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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Line Zwickauer Dramaturgie

Die Apologie, die sich auf das Mikroskop beruft, ist hinfällig. Unter
dem Mikroskop wandelt sich ein Stück Spitze des köstlichsten Musters in eine
wüste Verzüunung von Balken, Latten und wirrem Geäst. Wer sich dieser Er¬
kenntnis freut und bei ihr stehen bleibt, mag alles in der Welt sein -- eine
künstlerische Natur mit dem innern Muß, das die Einzelheiten wieder zur
Gesamterscheinung wandelt, ist er nicht. Die Erkenntnis der Einzelheiten darf
das Bewußtsein der Ganzheit nicht aufheben, aus dem Chaos der Empfindungen
muß sich die Mcnschenerscheinung, muß sich der Charakter erheben, oder es ist
ein poetischer Mangel vorhanden, den auch die verwegenste Kritik nicht zum
Vorzug umdeuten kann. Der Grübler und Tüftler mag ein poetisches Naturell
haben, ein Dichter im strengern Sinne des Worts ist er nicht. Was wir an
der jüngsten Schule überall vermissen, ist die große Anschauung des Lebens,
die es wohl weiß, daß jeder düstre Winkel und jeder versteckte Grund ein
Stück Poesie bergen kann, die aber immer wieder ans den Ecken des Daseins
zu dessen Mitte und aus allen Tiefen nach dessen Höhen strebt. Darüber
können Behauptungen wie die, daß die unfreiwilligen Karikaturen und tief¬
sinnigen Verrücktheiten das Sehnen und Hoffen der Zeit ganz besonders ver¬
körpern, nicht hinanshelfen. Und auch der Versuch, gleichsam einen Graben
zwischen der lebenentsprungnen und lebendigen Poesie, die man alten Stils
schilt, und der seit 1880 entstehenden zu ziehen, hat keine größere Aussicht
auf Erfolg, als der um 1810 oder 1830 gemachte ähnliche Versuch.

Die Litteraturgeschichte scheint mit ihrer größern Schwester, der Welt¬
geschichte, das Los zu teilen, daß sie, obgleich sie viel lehren könnte, in
Wahrheit nichts lehrt. Denn der Versuch der Romantiker, ihre besondern
Einzelvorzüge und Eigentümlichkeiten zum Maßstabe für die lebendige Ent¬
wicklung der ganzen Dichtung zu nehmen, ein Versuch, bei dem längst ver-
schollne Svnettendrechsler, kleine katholisireude Geister im Vordergründe standen,
während die nicht romantischen Talente von Schiller bis I. P. Hebel einfach
als nicht vorhanden betrachtet wurden und sich das einzige Genie, das
wenigstens in einem gewissen Zusammenhang mit der Romantik stand, Heinrich
von Kleist, hinter de la Motte Fouque und Löcher zurückgesetzt sah, dieser
Versuch wird wohl heute nur belächelt. Und der kräftige'Anlauf, den die
Jungdeutschen von 1330 und 1840 nahmen, die Lebenskraft und Bedeutung
der poetischen Talente aus ihrem Verhältnis zum Liberalisinus und Radika¬
lismus zu bestimmen, ein Anlauf, bei dem vermeintlich so antiquirte Talente
wie Grillparzer natürlich weit dahinter bleiben mußten und kein Anrecht auf
Würdigung hatten, bei dem alle wahrhaft schöpferischen Naturen vor den Ge¬
dankensymphonikern -1 ig. Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg, vor den poli¬
tischen Lyrikern, die die Pauken am lautesten schlugen, in Nichts verschwanden,
lst längst nach seinem wahren Wert oder Unwerte gewürdigt worden.

Trotzdem zeigt uns die Zwickauer Dramaturgie, daß auch ein geistvoller


Grenzboten III 1M8 78
Line Zwickauer Dramaturgie

Die Apologie, die sich auf das Mikroskop beruft, ist hinfällig. Unter
dem Mikroskop wandelt sich ein Stück Spitze des köstlichsten Musters in eine
wüste Verzüunung von Balken, Latten und wirrem Geäst. Wer sich dieser Er¬
kenntnis freut und bei ihr stehen bleibt, mag alles in der Welt sein — eine
künstlerische Natur mit dem innern Muß, das die Einzelheiten wieder zur
Gesamterscheinung wandelt, ist er nicht. Die Erkenntnis der Einzelheiten darf
das Bewußtsein der Ganzheit nicht aufheben, aus dem Chaos der Empfindungen
muß sich die Mcnschenerscheinung, muß sich der Charakter erheben, oder es ist
ein poetischer Mangel vorhanden, den auch die verwegenste Kritik nicht zum
Vorzug umdeuten kann. Der Grübler und Tüftler mag ein poetisches Naturell
haben, ein Dichter im strengern Sinne des Worts ist er nicht. Was wir an
der jüngsten Schule überall vermissen, ist die große Anschauung des Lebens,
die es wohl weiß, daß jeder düstre Winkel und jeder versteckte Grund ein
Stück Poesie bergen kann, die aber immer wieder ans den Ecken des Daseins
zu dessen Mitte und aus allen Tiefen nach dessen Höhen strebt. Darüber
können Behauptungen wie die, daß die unfreiwilligen Karikaturen und tief¬
sinnigen Verrücktheiten das Sehnen und Hoffen der Zeit ganz besonders ver¬
körpern, nicht hinanshelfen. Und auch der Versuch, gleichsam einen Graben
zwischen der lebenentsprungnen und lebendigen Poesie, die man alten Stils
schilt, und der seit 1880 entstehenden zu ziehen, hat keine größere Aussicht
auf Erfolg, als der um 1810 oder 1830 gemachte ähnliche Versuch.

