden, der die Kunstgeschichte kennt,
ist es klar, daß die naturalistische Richtung den eigentlichen Fortschritt reprä-
sentirt, während die dekorative immer ein Kennzeichen degenerirender Entwicklung,
konventioneller Neigungen, reaktionärer Bestrebungen gewesen ist. Insbesondre
für die Gegenwart, in der die monumentale Malerei, die natürlich dekorativ sein
muß, nur von wenig Künstlern gepflegt werden kann, während das selb¬
ständige Bild, das Staffeleibild durchaus vorherrscht, sollte kein Zweifel darüber
bestehen, daß der malerische Stil nicht durch "dekorative Gesichtspunkte,"
sondern durch das Verhältnis des Kunstwerks zur Natur bestimmt wird. Das
Problem der Form ist nicht auf dem Gebiete der Dekoration, sondern auf dem
der Naturnachahmung zu suchen, d. h. es bezieht sich auf die Feststellung der
Art, wie die Natur aufgefaßt werden muß.

Diese Thatsache scheint unsern Jüngsten vollkommen aus dem Gedächtnis
entschwunden zu sein. Wiederum schwelgt man, wie zu Anfang unsers Jahr¬
hunderts, in tiefen symbolischen Gedanken, die kein Mensch verstehen kann,
wiederum hält man es für die Aufgabe der Kunst, das "Schöne" darzustellen,
und erkennt dieses "Schöne" nicht in der Lebendigkeit und Innigkeit der Natur¬
auffassung, sondern in bestimmten Proportionen, bestimmten Linienkombinationen,
bestimmten Farbenzusammenstellungen. Kurz, unsre Ästhetik hat sich umge¬
krempelt wie ein Handschuh, sie ist über Nacht von einer naturalistischen zu
einer romantisch-idealistischen geworden.

Und dieser ganze Umschwung ist in einer Zeit erfolgt, in der unser ge¬
bildetes deutsches Publikum (abgesehen natürlich von den paar ästhetischen


Der japanische Farbenholzschnitt

zeitung zu lesen bekommen. Daß es nicht die Aufgabe der Malerei sei, die
Ratur nachzuahmen, wird mit einer Sicherheit in die Welt hinausposaunt,
die jeden in Staunen setzen muß, der da weiß, daß nicht nur die Holländer
des siebzehnten Jahrhunderts, nicht nur die italienischen und deutschen Maler
der Renaissance, ein Lionardo und Dürer, sondern auch die alten Griechen genau
der entgegengesetzten Ansicht waren. Wenn diese Überzeugung sich nur bei
jungen Künstlern unter fünfundzwanzig Jahren fände, so würde man darüber
kein Wort zu verlieren brauchen. Künstler haben nun einmal das Vorrecht,
die Thatsachen der Kunstgeschichte zu ignoriren, sie brauchen nichts zu lernen
und nichts zu vergessen. Aber daß auch Kunsthistoriker und zwar ältere Ge¬
lehrte, die über verschiedne Gebiete der Kunstgeschichte verdienstvolle Unter¬
suchungen veröffentlicht haben, in dieses Urteil mit einstimmen und geradezu
die Loslösung der Kunst von der Natur fordern, erscheint wichtig genug, daß
man sich darüber einmal etwas eingehender ausspricht.

Daß in dieser Beziehung überhaupt ein Zweifel obwalten kann, erklärt
sich einfach aus der Thatsache, daß jede Malerei zwei Seiten hat, eine natu¬
ralistische und eine dekorative. Es liegt in der Natur der künstlerischen Ent¬
wicklung, daß in der einen Periode die eine, in der andern die andre dominirt,
ebenso wie von zwei Knaben, die sich auf einem Brett schaukeln, einmal der
eine, einmal der andre oben ist. Aber für jeden, der die Kunstgeschichte kennt,
ist es klar, daß die naturalistische Richtung den eigentlichen Fortschritt reprä-
sentirt, während die dekorative immer ein Kennzeichen degenerirender Entwicklung,
konventioneller Neigungen, reaktionärer Bestrebungen gewesen ist. Insbesondre
für die Gegenwart, in der die monumentale Malerei, die natürlich dekorativ sein
muß, nur von wenig Künstlern gepflegt werden kann, während das selb¬
ständige Bild, das Staffeleibild durchaus vorherrscht, sollte kein Zweifel darüber
bestehen, daß der malerische Stil nicht durch „dekorative Gesichtspunkte,"
sondern durch das Verhältnis des Kunstwerks zur Natur bestimmt wird. Das
Problem der Form ist nicht auf dem Gebiete der Dekoration, sondern auf dem
der Naturnachahmung zu suchen, d. h. es bezieht sich auf die Feststellung der
Art, wie die Natur aufgefaßt werden muß.

Diese Thatsache scheint unsern Jüngsten vollkommen aus dem Gedächtnis
entschwunden zu sein. Wiederum schwelgt man, wie zu Anfang unsers Jahr¬
hunderts, in tiefen symbolischen Gedanken, die kein Mensch verstehen kann,
wiederum hält man es für die Aufgabe der Kunst, das „Schöne" darzustellen,
und erkennt dieses „Schöne" nicht in der Lebendigkeit und Innigkeit der Natur¬
auffassung, sondern in bestimmten Proportionen, bestimmten Linienkombinationen,
bestimmten Farbenzusammenstellungen. Kurz, unsre Ästhetik hat sich umge¬
krempelt wie ein Handschuh, sie ist über Nacht von einer naturalistischen zu
einer romantisch-idealistischen geworden.

Und dieser ganze Umschwung ist in einer Zeit erfolgt, in der unser ge¬
bildetes deutsches Publikum (abgesehen natürlich von den paar ästhetischen


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[0096] Der japanische Farbenholzschnitt zeitung zu lesen bekommen. Daß es nicht die Aufgabe der Malerei sei, die Ratur nachzuahmen, wird mit einer Sicherheit in die Welt hinausposaunt, die jeden in Staunen setzen muß, der da weiß, daß nicht nur die Holländer des siebzehnten Jahrhunderts, nicht nur die italienischen und deutschen Maler der Renaissance, ein Lionardo und Dürer, sondern auch die alten Griechen genau der entgegengesetzten Ansicht waren. Wenn diese Überzeugung sich nur bei jungen Künstlern unter fünfundzwanzig Jahren fände, so würde man darüber kein Wort zu verlieren brauchen. Künstler haben nun einmal das Vorrecht, die Thatsachen der Kunstgeschichte zu ignoriren, sie brauchen nichts zu lernen und nichts zu vergessen. Aber daß auch Kunsthistoriker und zwar ältere Ge¬ lehrte, die über verschiedne Gebiete der Kunstgeschichte verdienstvolle Unter¬ suchungen veröffentlicht haben, in dieses Urteil mit einstimmen und geradezu die Loslösung der Kunst von der Natur fordern, erscheint wichtig genug, daß man sich darüber einmal etwas eingehender ausspricht. Daß in dieser Beziehung überhaupt ein Zweifel obwalten kann, erklärt sich einfach aus der Thatsache, daß jede Malerei zwei Seiten hat, eine natu¬ ralistische und eine dekorative. Es liegt in der Natur der künstlerischen Ent¬ wicklung, daß in der einen Periode die eine, in der andern die andre dominirt, ebenso wie von zwei Knaben, die sich auf einem Brett schaukeln, einmal der eine, einmal der andre oben ist. Aber für jeden, der die Kunstgeschichte kennt, ist es klar, daß die naturalistische Richtung den eigentlichen Fortschritt reprä- sentirt, während die dekorative immer ein Kennzeichen degenerirender Entwicklung, konventioneller Neigungen, reaktionärer Bestrebungen gewesen ist. Insbesondre für die Gegenwart, in der die monumentale Malerei, die natürlich dekorativ sein muß, nur von wenig Künstlern gepflegt werden kann, während das selb¬ ständige Bild, das Staffeleibild durchaus vorherrscht, sollte kein Zweifel darüber bestehen, daß der malerische Stil nicht durch „dekorative Gesichtspunkte," sondern durch das Verhältnis des Kunstwerks zur Natur bestimmt wird. Das Problem der Form ist nicht auf dem Gebiete der Dekoration, sondern auf dem der Naturnachahmung zu suchen, d. h. es bezieht sich auf die Feststellung der Art, wie die Natur aufgefaßt werden muß. Diese Thatsache scheint unsern Jüngsten vollkommen aus dem Gedächtnis entschwunden zu sein. Wiederum schwelgt man, wie zu Anfang unsers Jahr¬ hunderts, in tiefen symbolischen Gedanken, die kein Mensch verstehen kann, wiederum hält man es für die Aufgabe der Kunst, das „Schöne" darzustellen, und erkennt dieses „Schöne" nicht in der Lebendigkeit und Innigkeit der Natur¬ auffassung, sondern in bestimmten Proportionen, bestimmten Linienkombinationen, bestimmten Farbenzusammenstellungen. Kurz, unsre Ästhetik hat sich umge¬ krempelt wie ein Handschuh, sie ist über Nacht von einer naturalistischen zu einer romantisch-idealistischen geworden. Und dieser ganze Umschwung ist in einer Zeit erfolgt, in der unser ge¬ bildetes deutsches Publikum (abgesehen natürlich von den paar ästhetischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/96>, abgerufen am 01.09.2024.