Die Litteraturgeschichte scheint mit ihrer größern Schwester, der Welt¬
geschichte, das Los zu teilen, daß sie, obgleich sie viel lehren könnte, in
Wahrheit nichts lehrt. Denn der Versuch der Romantiker, ihre besondern
Einzelvorzüge und Eigentümlichkeiten zum Maßstabe für die lebendige Ent¬
wicklung der ganzen Dichtung zu nehmen, ein Versuch, bei dem längst ver-
schollne Svnettendrechsler, kleine katholisireude Geister im Vordergründe standen,
während die nicht romantischen Talente von Schiller bis I. P. Hebel einfach
als nicht vorhanden betrachtet wurden und sich das einzige Genie, das
wenigstens in einem gewissen Zusammenhang mit der Romantik stand, Heinrich
von Kleist, hinter de la Motte Fouque und Löcher zurückgesetzt sah, dieser
Versuch wird wohl heute nur belächelt. Und der kräftige'Anlauf, den die
Jungdeutschen von 1330 und 1840 nahmen, die Lebenskraft und Bedeutung
der poetischen Talente aus ihrem Verhältnis zum Liberalisinus und Radika¬
lismus zu bestimmen, ein Anlauf, bei dem vermeintlich so antiquirte Talente
wie Grillparzer natürlich weit dahinter bleiben mußten und kein Anrecht auf
Würdigung hatten, bei dem alle wahrhaft schöpferischen Naturen vor den Ge¬
dankensymphonikern -1 ig. Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg, vor den poli¬
tischen Lyrikern, die die Pauken am lautesten schlugen, in Nichts verschwanden,
lst längst nach seinem wahren Wert oder Unwerte gewürdigt worden.

Trotzdem zeigt uns die Zwickauer Dramaturgie, daß auch ein geistvoller


Grenzboten III 1M8 78
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[0621] Line Zwickauer Dramaturgie Die Apologie, die sich auf das Mikroskop beruft, ist hinfällig. Unter dem Mikroskop wandelt sich ein Stück Spitze des köstlichsten Musters in eine wüste Verzüunung von Balken, Latten und wirrem Geäst. Wer sich dieser Er¬ kenntnis freut und bei ihr stehen bleibt, mag alles in der Welt sein — eine künstlerische Natur mit dem innern Muß, das die Einzelheiten wieder zur Gesamterscheinung wandelt, ist er nicht. Die Erkenntnis der Einzelheiten darf das Bewußtsein der Ganzheit nicht aufheben, aus dem Chaos der Empfindungen muß sich die Mcnschenerscheinung, muß sich der Charakter erheben, oder es ist ein poetischer Mangel vorhanden, den auch die verwegenste Kritik nicht zum Vorzug umdeuten kann. Der Grübler und Tüftler mag ein poetisches Naturell haben, ein Dichter im strengern Sinne des Worts ist er nicht. Was wir an der jüngsten Schule überall vermissen, ist die große Anschauung des Lebens, die es wohl weiß, daß jeder düstre Winkel und jeder versteckte Grund ein Stück Poesie bergen kann, die aber immer wieder ans den Ecken des Daseins zu dessen Mitte und aus allen Tiefen nach dessen Höhen strebt. Darüber können Behauptungen wie die, daß die unfreiwilligen Karikaturen und tief¬ sinnigen Verrücktheiten das Sehnen und Hoffen der Zeit ganz besonders ver¬ körpern, nicht hinanshelfen. Und auch der Versuch, gleichsam einen Graben zwischen der lebenentsprungnen und lebendigen Poesie, die man alten Stils schilt, und der seit 1880 entstehenden zu ziehen, hat keine größere Aussicht auf Erfolg, als der um 1810 oder 1830 gemachte ähnliche Versuch. Die Litteraturgeschichte scheint mit ihrer größern Schwester, der Welt¬ geschichte, das Los zu teilen, daß sie, obgleich sie viel lehren könnte, in Wahrheit nichts lehrt. Denn der Versuch der Romantiker, ihre besondern Einzelvorzüge und Eigentümlichkeiten zum Maßstabe für die lebendige Ent¬ wicklung der ganzen Dichtung zu nehmen, ein Versuch, bei dem längst ver- schollne Svnettendrechsler, kleine katholisireude Geister im Vordergründe standen, während die nicht romantischen Talente von Schiller bis I. P. Hebel einfach als nicht vorhanden betrachtet wurden und sich das einzige Genie, das wenigstens in einem gewissen Zusammenhang mit der Romantik stand, Heinrich von Kleist, hinter de la Motte Fouque und Löcher zurückgesetzt sah, dieser Versuch wird wohl heute nur belächelt. Und der kräftige'Anlauf, den die Jungdeutschen von 1330 und 1840 nahmen, die Lebenskraft und Bedeutung der poetischen Talente aus ihrem Verhältnis zum Liberalisinus und Radika¬ lismus zu bestimmen, ein Anlauf, bei dem vermeintlich so antiquirte Talente wie Grillparzer natürlich weit dahinter bleiben mußten und kein Anrecht auf Würdigung hatten, bei dem alle wahrhaft schöpferischen Naturen vor den Ge¬ dankensymphonikern -1 ig. Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg, vor den poli¬ tischen Lyrikern, die die Pauken am lautesten schlugen, in Nichts verschwanden, lst längst nach seinem wahren Wert oder Unwerte gewürdigt worden. Trotzdem zeigt uns die Zwickauer Dramaturgie, daß auch ein geistvoller Grenzboten III 1M8 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/621>, abgerufen am 27.07.2024.